[692] Leidenschaften. (Schöne Künste)
Die Leidenschaften haben einen so großen Antheil an den Werken der schönen Künste, und spielen darin eine so beträchtliche Role, daß sie in der Theorie [692] derselben eine besondere und etwas umständliche Betrachtung verdienen. Es gehöret unmittelbar zum Zwek des Künstlers, daß er Leidenschaften erweke, oder besänftige; daß er sie in ihrer wahren Natur und in ihren Aeußerungen schildere, und die mannigfaltigen guten und schlimmen Würkungen derselben auf das lebhafteste vorstelle. Um diesem Artikel, der etwas weitläuftig werden wird, die nöthige Klarheit zu geben, wollen wir die verschiedenen Hauptpunkte desselben voraus bestimmen,
Es soll hier gezeiget werden, 1) was der Künstler zur Erwekung und zur Besänftigung der Leidenschaften zu wissen und zu thun habe, 2) wie er jede nach ihrer Natur, in ihren Aeußerungen, und nach ihren guten und schlimmen Würkungen, oder Folgen schildern soll. Der erste Hauptpunkt theilet sich wieder in zwey andre; denn es entstehen dabey diese zwey Fragen; wie das izt ruhige Gemüth in Leidenschaft zu sezen, oder das in große Bewegung gesezte zu besänftigen sey, und: wie überhaupt seine Reizbarkeit zu verstärken, oder zu schwächen sey, damit es die beste Stimmung bekomme, sowol herrschende, als vorüber gehende leidenschaftliche Empfindungen in einem vortheilhaften Maaße anzunehmen. Sollen die schönen Künste, wie man zu allen Zeiten von ihnen geglaubt hat, die eigentlichen Mittel seyn, die Gemüther der Menschen überhaupt zu bilden, und in besondern Fällen zu lenken; so muß der Künstler nothwendig jeden der vorher erwähnten Punkte, als Mittel zum Zwek zu gelangen, in seiner Gewalt haben. Polybius sagt, daß die Musik den Arkadiern nothwendig gewesen, um ihre etwas rohe Gemüthsart empfindsam zu machen; und jederman weiß, daß diese Kunst bey besondern Gelegenheiten gebraucht wird, die Gemüther in Bewegung zu sezen, oder zu besänftigen. Diese Dienste müssen alle schönen Künste leisten; und deswegen muß jeder gute Künstler die Mittel dieses auszurichten in seiner Gewalt haben.
Man fodert also in Ansehung des ersten der vorhererwähnten zwey Hauptpunkte, daß der Künstler, ein izt ruhiges Gemüth in Leidenschaft sezen, und das aufgebrachte besänftigen könne; daß er in den Gemüthern die gehörige Reizbarkeit, an der es ihnen fehlen möchte, in einem schiklichen Maaße erweke, und denen, die zu leicht aufgebracht werden, etwas von dieser Reizbarkeit benehme; daß er endlich eingewurzelte Unarten, wodurch besondere Leidenschaften bey jeder Gelegenheit aufwachen, schwäche, z.B. den jachzornigen Menschen sanftmüthiger mache, und hingegen in den Gemüthern, denen es an gewissen Empfindungen fehlet, wodurch nüzliche Leidenschaften in ihnen herrschend werden könnten, diese Empfindungen einpflanze.
Ehe wir uns über jeden dieser Punkte besonders einlassen, merken wir überhaupt an, daß alle diese Foderungen eine genaue und richtige Kenntnis der Natur und des Ursprungs der Leidenschaften, auch der Ursachen, durch die sie verstärket, oder geschwächet werden, in dem Künstler voraussezen. Diese Kenntnis muß er hauptsächlich von dem Philosophen erlernen. Indessen wollen wir hier, weil es ohne Weitläuftigkeit geschehen kann, die Hauptpunkte dieser Sache, ihm zum Nachdenken anführen.
Die Leidenschaften sind im Grunde nichts anderes, als Empfindungen von merklicher Stärke, begleitet von Lust oder Unlust, aus denen Begierd, oder Abscheu erfolget. Sie entstehen allemal aus dem Gefühl, oder der undeutlichen Vorstellung solcher Dinge, die wir für gut, oder bös halten. Ganz deutliche Vorstellungen haben keine Kraft das Gemüth in Bewegung zu sezen; was das Herz angreifen, und die Empfindsamkeit reizen soll, muß der Vorstellungskraft viel auf einmal zeigen, und der leidenschaftliche Gegenstand muß im Ganzen gefaßt werden;1 wir müssen darin auf einmal viel gutes, oder schlimmes zu sehen glauben; die Menge der darin liegenden Dinge muß uns hindern, die Aufmerksamkeit auf einzele Theile zu richten, und ihn zum Gegenstand der Betrachtung zu machen. Wer eine Sache zergliedert, ihre Theile einzeln betrachtet, und folglich untersucht, wie sie beschaffen ist, der fühlt nichts dabey; sollen wir fühlen, so muß die Aufmerksamkeit nicht auf die Betrachtung der Sache, oder auf ihre Zergliederung, sondern auf die Würkung, die sie auf uns hat, gerichtet seyn. Die leidenschaftlichen Gegenstände, gleichen jenem, von einem Scythischen König seinen Söhnen zum Denkbild vorgestellten Bündel von Stäben; ihre Stärke liegt in der Vereinigung des Einzelen, und sie sind leicht zu zerbrechen, wenn man jeden besonders herausnihmt.
Darum muß die Einbildungskraft das meiste zur Leidenschaft beytragen. Denn von ihr kommt es, daß bey jeder gegenwärtigen etwas lebhaften Empfindung eine große Menge andrer damit verbundener [693] Vorstellungen zugleich rege werden. Ihr ist es vornehmlich zuzuschreiben, daß ein Mensch, der gegen einen andern Feindschaft im Herzen heget, durch eine sehr geringe aufs neue von ihm erlittene Beleidigung in heftigen Zorn gerahtet. Bey dieser Gelegenheit bringt seine Einbildungskraft ihm alle vorhergegangene Beleidigungen, allen ihm bisher von seinem Feinde verursachten Verdruß, auf einmal wieder ins Gedächtnis; und insgemein stellt er sich auch, da eine lebhafte Einbildungskraft erfindrisch, leichtgläubig und ausschweifend ist, alles, was er etwa noch künftig von diesem Feind möchte zu leiden haben, als schon gegenwärtig vor. Diese große Menge von Vorstellungen, deren jede etwas wiedriges hat, würket nun auf einmal, und bringet einen heftigen Zorn, mit Rachsucht begleitet in dem Herzen des Beleidigten hervor. Auf eine ähnliche Weise entstehen alle Leidenschaften. Dieses dienet also zuerst zur Beantwortung der Frage, wie Leidenschaften zu erweken seyen. Nämlich es geschiehet durch eine lebhafte Schilderung leidenschaftlicher Gegenstände, besonders, wenn die Phantasie dabey erhizt wird. Wer uns in Furcht sezen will, muß wissen die Gefahr eines uns drohenden Uebels dergestalt abzubilden, daß wir sie als gegenwärtig und uns von allen Seiten drohend fühlen: und so muß für jede zu erwekende Leidenschaft der Gegenstand, der sie verursachet, geschildert werden. Dieses Mittel haben die redenden Künste am vollkommensten in ihrer Gewalt, weil sie alle möglichen Arten der Vorstellungen erweken können: aber der Künstler muß dabey auf die höchste Sinnlichkeit der Vorstellungen bedacht seyn; muß das Abwesende, als gegenwärtig, das Ferne, als nahe, das Abstrakte, als körperlich und die äußern Sinnen rührend, vorstellen können. Es giebt keine Leidenschaft, deren Gegenstand die Beredsamkeit und Dichtkunst nicht völlig in ihrer Gewalt haben. Vor allen andern Künsten haben sie dieses voraus, daß sie bey jeder vorkommender Gelegenheit, da Leidenschaften zu erweken sind, die Mittel dazu, ohne vorhergegangener Veranstaltung bey der Hand haben.
