Anschauungsunterricht

[556] Anschauungsunterricht, im ersten Jugendunterricht Übungen, die das Kind (nach Pestalozzi) bemerken und reden lehren. Dem sechsjährigen Kinde fehlt zumeist noch der zum Unterricht nötige Vorrat deutlicher Anschauungen, wie die Fähigkeit, aufzumerken und, was es wahrnimmt, klar auszusprechen. Es muß daher erst »bemerken und reden« lernen. Unter Leitung des Lehrers werden wirkliche Gegenstände oder passend gewählte Bilder methodisch betrachtet und besprochen. Unbekannte Wörter, Namen u. dgl. müssen dabei vom Lehrer, jedoch immer erst nach gewonnener Anschauung, gegeben werden. Von einzelnen Anschauungen und Vorstellungen wird vorsichtig zu Abstraktionen (Begriff, Art, Gattung, Urteil) vorgeschritten. Mancherlei Anwendungen auch auf das Gemütsleben, Würzung des Unterrichts durch kleine Sprüche, Lieder etc. ergeben sich dabei für den verständigen Lehrer von selbst. Das diesem A. zu Grunde liegende Prinzip führt auf Montaigne, Campanella und namentlich auf Bacon zurück, der, gegenüber der Methode der Scholastiker und der Humanisten des 15. und 16. Jahrh. (Verbalisten), die sinnliche Anschauung als das Fundament alles wissenschaftlichen Verfahrens (Realismus) bezeichnete. Dieses wissenschaftliche Prinzip Bacons hat zuerst, durch ihn wie durch Campanella,[556] Ratke u.a. angeregt, Johann Amos Comenius (s. d.) folgerecht auf den Unterricht angewendet. Seine Vorschrift für den ersten Unterricht lautet: »Nicht mit verbaler Beschreibung, sondern mit realer Anschauung muß man beginnen«; daher sein berühmter »Orbis pictus«. Für alle Stufen des Unterrichts verlangt er strengen Parallelismus der Sachen und der Wörter. Die Schulordnung Herzog Ernsts des Frommen von Gotha, verfaßt durch Andreas Reyher, führte diese Grundsätze in die deutsche Volksschule ein. Auch die Halleschen Anstalten Franckes und die Berliner Realschule (Hecker) pflegten in ihrer Art Anschauung und anschaulichen Unterricht. Weiter gingen Rousseau, Basedow, Rochow und namentlich Pestalozzi, der den »Denkübungen« der Philanthropisten und Sokratiker die Anschauung zur festen Basis und das Angeschaute als Inhalt gab. So entstand ein besonderer A. als propädeutischer Vorkursus für die Schule überhaupt. Dieser Unterrichtszweig hat seine eigne Geschichte und eine umfangreiche Literatur (Pestalozzis »Buch der Mütter«, »Wie Gertrud ihre Kinder lehrt« u.a.; v. Türk, Graßmann, Harnisch, Denzel, Graser, Diesterweg, Curtman, Völter etc.). Gegenüber manchen einseitigen Übertreibungen beschränkt die neuere Pädagogik sich meist auf die Forderung, daß Anschauungs- und Sprechübungen den ersten Schreibleseunterricht vorbereiten und begleiten, und daß jeder Unterricht (Rechnen, Naturkunde, Erdkunde etc.) in seinen Anfängen wesentlich A. sein und immer wieder auf Anschauung zurückgehen soll. In spracharmen oder zweisprachigen Gegenden, bei stark abweichender Mundart etc. kann aber die Schule gesonderten A. kaum entbehren. Die neueste Methodik verlangt auch für den fremdsprachlichen Unterricht das Ausgehen von einer Art A. und ist damit für die lebenden Sprachen (Englisch, Französisch) bereits durchgedrungen; weniger aus naheliegenden Gründen für das Latein.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1905, S. 556-557.
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