Amadísromane

[404] Amadísromane, eine Familie mittelalterlicher Ritterromane, die von Spanien aus sich über ganz Europa verbreiteten. Der Stammvater des zahlreichen Geschlechts und zugleich der beste aller A. ist[404] der »Amadis de Gaula«. Er bewegt sich in den Gleisen der Tristan- und der bretonischen Lanzelot- und Graalssagen, sowohl was den Schauplatz der Handlung als was die Charaktere und viele Einzelmotive betrifft. Wurzelt er in Volkssagen, so sind es sicher bretonische; doch wird er im allgemeinen als ein Gebilde willkürlicher Phantasie betrachtet, worin die Ideale des Mittelalters von Rittertum und Frauenliebe geschickt verkörpert sind. Als »Ritter- und Liebesspiegel« hat er jahrhundertelang bei allen Lesenden in außerordentlicher Gunst gestanden; ja es bedurfte des überlegenen ironischen Lachens eines Cervantes, um Hispanien und die übrige Welt vom Amadiskultus zu heilen. Doch läßt selbst Cervantes bei dem berühmten Autodafé von Don Quichottes Bibliothek dem besten aller Ritterromane Gerechtigkeit widerfahren und erweist ihm sogar die Ehre, seinen Helden und dessen Abenteuer zur hauptsächlichen Unterlage seiner parodierenden Nachahmung zu machen. Der Amadis de Gaula (für de Gales oder Gaules, d.h. aus dem britischen Wales, nicht von Gallien) ist ein ursprünglich portugiesisches Werk, das aber in der Urschrift nicht mehr vorhanden ist. Nur eins der kurzen Lieder, die dem Prosaroman eingefügt sind, hat sich in der Ursprache erhalten, und zwar in dem alten Liederbuch aus der Zeit des Königs Lom Dinis, das nach seinen Besitzern Cancioneiro Colocci-Brancuti genannt wird. Darin steht es als Werk eines Edelmanns João Lobeira (1278), dessen Enkel Vasco (1385) die Tradition es zugeschrieben hatte. Statt der Urschrift muß die spanische Bearbeitung des Romans dienen, die über ein Jahrhundert später (zwischen 1465 und 1490) Garcia Ordoñez de Montalvo lieferte. Der Held der Dichtung, Amadis (d.h. Ama-deus, wie der Text erklärt), ein Sohn des Königs Perion von Wales und der britischen Prinzessin Elisena, wird als heimlich gebornes Kind in einem Kasten ausgesetzt, von einem schottischen Ritter gefunden, unter dem Schutz einer Fee Urganda als Junker vom See auferzogen, kommt dann an den Hof, verliebt sich in Oriana, die Tochter des Königs Lisuarte von England, und besteht in ihren Diensten als Helfer und Kämpfer ihrer Anverwandten auf weiten Reisen in ferne Länder eine bunte Reihe von Abenteuern, zahllose Kämpfe gegen Ritter, Riesen, Zauberer sowie schwere Versuchungen. Die Erzählung seiner Taten und Leiden, oder richtiger die Verherrlichung seiner unerschütterlichen Liebe, bildet den Hauptgegenstand des gestaltenreichen Romans. Amadis ist gezeichnet als Muster jeder ritterlichen Tugend. Diesem rein und treu liebenden Idealisten steht sein Bruder Galaor als leichtfertiger und sinnlicher Materialist gegenüber, ein Gegensatz, der psychologisch vertieft ist und den Amadis zum eigentlichen Vorläufer des modernen Romans stempelt. Trotz zarter und ergreifender Stellen ermüdet das von den Ungeheuerlichkeiten der spätern Ritterromane ziemlich freie Werk durch seine Breite. In der ersten portugiesischen Fassung war es aber jedenfalls einfacher und einheitlicher, denn es umfaßte nur drei Bücher und führte den Helden bis zu seinem Ende. Montalvo erweiterte es zu vier Büchern und fügte später (1492) sogar noch ein 5. Buch eigner Erfindung hinzu, das die Geschichte des Esplandian, des ältesten Sohnes des Amadis und der Oriana, enthält. Nach ihm haben andre die Nachkommenschaft des Helden fast ins Unglaubliche vermehrt. Bereits 1526 kam ein 6. Buch mit der Geschichte des Florisando. sein es Neffen, bald darauf ein 7. und 8. Buch hinzu mit der Geschichte des Lisuarte von Griechenland, eines Sohnes des Esplandian, und der noch wundervollern des Amadis von Griechenland. eines Urenkels des walisischen Helden. Dann folgten Don Florisel de Niquea, Roger von Griechenland und Anaxartes, Sohn des Lisuarte, deren Geschichte mit der ihrer Nachkommen des letztern das 9., 10. und 11. Buch füllt. Ein 12. Buch, das 1549 gedruckt wurde, berichtet von Don Silves de la Selva. Ein 13. und 14. ist dem Lepolemo, dem schönen Leander und Penalva gewidmet.

Zugleich erfuhr der Roman zahlreiche Übersetzungen, Umarbeitungen und Fortsetzungen in fremden Sprachen. Auch Romanzen und dramatische Bearbeitungen blieben nicht aus. Die Tragikomödie von Gil Vicente ist die älteste und wertvollste. Gedruckt ward der Amadisroman vermutlich um 1500; die älteste noch vorhandene Ausgabe des Montalvoschen Textes ist von 1519. Im 16. Jahrh. zählt man weitere zwölf. Von neuern sind zugänglich der Abdruck in Rivadeneyras »Biblioteca de Autores españoles« (Bd. 40) und einer aus Barcelona (1847–48, 4 Bde.). Er war seit 1540 in französischer, seit 1546 in italienischer, seit 1619 in englischer, ebenso in holländischer Übersetzung vorhanden. Eine deutsche Übertragung (nach dem Französischen) erschien zu Frankfurt a. M. 1583; sogar von einer hebräischen wird berichtet. Dazu wurden die 12 Bücher des spanischen Romans in Frankreich bis auf 24, in Deutschland bis auf 30 erweitert. Zuletzt brachte ein Franzose, Gilbert Saunier Duverdier, zu Anfang des 17. Jahrh. die sämtlichen Teile in eine ordentlich zusammenhängende Reihenfolge, und mit seinem 7 dicke Bände starken Sammelwerk, das er unter dem Titel »Roman des romans« herausgab, gelangte die Geschichte des Amadisromans zum Abschluß. Eine freie poetische Bearbeitung des Stoffes hat der italienische Dichter Bernardo Tasso geliefert (»Amadigi di Francia«, 1559). In neuern metrischen Bearbeitungen versuchten sich Creuzé de Lesser (»Amadis de Gaule, poëme faisant suite aux chevaliers de la Tableronde«, Par. 1813) und W. Stewart RoseAmadis de Gaul, a poem in three books«, Lond. 1803); endlich lieferte der englische Dichter Southey eine Abkürzung des alten Romans (neue Ausg. 1872, 3 Bde.), in welcher derselbe allenfalls noch jetzt lesbar erscheint. Dagegen hat der mutwillige »Neue Amadis« von Wieland mit dem ältern nichts als den Titel gemein. Vgl. Baret, De l'Amadis de Gaule et de son influence für les mœurs et la littérature, etc. (2. Aufl., Par. 1873); Pages, Amadis de Gaule (das. 1868); Braunfels, Kritischer Versuch über den Roman Amadis von Gallien (Leipz. 1876), dessen These vom spanischen Ursprung des Amadis freilich hinfällig ist; Braga, Formacão do Amadis (Oporto 1878).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1905, S. 404-405.
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