Die zeichnenden Künste können uns auch viel leidenschaftliche Gegenstände höchst lebhaft vor Augen stellen. Alles was in den verschiedenen Charakteren und in den sittlichen Eigenschaften der Menschen zur Erwekung der Ehrfurcht, der Liebe, des Vertrauens, des Mitleidens, oder der Verachtung und des Hasses liegt, haben sie in ihrer Gewalt. Der Mahler insbesonder kann fast jeden leidenschaftlichen Gegenstand in der leblosen und sittlichen Natur, und auch gewissermaaßen in der unsichtbaren Welt abbilden. Aber diese Mittel Leidenschaften zu erweken, erfodern mehr Veranstaltungen, als jene die in der Gewalt der redenden Künste sind. Sie dienen also hauptsächlich bey öffentlichen Gelegenheiten, durch Erwekung der Leidenschaften, den Zwek der Feyerlichkeiten desto sicherer zu erreichen.
Die Musik hat außer der Schilderung leidenschaftlicher Aeußerungen, wovon sogleich besonders wird gesprochen werden, nur wenige leidenschaftliche Gegenstände in ihrer Gewalt, weil ihr eigentliches Geschäft in dem Ausdruk der Empfindung selbst, nicht in der Schildrung der Gegenstände besteht. Doch kann sie überhaupt Pracht, Feyerlichkeit, Lerm und Verwirrung, ingleichen etwas von sittlichen Charakteren ausdrüken, und also dadurch die Leidenschaften rege machen.
Aber die Gegenstände, in denen wir in Rüksicht auf uns selbst gutes oder böses sinnlich erkennen, sind nicht die einzigen Mittel den Menschen in Leidenschaft zu sezen; sie werden noch schneller rege, wenn wir ihre Aeußerungen an andern wahrnehmen. Menschen, die wir leiden sehen, erweken unser Mitleiden, und freudige Menschen machen auch uns fröhlich, so wie der Schreken den wir in andern wahrnehmen, auch uns erschrekt, ob uns gleich die Ursache desselben unbekannt ist. Darum sind lebhafte Schilderungen der Leidenschaften in ihren verschiedenen Aeußerungen, auch sehr kräftige Mittel dieselben Aufwallungen in uns hervorzubringen.
Der Künstler muß demnach jede Leidenschaft in ihren Aeußerungen und Würkungen genau kennen, und auf das lebhafteste zu schildern wissen. Wir haben aber von der Schilderung, oder dem wahren Ausdruk der Leidenschaften, diesem zweyten Mittel sie zu erweken, bereits anderswo gesprochen.2 Die redenden Künste haben die meisten, aber nicht immer die kräftigsten Mitttel zu diesen Schilderungen in ihrer Gewalt. Wenn gleich der Dichter die Angst eines nahe zur Verzweiflung gebrachten Menschen umständlicher, als jeder andre Künstler schildern kann; so ist doch das, was er uns sagt, nicht so allgewaltig erschütternd, als die äußerlichen Würkungen dieser Leidenschaft, die die zeichnenden Künste durch Gesichtszüge, Stellung und Bewegung ausdrüken [694] können. Unter allen Künsten aber scheinet die Musik hiezu die größte Kraft zu haben, weil sie das körperliche Gefühl und das System der Nerven am stärksten angreift. Was kann fürchterlicher seyn, als ein rechtes Angstgeschrey, das die Verzweiflung aus einem Menschen erpreßt? Dieses kann die Musik nicht nur vollkommen nachahmen, sondern durch die Harmonie und erschreklich ins Gehör reißende Töne der Instrumente noch verstärken. Man hat deswegen zu allen Zeiten und mit Recht der Musik vorzügliche Kraft zur Erwekung der Leidenschaften, durch den starken Ausdruk derselben zugeschrieben. Eine überwiegende Kraft aber kann das Schauspiel haben, wenn es mit so guter Ueberlegung eingerichtet ist, daß alle Künste zugleich ihre Würkung darin thun.
Die beyden Mittel die Leidenschaften zu erweken, können durch Nebenumstände, wodurch die Einbildungskraft recht erhizt wird, einen besondern Nachdruk bekommen. Es kommt wie bereits angemerkt worden, zur Verstärkung der Leidenschaften sehr viel hierauf an; denn auch ein an sich schwacher Gegenstand bekommt durch die Mitwürkung einer lebhaften Phantasie oft eine bewundrungswürdige Stärke. Ein gewisser Virtuose hat mir gestanden, daß er in seinem Leben nie so stark gerührt worden, als damals, da er in Rom in der Peterskirche ein sogenantes Miserere mit aller möglichen Feyerlichkeit hat singen gehört; obgleich die Musik in Absicht auf den Ausdruk gar nichts vorzügliches gehabt; die größte Kraft kam von der Menge der Stimmen, von der Feyerlichkeit der Versammlung und andern außer der Musik liegenden Umständen. Man wird allemal merken, daß ein Schauspiel weit stärker rühret, wenn Logen und Parterre recht angefüllt, als wenn sie halb leer sind; und gar ofte kann eine Kleinigkeit, die einen einzeln Menschen wenig rühren würde, in einer großen Versammlung erstaunliche Bewegung machen. Der an sich geringe Umstand, daß M. Antonius bey der Leichenrede auf den Cäsar das blutige Gewand des ermordeten Diktators dem Volke vorzeigte, hat Rom um seine Freyheit gebracht. Es wäre aber unmöglich alle Veranlassungen und Umstände, wodurch die Phantasie der Empfindung zu Hülfe kömmt, zu beschreiben. Der Künstler muß ein Kenner der Menschen seyn, und bey jeder Gelegenheit dessen schwache Seite zu finden wissen.
