[95] Chirurgie (von Χειρ die Hand und εργον, das Werk) bezeichnet den Theil der Heilkunde, welcher besonders äußere und mechan. Heilmittel anwenden lehrt. Der instinktmäßige Hülfsversuch bei äußeren Körperverletzungen rief die C. als ersten Anfang der Heilkunst in das Leben. Schon in Homers Gesängen wird sie erwähnt. Die ursprünglich ganz einfachen Handgriffe und Mittel vererbten und erweiterten sich jedoch mehr handwerksmäßig von Person zu Person, wie von Ort zu Ort, und legten den Grund zur Zunft der Wundärzte und Bader, die jetzt nur noch als Hülfsdiener der Aerzte existiren. Erst beim Vorschreiten der inneren Heilkunde erlangte auch die C. eine wissenschaftliche Bearbeitung. Heut zu Tag verlangt man von jedem Chirurgen außer der künstlerischen Handfertigkeit, daß er ein vollkommen gebildeter Arzt sei. Die alten Aegyptier, Perser, Inder, deren Aerzte meistentheils zugleich Priester waren, haben keine großen Kenntnisse auf dem Gebiet der C. entwickelt. Aehnlich sind die Anfänge der griech. Arzneikunde; da der größte Theil der ursprünglichen Medicin Griechenlands Geheimlehre blieb, so ist bis auf die Zeiten des Hippocrates über den Zustand der C. so gut wie nichts bekannt. Von Hippocrates I., einem Zeitgenossen des Themistocles und Miltiades sollen die Bücher über Gelenke und Knochenbrüche herrühren. Von seinem Enkel, Hippocrates II., dem berühmtesten der Hippocratischen Familie, welchen man gewöhnlich unter diesem Namen versteht, soll das Buch über die Kopfwunden sein. In letzterem Buche wird bereits der Trepanitionsinstrumente Erwähnung gethan. Die Benützung der menschlichen Leichen zur Zergliederung unter den Ptolemäern in Alexandrien machte erst eine weitere Ausbildung der Heilkunst, insbesondere der chirurg. möglich. Unter den Operationen der Alexandriner ist hauptsächlich der Steinschnitt zu nennen. Philoxenus, dessen Bücher aber verloren gegangen sind, hat die chirurgischen Operationen zuerst einer eigenen Bearbeitung unterworfen; Galen erwähnt seiner. Die Verbandlehre wurde in Alexandria mit subtiler Genauigkeit und Wichtigthuerei gepflegt. Das vollständigste Werk des Alterthums über die C. seiner Zeit ist das noch vorhandene Buch de Medicina von A. Corn. Celsus (27 v. Chr.). Im 2. Jahrh. ist es besonders Claudius Galenus (150 n. Chr.), der uns Kunde von dem damaligen Zustand der C. gab. Er selbst übte sie (in Rom) nur wenig aus. Nach der Völkerwanderung und unmittelbar vor den Zeiten der arab. Medicin ist nur noch Paul von Aegina (640 n. Chr.) als berühmter Chirurge und Schriftsteller zu nennen. Durch die arab. Aerzte hat die C. nichts gewonnen. Die Lieblingsoperation der Araber war die Anwendung des glühenden Eisens. Im Mittelalter, selbst zur Zeit der Kreuzzüge machte die C. keine bedeutenden Fortschritte. Mit Stiftung des Collegium chirurgicum in Paris (1260) durch Pitard begann eine erfolgreichere Epoche. Der berühmteste Chirurge des 14. Jahrhdts. war Guy von Chauliac, anfangs Professor in Montpellier, später Leibarzt von Papst Urban V. in Avignon. Im 15. Jahrh. erhob sich ein Streit zwischen der Pariser Facultät und den gelehrten Wundärzten des Collegium chirurgicum. Aus Eifersucht und Rache nahm sich die Facultät der Baderzunft, welcher jede Operation durch Edict verboten war, an. Im Ganzen machte, trotzdem die Feuerwaffen erfunden