[825] Numerus. (Beredsamkeit)
Weil dieses Wort schon vielfältig von deutschen Kunstrichtern gebraucht worden, und wir kein anderes gleichbedeutendes haben, so wollen wir es beybehalten, um einen gewissen Wolklang der ungebundenen Rede damit auszudrüken, den Cicero und Quintilian mit diesem Worte benennt haben. Es ist schweer einen ganz bestimmten Begriff davon zu geben. Ueberhaupt verstehet man dadurch den Wolklang einzeler Säze und ganzer Perioden der ungebundenen Rede. Zwar schreibet man auch der gebundenen Rede einen Numerus zu, und unterscheidet beyde durch die Beywörter oratorius und poeticus; aber es scheinet, daß unsre Kunstrichter den poetischen Numerus zu dem rechnen, was sie unter dem Worte Wolklang verstehen, und hingegen den Wolklang der ungebundenen Rede durch das Wort Numerus ausdrüken. Wie dem sey, so ist das Wort hier blos in dieser Bedeutung zu verstehen.
Wenn man bey der Rede keinen andern Zwek hat, als verständlich zu seyn, so kommt der Wolklang der Säze gar nicht in Betrachtung; es ist schon genug, wenn sie fließend, wenn nichts holpriges, und die Aussprach hinderndes, darin ist, und wenn die Perioden nicht verworren, und nicht gar zu lang sind. Cicero verbietet so gar in der ganz einfachen Schreibart, die er genus subtile nennt, den gesuchten Wolklang.1 In der That ist er in dem einfachesten lehrenden und erzählenden Vortrag, in der Unterredung, in den Scenen des Drama, die den Ton der Unterredung haben müssen, nicht nur überflüßig, sondern könnte da dem natürlichen Ton, der darin vorzüglich herrschen muß, hinderlich seyn. So bald aber die Absicht hinzukommt, daß der Zuhörer die Rede leicht im Gedächtnis behalten, oder daß schon der bloße Klang derselben seine Aufmerksamkeit reizen, oder dem Gehör angenehm seyn [825] soll; da entsteht die Nothwendigkeit des Numerus. Wir wollen ihn erst in einzelen Säzen, hernach in Perioden, zulezt in der Folge derselben betrachten.
Die nähere Betrachtung der verschiedenen Arten des Numerus, wird durch eine Anmerkung des Cicero erleichtert, nach welcher die Wörter, als die Materie der Rede, der Numerus aber, als die Form derselben anzusehen ist. In verbis inest quasi materia quædam, in numero autem expolitio. Der einfacheste und kunstloseste Numerus wird demnach dieser seyn, da die Worte, die nichts, als das Nothwendige ausdrüken, in die einfacheste, jedoch leichtfließende Form, geordnet sind. Dieser Saz: Ich hab es gesagt, daß es so gehen würde, ist ein Beyspiel des einfachesten Numerus. Jedes Wort darin ist nothwendig, und die Stellung der Worte ist so, daß der Saz leicht, und mit einer gefälligen, der Sach angemessenen Hebung und Sinkung der Stimme kann ausgesprochen werden; wollte man ihn so abändern: daß es so gehen würde, das hab ich schon vorher gesagt; so würde man ihm den Numerus benehmen.
Diese Gattung des Numerus, die einfacheste von allen, macht noch nicht die Art des Vortrages aus, die Cicero numerosam orationen nennt. Ein solcher Saz ist in der Rede, was ein zum täglichen Gebrauch dienendes Instrument, z.B. ein Messer, das ohne irgend einen unwesentlichen Theil, zum Gebrauch vollkommen eingerichtet, zur größten Bequämlichkeit geformt, sehr sauber und fleißig ausgearbeitet ist. Es thut nicht nur die Dienste, die es thun soll; sondern thut sie leicht, läßt sich aufs bequämste fassen, und gefällt bey seiner Einfalt durch den genauen Fleis der Ausarbeitung; es ist vollkommen, aber noch nicht schön.
Zunächst an diesen gränzet der Numerus, der neben den erwähnten Eigenschaften noch das Gefällige hat, daß aus Gleichheit, oder aus dem Gegensaz einzeler Theile, einige Annehmlichkeit bekommt. Diesen Numerus zählt Cicero auch noch unter die kunstlosen. Nam paria paribus adjuncta, et similiter definita, itemque contrariis relata contraria, sua sponte cadunt plerumque numerosa. Er führet davon folgendes Beyspiel aus einer seiner eigenen Reden an. Est enim non scripta lex, sed nata, quam non didicimus, sed accepimus u.s.f. Insgemein trift man ihn bey alten Sprüchwörtern an – Wie gewonnen, so zerronnen, und dergleichen. Dieser unterscheidet sich von dem vorhergehenden dadurch, daß er bey der höchst einfachen Form schon symmetrische Theile hat.