Dieses ist sowol bey der Bearbeitung der Werke der Kunst, als bey der Gelegenheit, wo sie gebraucht werden, in Betrachtung zu ziehen. Der Redner muß nicht nur darauf sehen, daß seine Materie zu Erwekung der Leidenschaften richtig gewählt sey, das besondere des Ausdruks, die Figuren der Rede, ihr Ton, und der mündliche Vortrag, dies alles muß durchgehens leidenschaftlich seyn: kann nun mit diesem noch bey Haltung der Rede jeder Umstand mit Feyerlichkeit verbunden, und die Menge der Zuhörer zum voraus in besondere Erwartung gesezt werden; so hat der Redner sich eine völlige Würkung von seiner Rede zu versprechen. In Absicht auf das Leidenschaftliche im Ton, im Ausdruk und in den Figuren der Rede, kann Cicero als ein vollkommenes Muster vorgestellt werden. Will er Mitleiden erweken, so stimmt in seinem Vortrag alles auf Rührung überein; er weiß allemal die zärtlichsten und kläglichsten Ausdrüke zu wählen, und braucht sehr rührende Figuren; will er Zorn erregen, so ist gleich alles dieses umgekehrt; er spricht mit Entrüstung, weiß den Personen und Sachen, gegen die er den Zuhörer aufbringen will, die verhaßtesten Namen zu geben, und Figuren der Rede, die geschikt sind die Gemüther aufzubringen, am rechten Ort aufzuhäufen.
Auf eine ähnliche Weise muß jeder Künstler verfahren. Bey dem Mahler müssen die Behandlung, der Ton der Farben, die Anordnung, und vornehmlich die Wahl der zufälligen Umstände, mit der Art des leidenschaftlichen im Inhalt genau übereinstimmen. Ein trauriger Inhalt muß auch mit traurigen Farben gemahlt werden, und die Anordnung muß schon etwas finsters haben. Ich habe irgendwo ein Gemählde gesehen, worauf die Andromeda mit fürchterlichen und schon Schauder erwekenden Felsen umgeben war; aber zwischen denselben war eine Aussicht auf das Land, da man ein paar Figuren in sehr jammernder Stellung erblikte, welches die Vorstellung des Unglüks, das diese Person betroffen, um ein merkliches verstärkte.
So muß auch in der Musik der klägliche, oder fröhliche Gesang von einer schweeren und eindringenden, oder von einer reizenden Harmonie unterstüzt, und von Instrumenten, die sich zum Ausdruk am besten schiken, aufgeführt werden. Und die Spieler müssen sanft, lebhaft, oder wild spielen, so wie der Inhalt es erfodert.
[695] Am wichtigsten aber sind zur Unterstüzung des leidenschaftlichen Inhalts die äußern Veranstaltungen, unter welchen das Werk der Kunst seine Würkung thun soll. Die Anordnungen der Feste und Feyerlichkeiten, dazu die Werke der schönen Künste gebraucht werden, erfodern einen Mann von grosser Kenntnis und Geschmak; denn das was er dabey verordnet, giebt jenen Werken unstreitig den größten Nachdruk, oder benihmt ihnen ihre Kraft. Der geringste Umstand kann alles verderben oder kräftig machen. Wie ofte wird nicht in den Opern eine an sich rührende Scene entweder durch ungeschikte Verzierungen, oder durch ein kleines Versehen einer Nebenperson, so gar durch etwas in der Kleidung lächerlich? Die Mängel in den Veranstaltungen der Feyerlichkeiten sind unstreitig die schwächeste Seite in Absicht auf den gegenwärtigen Zustand der schönen Künste in Europa. Diese Veranstaltungen sind insgemein so, daß sie die Würkung der schönen Künste eher hemmen, als befördern. Es ist augenscheinlich, um nur eines einzigen Beyspiels zur Erläuterung dieser Anmerkungen zu erwähnen, daß an gewissen Orten, wo es Mode geworden, daß die vornehmsten im schlechtesten Anzug und beynahe mit Nachtmüzen in die Kirche kommen, unendlich weniger Aufmerksamkeit auf den Vortrag des geistlichen Redners gewendet wird, als da, wo alles bis auf die Kleidung feyerlich ist.3 So viel sey hier von Erwekung und Verstärkung der Leidenschaft überhaupt gesagt.
Man kann schon hieraus auch das Wichtigste, was zu Besänftigung und Stillung, oder Hemmung derselben anzumerken ist, abnehmen.
Da die Leidenschaft aus einer schnellen Vereinigung des vielfältigen Guten, oder Bösen entsteht, das die etwas erhizte Einbildungskraft in dem Gegenstand derselben sieht; so ist der unmittelbareste Weg zu verhindern, daß ein Mensch nicht in Leidenschaft gerathe; die deutliche Entwikelung des Einzelen, das in dem leidenschaftlichen Gegenstand liegt. Dieses war der Hauptkunstgriff der stoischen Philosophen, wie aus unzähligen Stellen der Betrachtungen des fürtreflichen Kaysers Marcus Aurelius zu sehen ist. Denn da es die Hauptbeschäftigung dieser philosophischen Schule war, die Leidenschaften, wo möglich zu vertilgen, so ist leicht zu erachten, daß sie die besten Mittel zu diesem Zwek zu gelangen werden entdekt haben.
Dieses Mittel ist fürnehmlich den redenden Künsten vorbehalten. Nur sie können den leidenschaftlichen Gegenstand so vorstellen, in solche Theile auflösen, daß er nichts reizendes mehr zeiget; sie können die Sachen, die ihrem äußern Scheine nach liebens-oder hassenswürdig, erfreulich, oder fürchterlich sind, nach ihrer innern Beschaffenheit so entwikeln, daß alles Leidenschaftliche darin verschwindet. So hat Cyneas dem Pyrrchus gezeiget, wie die Vorstellung von der Herrlichkeit der Eroberungen verschwindet, wenn man die Sachen näher betrachtet,4 und so hat auch Sokrates dem Alcibiades den Stolz, den ihm die vermeinte Wichtigkeit seiner Güter eingeflößt hatte, gezähmet.
Aber man muß dieses Mittel mit Vorsichtigkeit gebrauchen; denn es ist selten rathsam, sich einer vorhandenen Leidenschaft geradezu zu wiedersezen. Man gießet dadurch insgemein nur Oel ins Feuer. Besser ist es, daß man, auf Sokratische Art, sich anstelle, als ob man ihr nachgebe, indem man auf eine schlaue Art, durch allmählige Entwikelung der phantastischen Vorstellungen ihr Fundament untergräbt. Was vorher von der überlegten Wahl des Tones, des Ausdruks und der Nebenumstände, zur Erhitzung der Einbildungskraft, angemerket worden, davon gilt hier das Gegentheil. Ein kalter, gleichgültiger Ton, lindernde Ausdrüke und alles, was besänftigend ist, wird hier von dem Redner angewandt. Ueberhaupt muß man mit einem in Leidenschaft gesetzten Gemüth nicht geradezu streiten. Allenfalls muß man, wenn dieses nöthig scheinet, sehr kurz und nachdrüklich sprechen. Unter den Reden, welche die an den erzürnten Achilles abgeschikten [696] Fürsten halten, hat in der That der unberedte Ajax das beste gesagt.5
Es giebt allerdings auch Fälle, wo die Leidenschaften geradezu durch Machtsprüche völlig gehemmt werden. So läßt Virgil die Wuth der Winde durch den Neptun stillen. Dieser erhebt das Haupt aus dem Wasser, und ruft den tobenden Winden die mächtigen Worte zu:
Tantam vos generis tenuit fiducia vestri?