waren, die C. wenig Fortschritte. Im 16. Jahrh. bereitete sich eine Vereinigung der Medicin und C. vor. Der berühmteste Wundarzt und eigentliche Reformator der C. war Ambrosius Paré (150990) aus Laval im Lande Maine, Leibwundarzt der Könige Franz II. u. Karl IX. von Frankreich. Insbesondere ist es die Behandlung der Schußwunden, die er von Grund aus änderte. Im 17. Jahrh. machte die C. insbesondere in Folge der vielen Kriege, namentlich in Frankreich, [95] erstaunliche Fortschritte, obgleich die äußere Stellung der Chirurgen noch eine niedrige war. Im 18. Jahrh. gewann die C. immer mehr an Ansehen und Ausbildung. Unter Ludwig XV. wurde das Collegium C. zu einer Akademie erhoben und der medicin. Facultät ebenbürtig erklärt. Neue Erbitterung entstand und dauerte, bis die Revolution von 1789 dem Streit ein Ende machte und die Facultät mit der chirurg. Akademie als zusammengehörige Theile vereinigte, wozu zuerst Franz Chaussier die Veranlassung gab. Wie Paré im vorigen Jahrh., so war Jean Louis Petit der berühmteste Chirurge und einflußreichste Lehrer im 18. Jahrh., geb. 1674, gest. 1760. Nach Petits Tod ging das Scepter der chirurg. Kunst auf P. J. Desault, Oberwundarzt am Hôtel Dieu in Paris, geb. 1744, gest. 1795, über. Von engl. Chirurgen des vorigen Jahrhdts. sind es Cheselden, Monro, Sharp, Bromfield und vor allen P. Pott, Hunter, Abernethy, Alanson, Hey, und die Bell. In Deutschland sind von dieser Zeit hauptsächlich Heister, Professor in Helmstädt (16831785), Schmukker, Theden und Mursinna, welche sämmtliche Militärchirurge waren, ferner Brambilla, Wundarzt des Kaiser Joseph II., v. Siebold, Klein, Zang, zu nennen. Zu Anfang dieses Jahrhdts. während der napoleonischen Kriege war Larrey der Oberfeldwundarzt der franz. Armee der berühmteste aller Chirurgen, allein zum dermaligen Höhenpunkte der C. hat unstreitig Dupuytren, gest. 1835, einer der genialsten Aerzte, das Meiste beigetragen. Bei den Engländern stand oben an Astley Cooper, in Deutschland Ruft und Langenbek der Vater. Während bis in dieses Jahrh. die C. vorzugsweise in Frankreich gepflegt wurde, so theilten sich in der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart Franzosen, Deutsche u. Engländer vielleicht zu gleichen Theilen in die Aufgabe der Ausbildung der C. Einige der berühmtesten Chirurgen der letzten Decennien sind Beer, Jäger, Rosas, Gräfe, v. Walther, Jüngken, Himly, Textor, Beck, Chelius, Wilhelm, Wutzer, Dieffenbach, Stromeyer, Langenbeck jun., in Frankreich Chopart, Roux, Blandin, Marjolin, Velpeau, Lisfranc, Civiale, Brechet, Lallemand, Jobert, Amussat, in England Lawrence, Wardrop, Gouthrie, Liston, Syme etc. Was in diesem Jahrh. der C. wie andern Künsten und Wissenschaften den größten Vorschub geleistet, war die Theilung der Arbeit. Dadurch, daß einzelne Männer sich mit der Augenheilkunde, Ohrenheilkunde, dem Ersatz verloren gegangener Hauttheile etc. abgegeben haben, wurden diese einzelnen Zweige der C. auf einen hohen Grad von Ausbildung gebracht, so daß, nachdem man früher in Folge der Entdeckung des Kreislaufes durch Harvey die geeigneten Mittel zur Blutstillung erlangte, nun nach Entdeckung der betäubenden Anwendung des Aethers und Chloroforms als Schmerz ersparendes Mittel die C. vor keiner irgend physiologisch möglichen Operation mehr zurückschrickt.