Engadin

[784] Engadin (rätoroman. Engiadina, Engadina), Bergtal im schweizer Kanton Graubünden, eins der höchstgelegenen bewohnten Täler Europas, von mehr als 80 km Länge, bildet die obere Talstufe des Inn und zerfällt in zwei völlig verschiedene Hälften: das Ober- und das Unterengadin, die durch die Puntauta (Pons altus) bei Cinuschel getrennt sind. Das Oberengadin, von der Paßhöhe des Maloja (1811 m), mit großartigen Hotels, bis Cinuschel (1616 m), wetteifert an Großartigkeit der Gebirgswelt und an Umfang der Gletschermassen mit den besuchtesten Alpengegenden. Die Trockenheit der Luft (Niederschlag 100–70 cm), verbunden mit kräftiger Insolation, verraten die Lärchen- und Arvenbestände besonders auf der rechten Talseite. Juli- und Januar-Mittel der Temperatur betragen +11 und -10°. Der herrliche Seenkranz, lohnende Bergtouren, eine wundervolle Flora, die Heilquellen von St. Moriz, stärkende Winterluft mit Schneesport locken große Massen von Fremden herbei. Durch die Albulabahn, die Samaden mit Chur verbindet, wurde 1903 der Zugang bedeutend erleichtert. Das Unterengadin, von Samaden abwärts (1616–1019 m) bis Finstermünz, ist enger, romantischer, tannenschwärzer, aber bereits für Roggenbau geeignet; das obere freundlicher, behäbiger.[784] Im Oberengadin liegen die Ortschaften in der breiten Talfläche und zeugen durch ihr schmuckes Aussehen von der Sauberkeit, dem Ordnungssinn und der Wohlhabenheit der Bewohner; die Dörfer des Unterengadin hängen an den Bergböschungen hoch über dem Inn und sehen weniger freundlich aus. In den waldigen Seitentälern hausen noch Bären. Für Botaniker und Entomologen ist das E. eine wahre Fundgrube. Auch an nutzbaren Mineralien (Galmei, Bleiglanz, silberhaltige Bleierze, Kupferkiese etc.) ist das E. nicht arm; aber noch größere Schätze sind die berühmten Mineralquellen von St. Moriz im Ober- und Schuls-Tarasp im Unterengadin. In politischer Beziehung bildet das Oberengadin (706 qkm mit [1900] 5400 Einw. in 11 Gemeinden) einen eignen Kreis im Bezirk Maloja mit dem Hauptort Silvaplana, das Unterengadin (1011 qkm mit 6284 Einw. in 12 Gemeinden) den aus den Kreisen Obertasna, Remüs und Untertasna bestehenden Bezirk Inn mit Schuls als Hauptort. Die kräftigen Bewohner, Rätoromanen, die vorwiegend das Ladinische, eine Mundart des Romanischen (s. Romanische Sprachen), reden, fast ausschließlich reformierter Konfession (Tarasp vorwiegend katholisch), wandern, wie überhaupt die Graubündner, häufig nach fremden Städten, hauptsächlich als Zuckerbäcker, Cafetiers oder Handelsleute; neuerdings haben sich ihnen durch den steigenden Fremdenverkehr daheim reiche Erwerbsquellen eröffnet. – Das Oberengadin, im 11. Jahrh. eine Grundherrschaft der Grafen von Gamertingen, ging 1139 durch Kauf an den Bischof von Chur über, der bereits die gräflichen Rechte darüber besaß. Vom 13.–15. Jahrh. lag die Regierung des Tales als Erblehen in der Hand der Ministerialenfamilie der Planta, die selbst, nachdem die Oberengadiner 1494 das Wahlrecht für das Landammannamt vom Bischof erkauft hatten, gewisse Vorrechte behaupteten. Auch im Unterengadin erwarb das Bistum durch eine Schenkung Kaiser Ottos I. (967) sowie durch anderweitige Vergabungen die grundherrliche Gewalt, geriet aber in endlose Streitigkeiten mit den Grafen von Tirol und deren Nachfolgern, den Herzogen von Österreich, welche die gräflichen Rechte über das Tal in Anspruch nahmen. Im Schwabenkrieg (1499) sowie im Veltliner Krieg wurde das Unterengadin von den Österreichern verheert und 1622 an Österreich abgetreten, jedoch schon 1624 zurückerobert. 1652 kaufte sich das Unterengadin von allen österreichischen Rechten los, mit Ausnahme der Herrschaft Tarasp, die erst 1815 an Graubünden kam. Vgl. Papon, Das E. (St. Gallen 1857); Lebert, Das E., seine Heilquellen, seine Natur und seine Bewohner (Bresl. 1861); Flugi, Die Volkslieder des E. (Straßb. 1874); Biermann, St. Moriz und das Oberengadin (2. Aufl., Leipz. 1881); Caviezel, Das Oberengadin (Führer, 14. Aufl., Samaden 1902); Derselbe, Das E. in Wort und Bild (das. 1896); Ludwig, Das Oberengadin in seinem Einfluß auf Gesundheit und Leben (Stuttg. 1877); Heer, Streifzüge im E. (2. Aufl., Frauenfeld 1899); Lechner, Das Oberengadin in der Vergangenheit und Gegenwart (3. Aufl., Leipz. 1900).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 5. Leipzig 1906, S. 784-785.
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