Jam cœlum terramque, meo sine numine, venti
Miscere & tantas audetis tollere moles.
Quos ego? ––
Aber dazu gehöret ein völlig überwiegendes Ansehen des Redners. So war auch das, dessen sich in der Noachide Naphael gegen die Giganten bediente. Noah hatte durch die kräftigsten Vorstellungen ihre Wuth nicht besänftigen können. Aber als Naphael ihrer einige angetroffen, redete er sie mit einer Hoheit, die sie gleich in Erstaunen sezet, so an:
Seyd ihr noch hier? –– Der Herr, der das Schiksal
Euern Ungott beherrscht –– gebeut euch,
Euch gebeut er, den Sclaven Adramelachs und Satans,
Hundert Balken und dreymal so viel Bretter und Dielen
Von dem geradesten Gopher, gesägt, gezimmert, geglättet,
Vor die Pforte, die von den Engeln bewacht wird, zu bringen.
Murret ihr unter der Bürde, so will ich den Eichbaum zerspalten u.s.w.6
Diese Rede machte sie plözlich zahm.
Es ist vorher gesagt worden, daß das Mittel die Leidenschaften durch deutliche Entwiklung des Gegenstandes derselben zu stillen, vorzüglich den redenden Künsten eigen sey. Wir müssen aber anmerken, daß doch auch die zeichnenden Künste es bisweilen in ihrer Gewalt haben. Ein Mahler könnte z.B. einem Jüngling, der von nichts, als von Schlachten träumet, den Muth durch folgende Vorstellung kühlen. Das Gemählde stellte auf dem Hauptgrund einen äußerst lebhaften Scharmüzel vor, dergleichen Rugendas so schön gemahlt hat. Die Erfindung könnte so seyn, daß sie sogleich den jungen Krieger ins Feuer sezte. Auf einem etwas großen Vorgrund, den ein beträchtlicher Schatten etwas verdunkelt, könnten verschiedene verwundete vorgestellt werden, die theils an ihren Wunden sterben, theils unter den Händen und den Messern der Wundärzte sind. Einem Mahler der Erfindung und Geist genug hat, dabey einen kräftigen Ausdruk der Zeichnung besizt, würde es nicht schweer werden, diese schrekliche Scene des Vorgrundes so vorzustellen, daß dem muthigsten Krieger die Lust zum Streit vergienge. So hat Hogarth in einer Folge von Zeichnungen erst die Reizungen der Wollust und allmählig die häßlichen Folgen derselben auf eine Weise vorgestellt, die die stärksten Wallungen des Geblüthes stillen kann.
Ein anderes Mittel die Leidenschaften zu stillen, das allen Künsten gemein ist, besteht darin, daß man gerad entgegengesezte Bewegungen in dem Gemüth rege mache; die Kühnheit und den Zorn durch Furcht, die Zaghaftigkeit durch Muth hemme. Hierüber brauchen wir uns nicht weiter einzulassen, da von Erwekung der Leidenschaften hinlänglich gesprochen worden.
Alles, was hier angemerkt worden, dienet blos zur Beantwortung der Frage, wie das izt ruhige Gemüth in Leidenschaft zu setzen, oder das aufgebrachte zu besänftigen sey. Izt kommen wir auf die zweyte Frage, wie das Gemüth von herrschenden Leidenschaften zu heilen sey, oder wie diese ihm eingepflanzt werden sollen. Jedermann weiß, daß einige Menschen zu verschiedenen Leidenschaften so geneigt sind, daß sie die Kraft derselben bey jeder gegebenen Gelegenheit fühlen; sie liegen gleichsam schlafend in den Gemüthern, und erwachen bey geringer Reizung schnell auf. So wird der Ehrgeizige, so bald er die Gelegenheit sich vorzüglich zu zeigen nur erblickt, sogleich ins Feuer gesezt, und der Rachgierige entbrennt bey der geringsten Beleidigung. Im Gegentheil giebt es Gemüther, die zu gewissen Leidenschaften nicht die geringste Anlage zu haben scheinen. Man trifft Menschen an, deren Stirn und Wangen in ihrem Leben nie schamroth worden sind.
Es ist eine sehr wichtige Frage, wie durch die schönen Künste, die Gemüther für gewisse Gegenstände fühlbar, und für andre weniger empfindsam gemacht werden können.
Wenn man bedenkt, wie allgemein es ist, daß die Menschen die Neigungen und Leidenschaften ihrer Nation und ihres Standes annehmen; daß derselbe Mensch, der unter einer sanfmüthigen, oder ehrsüchtigen, oder rachgierigen Nation erzogen ist, eben so wird, wie die andern sind; unter einer andern Nation aber wild, ohne Empfindung der Ehre, oder sanftmüthig worden wäre; so scheinet es entschieden [697] zu seyn, daß jede Leidenschaft jedem Gemüth könne eingepflanzt, und daß jedes von jeder Leidenschaft, wenigstens bis auf einen gewissen Grad könne gereiniget werden. Nur müste hiebey, wenn die Frag aufgeworfen wird, wie eben diese Würkung durch die schönen Künste zu erhalten sey, dasjenige, was von der mechanischen Würkung des Clima abhängt, von den andern Ursachen abgesondert werden.
Man siehet, ohne sich in schweere Untersuchungen einzulassen, wie die Gemüther der Menschen zu gewissen leidenschaftlichen Empfindungen allmählig gestimmt, und geneigt gemacht werden. Wer das Unglük hat unter geizigen, oder rachsüchtigen Leuten auferzogen zu seyn, hat auch das Vorurtheil eingesogen, daß der Besiz des Geldes, der höchste Wunsch des Menschen seyn, und daß man nie eine Beleidigung verzeihen müsse. Daraus läßt sich schließen, wie durch die schönen Künste die Gemüther zu Leidenschaften können geneigt werden. Da sie den gemeinen Vorstellungen, die wir auch in dem täglichen Leben haben könnten, mehr Lebhaftigkeit und mehr Kraft geben, so müßte man solche Werke der Kunst, die zu Tilgung oder Erwekung, gewisser Leidenschaften eingerichtet sind, täglich genießen. Pythagoras hielt seine Schüler an, alle Morgen und Abend durch die Musik gewisse Empfindungen in sich zu erregen, und der berühmte Pensilvanier Fränklin, einer der größten und feinesten Köpfe unsrer Zeit, meldet in einem Schreiben, einem seiner Freunde, der ihm in Noten gesezte Lieder geschikt hatte, daß er davon gute Würkung zu Beförderung der Mäßigung und Liebe zur häuslichen Sparsamkeit erwarte.7 In großen Städten, wo täglich dramatische Schauspiele aufgeführt werden, könnten diese dazu gebraucht werden.