Hierauf folget der Numerus, der aus einer wolfließenden und wolklingenden Vereinigung mehrer Säze in eine Periode entsteht. Er ist in Absicht auf die Periode die das Ganze, wozu die einzeln Säze als Theile gehören, ausmacht, was die Eurythmie oder das Ebenmaaß in Absicht auf sichtbare Formen ist. Cicero sagt ausdrüklich, dieser Numerus sey das, was die Griechen Rhythmus nennen. Hieraus läßt sich überhaupt begreifen, daß die numerose Periode aus mehrern kleinen Säzen, oder Einschnitten bestehe, die sowol in der Länge, als an Sylbenfüßen verschieden, aber so gut mit einander verbunden sind, daß das Gehör alle zusammen, als ein einziges, wolklingendes, und auch an Ton dem Charakter des Inhalts wol angemessenes Ganzes vernehme. Kein Glied muß so abgelößt seyn, daß das Gehör, wenn man auch den Sinn der Worte nicht verstünde, am Ende desselben befriediget sey; es muß einen kleinen Ruhepunkt fühlen, aber so, daß es nothwendig die Folge noch andrer Glieder erwartet, und nur am Ende der Periode würklich anhaltende Ruh empfindet. Bestehet die Periode aus viel kleinern Gliedern, so müssen diese wieder in grössere Abschnitte verbunden seyn, damit die ganze Periode nicht nach den einzelen Gliedern, sondern nach den wenigen grössern Abschnitten ins Gehör falle. Anfang und Ende der Periode, müssen durch schiklichen Klang bezeichnet, und die Theile nach guten Verhältnissen gegen einander gestellt werden.
Durch diese Mittel bekommt die Periode das Ebenmaaß der Form, gerad auf die Art, wie sichtbare Gegenstände durch das Verhältnis der kleinern und grössern Theile, und durch die Gruppirung derselben.2 Wie aber zur Schönheit der sichtbaren Formen nicht blos Eurythmie, sondern auch ein mit dem Innern, oder dem Geist der Sach übereinstimmender Charakter erfodert wird; so muß auch die Periode dem Klange nach mit dem Sinn der Worte und der Säze genau übereinstimmen. Zu diesem Charakter tragen der mehr oder weniger [826] volle Laut der Wörter, die Bewegung, oder das Schnelle und Langsame, und das Steigen oder Fallen der Stimme, jedes das Seinige bey. Bey derselben Anzahl, Größe und demselben Verhältnis der Glieder und Einschnitte, kann die Periode sanft fließen, oder schnell fortrauschen; allmählig im Ton steigen, oder fallen; und überhaupt jeden sittlichen und leidenschaftlichen Ton und Charakter annehmen, der durch Klang und Bewegung kann ausgedrükt werden. Ist der Inhalt ruhig, so muß es auch der Fluß der Periode seyn; ist jener zärtlich, oder heftig, so ist es auch dieser.
Dieses sind also die verschiedenen Mittel, wodurch der künstliche und volle Numerus einer Periode kann erhalten werden. Regeln, nach denen der Redner in besondern Fällen von diesen Mittel den besten Gebrauch machen könnte, lassen sich nicht geben; sein Gefühl muß ihm das, was sich schiket, an die Hand geben. Deshalb aber war es keinesweges unnöthig, oder überflüßig diese Mittel, von deren gutem Gebrauch der Numerus abhängt, dem Redner deutlich vor Augen zu legen; denn wenn er sie nicht im Gesichte hat, so fällt ihm auch ofte ihr Gebrauch nicht ein. Es verhält sich damit, wie mit den Werkzeugen, die zu vollkommener Verfertigung und Ausarbeitung eines Werks der mechanischen Kunst dienen. Der Arbeiter muß sie kennen, und vor sich sehen, weil ihn dieses auf ihren Gebrauch führet. Wer ein Werk der mechanischen Kunst, nach allen seinen Theilen beschreibt, hernach aber die zu vollkommener Verfertigung und Ausarbeitung jedes Theiles nöthigen Werkzeuge kennbar macht, der hat alles gethan, was er thun konnte, um den Arbeiter, der das Genie seiner Kunst besizet, zu leiten.