Ueberhaupt also ist hier zu merken, daß durch eine allgemeine Ausbreitung und den täglichen Gebrauch solcher Werke der Beredsamkeit und Dichtkunst, die Vorstellungen und Urtheile, die eigentlich die Grundlagen gewisser Neigungen ausmachen, lebhaft und eindringend vorgetragen sind; darin leidenschaftliche Gegenstände und die Leidenschaften selbst, mit empfehlenden, oder warnenden Zügen begleitet, kräftig geschildert werden, als gewisse Mittel können angesehen werden, Neigungen und Leidenschaften zu zeugen, oder aus den Gemüthern zu verbannen. Wenn die Jugend, die von nichts, als der in Kriegesdiensten zu erwerbenden Ehre sprechen hört, und nichts, als dahin abziehlende Bücher zu lesen bekommt, von dieser Art Ehrbegierde entflammt wird, und wenn das anhaltende Lesen etwas schwärmerischer Andachtsbücher, die Leute zu Pietisten macht, wie die Erfahrung beydes hinlänglich lehret; so kann man daher denselben Schluß auf jede andere Neigung und Leidenschaft machen, wenn ähnliche Mittel gebraucht werden.
Und so können auch die andern Künste zu gleichem Zwek dienen. Indem sie leidenschaftliche Gegenstände und Leidenschaften selbst kräftig schildern, erweken sie allemal in uns gewisse daher entstehende Empfindungen, und verstärken dadurch allmählig unser Gefühl der Zuneigung, oder Abneigung; denn es ist offenbar, daß wir endlich herrschende Neigung oder Abneigung für solche Gegenstände bekommen, die wir ofte mit Vergnügen oder mit Schmerz, Unwillen oder Ekel empfunden haben. Von allen Werken der Kunst scheinen die Lieder in dieser Absicht die größte Kraft zu haben, wie an seinem Ort umständlicher angemerkt worden ist.8 Wie das Lächerliche hiezu diene, ist bereits gezeiget worden.9
Schriften und andere Werke des Geschmaks, die besonders darauf abziehlen, die Menschen zu heilsamen Leidenschaften zu reizen, oder schädliche zu schwächen, verdienen die höchste Achtung von einer ganzen Nation. Wie unendlich würde nicht die Erziehung erleichtert werden, um nur einen Fall des Nuzens solcher Werke anzuführen, wenn man Schriften bey der Hand hätte, worinn die wahre Ehre, die Liebe zum allgemeinen Besten, und jede zur allgemeinen und besondern Glükseeligkeit abziehlende Leidenschaft eben so reizend vorgestellt würde, als die Wollust, in so manchem Werke des Wizes geschildert wird? Wann anstatt blos lustiger oder wiziger Lieder, eben so angenehme zu jener höhern Absicht dienende, überall ausgebreitet wären? Was [698] für ein leichtes Werk würde es alsdenn nicht seyn, die Gemüther der Jugend von dem schädlichen der Leidenschaften zu reinigen, und das heilsame derselben zu verstärken? Fürnehmlich aber würde diese große Würkung alsdenn dadurch erhalten werden; wenn die Gesezgeber die Sitten und Gebräuche ihrer Völker zum öffentlichen und Privatgebrauch solcher Werke, besonders zu lenken suchten. Mit welcher Begierde siehet man nicht die Menschen in öffentliche und Privatconcerte laufen, und wie nüzlich würden diese nicht seyn, wenn da von Sängern, die den Ausdruk in ihrer Gewalt haben, anstatt der Concerte, die insgemein nichts, als ein künstliches Geräusche vorstellen, Lieder, wie die, von denen wir so eben gesprochen, abgesungen würden?
Aristoteles sagt, das Trauerspiel diene durch Erwekung des Mitleidens und Schrekens, die Gemüther von dergleichen Leidenschaften zu reinigen; aber er erkläret sich nicht, auf was Art dieses geschehe. Es scheinet natürlicher zu seyn, daß der, der ofte zum Mitleiden bewogen wird, dadurch weichherzig, und wer öfters in Schreken gesezt wird, furchtsam und schrekhaft werde. Also würde das Gemüth durch die Tragödie von Härte, Grausamkeit und Verwegenheit gereiniget werden. Hievon aber wird anderswo gehandelt werden.10
Die Untersuchung der Frage, wie durch die schönen Künste die Gemüther zu Leidenschaften können geneigt gemacht, oder gegen dieselben verwahrt werden, leitet uns natürlicher Weise auf den zweyten Hauptpunkt dieses Artikels, der die Behandlung und Schilderung derselben betrift, weil, wie vorher angemerkt worden, eben dadurch jener doppelte Zwek am besten erreicht wird.
Man fodert von jedem Künstler, daß er die Leidenschaften nicht nur nach ihrer wahren Natur und in ihren verschiedenen Aeußerungen, sondern auch nach ihren guten und bösen Würkungen, zu schildern wisse. Die wichtigsten Werke der Kunst betreiben vornehmlich dieses Geschäft. Das Heldengedicht und das Trauerspiel beruhen fast ganz darauf.
Getreue zugleich aber lebhafte Schilderungen der Leidenschaften, nach den verschiedenen Graden ihrer Stärke, von den ersten Regungen an, wodurch sie entstehen, bis auf den höchsten Grad ihres vollen Ausbruchs und nach den mancherley Abänderungen, die von dem Charakter der Personen und den besondern Umständen, herrühren, gehören zu den wichtigsten Arbeiten des Künstlers, der vornehmlich in Absicht auf diese Verrichtung ein großer Kenner des menschlichen Herzens und ein vollkommener Mahler aller innerlichen und äußerlichen Regungen des Herzens seyn sollte.
Es wäre ein sehr vergebliches Unternehmen, wenn man das, was hiezu gehöret, in Regeln fassen wollte: wo nicht das Gemüth des Künstlers von der Natur die Leichtigkeit bekommen hat, sich selbst in jede Leidenschaft zu setzen und jeden Charakter anzunehmen, da hilft ihm kein Unterricht. Der Dichter muß, wie Milton oder Klopstok ein Engel oder Teufel seyn können, oder wie Homer mit dem Achilles wüten, und mit dem Ulysses bey den größten Gefahren kaltblütig seyn, nachdem die Umstände es erfodern. Er muß selbst alles fühlen, was er an andern schildern will. Dies ist die vorzügliche Gabe, wodurch er sich von andern Menschen unterscheidet.11
Freylich wird der Künstler, der mit diesem natürlichen Talent eine große Erfahrung verbindet, der die Menschen in ihren leidenschaftlichen Aeußerungen mit einem scharfen Auge fleißig beobachtet hat, der dazu noch eine philosophische Kenntnis der Tiefen des menschlichen Herzens besizet, in seinen Schilderungen noch größer seyn. Was man also über diesen Punkt dem Künstler empfehlen kann, beruhet blos auf eine genaue und äußerst aufmerksame Beobachtung der Menschen, und ein anhaltendes ganz besonderes Studium der Charaktere und Leidenschaften, welches er in den täglichen Umgange und in der Geschichte der Völker treiben kann.
Sehr selten thut ein Mensch im Guten, oder im Bösen etwas großes, daran nicht die Leidenschaften[699] den größten Antheil haben. So oft also der Künstler in menschlichen Handlungen das Große wahrnihmt, soll er sein äußerstes thun zu versuchen, sich selbst in die Empfindung zu sezen, in der er die Möglichkeit so zu handeln fühlet. Es giebt Fälle, wo man mehrere Tage lang zu thun hat, um sich in die wahre Lage der Sachen, in die Denkungsart, und in die Empfindungen zu sezen, deren Aeußerungen man an andern wahrgenommen hat und ehe man in sich selbst nur die Möglichkeit derselben empfindet. Darum halten so viele Menschen gewisse Thaten, die man von andern erzählt, für unmöglich; weil sie selbst die Kräfte, wodurch sie bewürkt worden, nicht zu fühlen vermögend sind. Darum werden auch nur ausserordentliche Genie, dergleichen Homer, die uns übrig gebliebenen tragischen Dichter von Athen, Milton, Shakespear, Klopstok sind, die mit der äußersten Anstrengung der Kräfte sich in alle Gemüthsfassungen sezen können, die alles empfinden wollen, was Menschen empfinden können, die sich von Stufe zu Stufe zu jeder Größe, sie sey gut oder böse zu erheben suchen, um ihren Ursprung in sich selbst zu empfinden, – nur solche Männer werden im Ausdruk aller Leidenschaften groß seyn.
Wir wollen das, was dem Künstler über den Ausdruk der Leidenschaften zu sagen ist, in eine einzige Regel zusammenfassen. Er übe sich mit dem hartnäkigsten Fleis, alles, was er auszudrüken hat, selbst wol zu empfinden, und wage sich an keine Schildrung der Leidenschaft, bis es ihm gelungen ist, sich selbst in dieselbe zu sezen. Denn es ist unmöglich Empfindungen auszudrüken, die man selbst nicht hat.12 Nun ist es Zeit die Anwendung der seltenen Gabe jede Leidenschaft zu schildern, in Betrachtung zu ziehen.
Hier entstehet also die Frage, wie der Künstler seine Fertigkeit in lebhafter Schilderung der Leidenschaften zum besten Gebrauch anwenden, und wie er überhaupt die Werke von leidenschaftlichem Inhalt in dieser Absicht behandeln soll.
Ich kenne nur dreyerley Würkungen, die von dergleichen Werken zu erwarten sind. Sie können erstlich sehr unterhaltend und angenehm seyn; hernach auch dazu dienen, daß wir alle Leidenschaften, ihre Würkungen und Folgen kennen lernen; und endlich kann es auch geschehen, daß wir dadurch für einige Leidenschaften eingenommen, für andern aber gewarnet, oder davon abgeschrekt werden. Diese dreyfache Würkung muß der Künstler allemal bey Behandlung der Leidenschaften vor Augen haben. Wir wollen jeden dieser drey Punkte besonders betrachten.
Daß es für Menschen von einiger Empfindsamkeit eine angenehme Unterhaltung sey, Zeugen von Handlungen und Begebenheiten zu seyn, wobey die verschiedenen Leidenschaften in Würksamkeit kommen, ist eine durchgehends bekannte Sache. Selbst die Scenen, wobey die mitwürkenden Personen blos wiedrige, oder schmerzhafte Leidenschaften fühlen, gefallen uns, wenn wir außer aller Verbindung damit, bloße Zuschauer derselben sind. Die Beschreibung, oder Abbildung eines fürchterlichen Sturms; eines gefährlichen Auflaufs; einer hizigen Slacht und dergleichen mehr, haben für jeden Menschen etwas anziehendes, ob er gleich dabey Empfindungen hat, die denen ähnlich sind, welche die handelnden Personen erfahren. Es ist der Absicht dieses Werks gemäß, daß wir vor allen Dingen hier den wahren Grund dieser würklich seltsamen Erscheinung aufsuchen.
Warum sehen wir so gerne Abbildungen von Scenen, die uns höchst unangenehm wären, wenn wir uns selbst darin verwikelt fänden? Jedermann weiß, wie Lukretius dieses erkläret.
Suave mari magno turbantibus æquora ventis
A terra magnum alterius spectare laborem.
Non quia vexari quemquam est jucunda voluptas,
Sed quibus ipse malis careas quia cernere suave est.13
D. i. Es ist angenehm bey hohem Meere, wenn die Winde in die Gewässer stürmen, vom Lande die Noth der Menschen anzusehen. Nicht darum, daß es ein Vergnügen wäre, wenn andre geängstiget werden; sondern weil es überhaupt ergözt Ungemach zu sehen, davon wir selbst frey sind.
Im Grund erklärt der Dichter die Sache nicht. Denn es ist eben die Frage, warum das Anschauen des Ungemachs, das uns selbst nicht trift, uns vergnüge. Ich erinnere mich vom Land einen Sturm gesehen zu haben, der zwey unweit der Küste in der See befindliche Schiffe in große Noth sezte, wobey ich selbst viel Angst und Furcht empfunden, und doch lag es nur an mir, die Augen davon abzuwenden. Man geht bisweilen Scenen der Furcht und des Schrekens zu sehen, ob man gleich voraussieht, daß man selbst dabey leiden werde. Doch wird nicht leicht ein empfindsamer Mensch zum zweytenmale solche Scenen zu sehen verlangen, die würklich [700] mit einer traurigen Catastrophe, sich endigen. Wenn wir mit Begierde zusehen, wie Menschen bey einem Schiffbruch das äußerste thun, sich zu retten, so wenden wir doch gern die Augen weg, indem wir sie umkommen sehen. Da macht uns ihre Noth nicht das geringste Vergnügen.
Aus diesen Beobachtungen folget, daß der Mensch überhaupt eine Neigung hat, leidenschaftliche Scenen, sie seyen angenehm oder unangenehm, zu sehen, wenn nur dabey kein würkliches Unglük geschieht. So lange wir hoffen, oder wissen, daß die Menschen, die wir in Noth sehen, sich daraus retten werden, nehmen wir gern Antheil an allem, was sie empfinden; wir leiden gern mit ihnen; bestreben uns, sie zu retten, arbeiten und schwizen vom bloßen Zuschauen, wie sie selbst; die Hofnung, daß sie dem Uebel entgehen werden, läßt uns von den verschiedenen durch einanderlaufenden Gemüthsbewegungen, auch das Angenehme empfinden; nämlich die Würksamkeit und die Kräfte der Seele. Der erste Grundtrieb unsers ganzen Wesens ist die Begierde, Kräfte zu besizen, und sie zu brauchen. Dieser Trieb findet bey jeder leidenschaftlichen Bewegung seine Nahrung, so lange nicht eine gänzliche Catastrophe uns der Würksamkeit beraubet, oder sie völlig hemmet.