Es kann gar wol geschehen, daß dem Redner in dem Feuer der Begeisterung, ohne daß er daran denkt, eine Periode von dem vollkommensten Numerus aus der Feder fließt; aber noch öfter wird es geschehen, daß sie unvollkommen ist, und erst durch Bearbeitung ihre wahre Schönheit bekommt. Zu dieser Bearbeitung aber wird Ueberlegung alles dessen, was zur Vollkommenheit des Numerus dienet, nothwendig. Es ist nicht genug, daß man empfinde, der Periode fehle noch etwas zum Numerus; man muß bestimmt wissen, was ihr fehlet, und wie es ihr zu geben ist. Man würde dem Redner einen schlechten Rath geben, wenn man ihm sagte, daß er im Feuer der Arbeit auf jede Kleinigkeit des Numerus acht haben soll; aber eben so schlecht würd es seyn, ihm die Aufmerksamkeit auf diese Sachen überall abzurathen. Bey der Ausarbeitung muß er allerdings Sorgfalt und Fleis auf den Numerus wenden; weil in der ersten Zusammensezung, da der Geist und das Herz allein mit der Materie beschäftiget sind, gewiß viel dagegen gefehlt, wenigstens viel versäumt worden, das mit einiger Aufmerksamkeit kann verbessert, oder ersezt werden.
Was wir von dem Numerus einzeler Perioden hier anmerken, läßt sich auf die Folge derselben anwenden. Denn es giebt auch einen Numerus, ein gefälliges Ebenmaaß, das aus dem Zusammenhang vieler Perioden entsteht; erst alsdenn, wenn auch dieses Ebenmaaß in allen Haupttheilen der Rede, folglich zulezt in dem Ganzen derselben beobachtet worden, ist sie das, was Cicero numerosam et aptam orationem nennt. Denn auch Herodotus, von dem alle Alten sagen, daß er den Numerus nicht gekennt habe, hat ihn doch hier und da in einzelen Stellen getroffen. Dem Redner könnte die Einrichtung eines vollkommenen Tonstüks zum besten Beyspiele einer Rede dienen, um ihr sowol in einzeln Theilen, als im Ganzen einen guten Numerus zu geben. Das ganze Tonstük besteht aus wenig Haupttheilen, oder Hauptabschnitten, die in Ansehung der Länge ein gutes Verhältnis unter sich haben. Jeder Haupttheil besteht aus etlichen Abschnitten, deren einige mehr, andre weniger Takte begreifen, ebenfalls in guten Verhältnissen der Länge oder Größe; die Abschnitte bestehen aus kleinen Einschnitten, bald von zwey, bald von drey oder vier Takten. Dieses dienet zum Muster des Ebenmaaßes. Denn herrscht im Ganzen nur ein Hauptton, der gleich von Anfange dem Gehör wol eingepräget wird. Jeder Haupttheil hat wieder seinen besondern Ton, der aber gegen den Hauptton nicht zu stark abstechen muß: in kleinern Abschnitten geht auch dieser, aber nur auf kurze Zeit, in andere Töne, davon die, welche sich vom Hauptton am meisten entfernen, nur kurz und vorübergehend vorkommen, so daß bey dieser Mannigfaltigkeit der Töne, der Hauptton doch immer herrschend bleibt. Die Haupttheile endigen sich durch vollkommene Cadenzen. Die Abschnitte mit Cadenzen, die das Gehör nicht so völlig beruhigen; die Einschnitte mit noch unvollkommneren, [827] oder weniger merklichen Cadenzen. Man hat nirgend mehr über den Numerus raffinirt, als in der Musik. Darum würde dem Redner die genaue Kenntniß der besten Einrichtung eines Tonstüks, die Beobachtung desselben sehr erleichtern.
Isokrates wird für den ersten gehalten, der seine Reden in Absicht auf den Numerus gut bearbeitet hat.3 Aber Gorgias, der älter, als jener war, beobachtet auch schon einen Numerus, nämlich den einfachen und kunstlosen, von dem wir oben gesprochen haben. Cicero scheinet diesen Punkt der Kunst aufs Höchste getrieben zu haben, und in seinen Reden findet man die vollkommensten Beyspiehle davon. Viel besondere und feine Bemerkungen über diese Materie findet man auch in Ramlers Uebersezung des Batteux, die hier nicht dürfen wiederholt werden, da sich das Werk in den Händen aller Kenner und Liebhaber der Poeste und Beredsamkeit befindet.
1 | Sunt - quidam oratori numeri observandi, ratione aliqua; sed in alio genere orationis; in hoc (subtili genere) omnino relinquendi. In Orat. |
2 | Man sehe zu mehren Erläuterung die Artikel ⇒ Einschnitt, ⇒ Ebenmaaß, ⇒ Glied, ⇒ Gruppe. |
3 | Qui Isocratem maxime mirantur hoc in ejus summis laudibus ferunt, qued verbis solutis numeros primus adjunxerit. |
Buchempfehlung
Im zweiten Punischen Krieg gerät Syphax, der König von Numidien, in Gefangenschaft. Sophonisbe, seine Frau, ist bereit sein Leben für das Reich zu opfern und bietet den heidnischen Göttern sogar ihre Söhne als Blutopfer an.
178 Seiten, 6.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
432 Seiten, 19.80 Euro