Deswegen haben alle Leidenschaften, in so fern die Seele sich thätig dabey erzeiget, wie unangenehm sie sonst seyn mögen, etwas das uns gefällt. Indem wir aber Zeugen leidenschaftlicher Scenen sind, entstehen, wiewol in geringerem Grad, alle Bewegungen in uns, welche die darin würklich begriffenen Personen fühlen; und aus diesem Grunde gefallen uns diese Scenen, sowol in der Natur, als in der Nachahmung. Nur findet sich zwischen den würklichen und nachgeahmten Scenen dieser Unterschied, daß wir in den leztern die Catastrophe selbst noch sehen mögen, die in den Würklichen zu schmerzhaft seyn würde; weil wir dort immer noch die Vorstellung haben, daß die Sachen nicht würklich sind.
Daher kommt es, daß man den Künstlern empfiehlet, das würkliche Unglük, womit traurige Scenen sich endigen, nicht gar zu lebhaft zu schildern, damit nicht ein blos reiner Schmerz, ohne Beymischung des Vergnügens übrig bleibe; und daß kluge Künstler überhaupt das Wiedrige in den Scenen, nicht bis zum Ekelhaften treiben,14 welches nur Abscheu verursachen würde.
Wer also für diesen Zwek arbeitet, kann jeden leidenschaftlichen Gegenstand wählen, wenn er sich nur in Acht nimmt, die Sachen nicht zu übertreiben. Weil sonst empfindsame Menschen Aug und Ohr von seinem Gegenstand abwenden würden. Der Künstler muß wol überlegen, daß die Absicht solcher Werke dahin geht, die Gemüther eine Zeitlang in der angenehmen Würksamkeit, die aus verschiedenen Empfindungen entsteht, zu unterhalten, ohne sie durch allzuheftige Eindrüke zu ermüden, oder die Leidenschaften auf einen Grad zu treiben, wo sie anfangen uns mit Heftigkeit anzugreifen, und Verwirrung anzurichten. Solche Werke müssen auf das Gemüth die Würkung haben, welche man in Absicht auf den Körper von allen zur Gesundheit und Erhaltung der Kräfte abziehlenden Leibesübungen erwartet. Auch diese werden schädlich, wenn sie zu heftig sind. Dieses haben verschiedene neuere Dichter in Trauerspielen, wo man doch keinen andern Zwek, als eine solche Gemüthsübung entdeket, nicht wol bedacht; daher sie auf das Vorurtheil gerathen sind, sie müßten sich hauptsächlich bestreben, die Leidenschaften recht heftig zu reizen, und deswegen den Gegenständen, wodurch sie sollten erwekt werden, eine rechte Abscheulichkeit, oder eine so ausnehmende sinnliche Kraft zu geben, daß die Zuschauer recht erschüttert werden, und ihnen, wie man sagt, die Haare zu Berge stehen sollten. Wo die Leidenschaften blos zur Unterhaltung des Zuschauers, und gleichsam nur zu einer gesunden, aber angenehmen Gemüthsübung geschildert werden, da befleißige sich der Künstler einer schiklichen Mäßigung: stärkere Erschütterungen aber verspahre er auf die besonderen Gelegenheiten, wo man die Absicht hat, Gemüther von herrschenden verderblichen Uebeln zu heilen; so wie man bey ähnlichen körperlichen Umständen, den Körper auch ausserordentlich angreift.
Man kann aber bey Werken leidenschaftlichen Inhalts auch die Absicht haben andere dadurch, als durch Beyspiele, von der Beschaffenheit, von den Würkungen und den guten und bösen Folgen der Leidenschaften zu unterrichten. Wir erfahren dadurch was für unerwarteter Dinge der in Leidenschaft gesezte Mensch fähig ist; wie hoch er sich erheben und wie tief er fallen kann. Wir lernen daraus die eigentlichen Kräfte wodurch in der sittlichen Welt das meiste ausgerichtet wird, und die seltsamen und bisweilen unerwarteten Eigenschaften [701] der verschiedenen Gemüthsbewegungen, kennen; welches uns in den Geschäften mit andern sehr nüzlich werden kann. Ueberhaupt kann man sagen, daß der Mensch nirgend größer, auch nie kleiner erscheinet, als in dem leidenschaftlichen Zustand. Er kann darin unsre Bewundrung und unsre Verachtung verdienen, weil er da im Guten und Bösen das äußerste, dessen er fähig ist, sehen läßt. Daß die durch getreue Schilderung leidenschaftlicher Scenen zu erlangende Kenntniß der Menschen eine höchst wichtige Sache sey, bedärf keines Beweises.15
Dieser Zwek wird am besten durch epische und dramatische Gedichte erreicht. Die Handlungen, die dabey zum Grund gelegt werden, die Verwikelungen und Schwierigkeiten, die dabey vorkommen; die verschiedenen und ofte gegeneinander laufenden Intressen der Personen, geben dem Dichter, wenn er nur ein scharfer Beobachter und wahrer Kenner der Menschen ist, die Gelegenheit jede Leidenschaft in ihren Ursachen, in ihrem Ursprung, in den Graden und Gestalten, die sie nach dem Stand und dem Charakter jeder Personen annehmen, in ihrem Streit gegen andere und in ihren Folgen, auf das lebhafteste zu schildern, wodurch auch seine Leser oder Zuhörer Kenner der Menschen werden können.
Aber hier kommt es auf wahrhafte und treue Schilderungen an. Man muß uns da nicht mit Hirngespinsten aufhalten. Wir müssen den Menschen in seinen Leidenschaften gerade so sehen, wie er würklich ist. Der Dichter muß die verschiedenen Umstände der Handlung und die verschiedenen Vorfälle, ingleichem die Nebenpersonen so bestimmen, daß das Spiel der Leidenschaften sich auf eine wahrhafte und natürliche nicht romantische Weise entwikele. Es ist deßwegen gut, daß die Handlung selbst nicht mit gar zu viel Vorfällen überladen sey; weil dieses der ausführlichen Schilderung der Leidenschaften hinderlich ist. Die Umstände der Handlung müssen so gewählt seyn, daß die wahre Entwiklung und die mannigfaltigen Wendungen, die jeder Leidenschaft eigen sind, in einem hellen Licht erscheinen. Fürnehmlich aber muß der Dichter sich angelegen seyn lassen, nicht nur die äußerlichen, sichtbaren Würkungen der Leidenschaften, sondern vorzüglich das Innere derselben zu schildern. Wir lernen die verzweifelnde Reue weniger dadurch kennen, daß der Mensch sich die Haare ausrauft, als, wenn der Dichter uns den inneren Zustand schildert. Gar ofte äußert sich die heftigste Leidenschaft durch wenig äußerliche Zeichen, und mancher in der Verstellung ausgelernte Hofmann fühlt bey anscheinender Gelassenheit die heftigsten Bisse der Rache, des Hasses, der Habsucht oder des Ehrgeizes. Bald jeder Mensch hat Gelegenheit das äussere der verschiedenen Leidenschaften durch seine Beobachtungen zu kennen; aber zur lebhaften Vorstellung des innern Zustandes, hat er die Hülfe eines Mahlers, wie Shakespear war, vonnöthen.
Endlich liegt dem Dichter, in Absicht auf die dritte Würkung der Werke dieser Art ob, seine Schilderungen so einzurichten, daß die Gemüther für das, was die Leidenschaften heilsames haben, geneigt, und vor dem schädlichen derselben gewarnet werden. Zu diesem Ende müssen allemal die eigentlichsten und kräftigsten Farben zu den Schilderungen gebraucht werden. So sind in der Ilias der Stolz des Agamemnons, die Hitze und der unüberwindliche Eigensinn des Achilles; im Messias die Wuth des Philo, und in Bodmers biblischen Gedichten die herrschende Gottesfurcht der Patriarchen, jedes mit solchen Farben geschildert, daß man sogleich für oder gegen diese Leidenschaften eingenommen wird. Durch solche Schilderungen wird das Schöne und Einnehmende edler und das Häßliche niedriger Leidenschaften, sogleich empfunden.
Dadurch allein, daß wir das wiedrige und ängstliche gewisser Leidenschaften, oder das angenehme, das andre haben, oft empfinden, wird das Gemüth von jenen gereiniget, und zu diesen geneigt gemacht. Wer ofte Furcht und Angst empfunden hat, wird sorgfältig, sich vor allem zu hüten, was diese höchst unangenehme Leidenschaften erweken kann. Vielleicht hat Aristoteles mit seiner oben angeführten Anmerkung über das Trauerspiel dieses sagen wollen. Man sollte allerdings denken, daß die Angst und Verzweiflung darin wir einen Menschen, über seine verübten Verbrechen sehen, und die wir alsdenn mit ihm fühlen, Eindrüke in uns machen sollten, die uns für immer, vor solchen Verbrechen zu schüzen, stark genug wären. Der Künstler soll darum in der Behandlung der Leidenschaften immer darauf sehen, daß dergleichen wichtigen Eindrüke von denselben in den Gemüthern zurük bleiben. Es ist aber nicht genug, daß er die Leidenschaften selber, so schildere, daß sie uns reizen oder abschreken; auch ihre Folgen muß er diesem Zwek gemäß heranzubringen wissen. [702] Den, der sich schädlichen Leidenschaften ohne Wiederstand überläßt, muß er auf eine natürliche, höchst wahrscheinliche Weise, in so nachtheilige und unglükliche Umstände gerathen lassen, daß er sich auf keinerley Weise, oder doch nur durch die äusserste Anstrengung seiner Kräfte, und nachdem er sehr viel ausgestanden hat, daraus retten könne. Auf der andern Seite muß er eben so lebhaft die Vortheile heilsamer Leidenschaften vor Augen zu legen wissen. Er muß zeigen, wie Muth und Herzhaftigkeit die besten Hülfsmittel gegen Gefahr, Großmuth die sicherste Rache gegen gewisse Feinde; Eyfer für das allgemeine Beste, der geradeste Weg zur Ehre, und wie überhaupt jede edle Leidenschaft ihre eigene Belohnung sey.
Hiezu dienet auch noch, daß solche Personen in die Handlung eingeführt werden, die entweder durch ihr Betragen, oder durch ihre Reden, jene, durch die Schilderung erwekten Eindrüke noch mehr verstärken. So wird in der Noachide der Unwillen, den wir bereits aus der Beschreibung der leichtsinnigen Wollust, welche die Einwohner in Lud beherrscht empfunden haben, durch die Vorwürfe, die Raphael ihnen deswegen macht, ungemein verstärkt.
–– den Seraph
Färbete Scham im Hören und Zorn mit der Röthe des Morgens;
Strafende Worte stürzten von seinen Lippen; er sagte:
O! des Unsinns! der göttliche Geist verhauchet sein Feuer
In der Eitelkeit Dienste; da liegt die Stärke der Seele
Niedergedrukt, vertilgt der große Gedanke, die Freude
Daß der Schöpfer sie ewig erschuff. u.s.w.16
Durch dergleichen Mittel muß der Dichter, wo es nöthig ist, dem Nachdenken des Lesers zu Hülfe kommen, damit bey den Schilderungen der Leidenschaften die Eindrüke des Guten und Bösen unauslöschlich werden. Das Drama giebt dazu die beste Gelegenheit, und nicht selten haben die Alten mit Vortheil die Chöre desselben dazu gebraucht.
1 | S. die Anmerkung im Art. lehrende Rede. S. 685. |
2 | S. ⇒ Ausdruk der Leidenschaft. |
3 | Es soll seit einigen Jahren in England aufgekommen seyn, daß die Pairs von Großbrittanien an den gewöhnlichen Tagen, da der König nicht im Parlament erscheinet, sich im Frok und mit Stiefeln, das ist im äußersten Negligé im Oberhaus versammlen. Dies wär ein offenbarer Beweis, daß auch die Berathschlagungen in dieser hohen Versammlung nicht immer mit der gehörigen Aufmerksamkeit betrieben würden. Dem Cineas würde der römische Senat gewiß nicht wie eine Versammlung von Königen vorgekommen seyn, wenn die Rathoherren in ihren Hauskleidern in der Versammlung erschienen wären. |
4 | S. ⇒ Lächerlich. |
5 | S. Il. IX. vs. 620. u.s.f. |
6 | Noach. VI. Ges. |
7 | I like your ballad, and think it well adapted for your purpose of discountenancing expensive foppery and encouraging industry and frugality. If you can get it generally fung in your country, it may probably have a good deal of the effectt you hope and expect from it. Letter to Mr. Neuport in Franklin's Experiments and observations on Electricity etc. London 1769. 4. S. 437. |
8 | S. ⇒ Lied. |
9 | S. ⇒ Lächerlich. |
10 | S. ⇒ Trauerspiel |
11 | Mancher glaubt den moralischen Charakter des Dichters aus den von ihm geäußerten Gesinnungen, die in seinen Gedichten zerstreut sind, beurtheilen zu können. Da aber große Dichter Boßheit und Gottlosigkeit eben so gut schildern, als Güte des Herzens und fromme Tugend, so werden die Folgerungen, die man aus leidenschaftlichen Schilderungen auf den sittlichen Charakter des Dichters ziehen will, sehr unsicher. Auf die Größe des Geistes und Herzens eines Dichters, kann man aus der Wahrheit und Stärke seiner Schilderungen allemal sicher schließen. Aber diese Größe ist nicht immer ein Beweis der Güte. |
12 | Daraus folget, daß man den sittlichen Charakter eines Dichters sicherer aus dem beurtheilen könne, was er nicht auszudrüken im Stand ist |
13 | Lucret. L. II. vs. 1. seq. |
14 | Man sehe einige hierüber gemachte Anmerkungen in dem Art. ⇒ Entsezen. |
15 | Man sehe einige hiehe gehörige Anmerkungen in dem Art. ⇒ Größe. |
16 | II Gesang. |
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