[734] Idealisieren heißt einen Gegenstand einer Idee oder einem Ideal annähern und bezeichnet eine geistige Operation, die oft im praktischen Leben ausgeführt wird, vor allem aber in der Kunst von höchster Bedeutung ist. Während das I. im Leben nur sehr begrenzten Wert hat und leicht zur Verkennung der Dinge führt, wodurch im besten Falle trügerisches Glücksgefühl, häufig aber Verwirrung und unhaltbare Zustände entstehen, kann die Kunst seiner unter keinen Umständen entraten; denn ihre Aufgabe ist es, die wirkenden Kräfte des Lebens in freier Betätigung und unbeeinträchtigt durch zufällige Hemmungen und Trübungen darzustellen: sie hört auf, Kunst zu sein, wenn sie sich auf eine mechanische Wiederholung der jeweils hervortretenden Lebenserscheinungen beschränkt. Ohne Idealisierung gibt es keinen Stil, ohne Stil keine Kunst. Auch der realistische Stil kommt ohne ein gewisses I., ohne Ausschaltung der belanglosen Nichtigkeiten des Lebens nicht aus. Wie es nun aber verschiedene Arten des Stils gibt, so gibt es auch verschiedene Arten des Idealisierens. Die niedrigste Form der Idealisierung besteht darin, daß die ästhetisch bedeutungslosen Erscheinungen des Lebens fern gehalten werden; bedeutungslos sind aber alle diejenigen Dinge, die das Gefühl des Auffassenden nach keiner Richtung in bemerkenswerter Weise erregen (s. Ästhetik, S. 898). Bei dieser niedrigsten Form des Idealisierens werden jedoch die zur Darstellung ausgewählten Lebenserscheinungen ohne beachtenswerte Erhöhung u. Veredelung wiedergegeben, insbes. wird auch eine reichere Entfaltung des Häßlichen (s. d.) nicht vermieden. Der Stil, der sich auf Grund dieser schwächsten Form des Idealisierens entwickelt, ist der naturalistische Stil. Eine Einschränkung des Häßlichen und hier und da eine leichte Steigerung und Erhöhung der dargestellten Lebensbilder läßt der realistische Stil, bei dem also der Prozeß des Idealisierens etwas stärker hervortritt, erkennen. Zu höchster Entwickelung kommt das I. jedoch erst in dem idealistischen Stil, für den eine durchweg gesteigerte Kraft der dargestellten Bilder und Vorgänge charakteristisch ist, dergestalt, daß einerseits das Schöne und Erhabene zu reichster Entfaltung gelangt, anderseits aber auch das Häßliche als bedeutsamer Kontrast, zumeist in der Form des in der Zerstörung sich geltend machenden negativ Erhabenen, hervortritt. So finden wir etwa den naturalistischen Stil in zahlreichen Erscheinungen der modernen Kunst, beispielsweise in mehreren Werken Gerhart Hauptmanns, den realistischen in vielen Partien von Goethes, Gottfried Kellers und Gustav Freytags Prosadichtungen, den idealistischen zumeist bei Shakespeare, in Goethes und Schillers dramatischen Meisterwerken etc. durchgeführt. Aber die Grenzen zwischen den verschiedenen Stilarten sind fließend, wie denn ein Künstler in ein und demselben Werke sich in bestimmten Partien enger, in andern weniger treu an die Wirklichkeit anschließen kann. Immer aber ist es seine Aufgabe, wenn er Künstler bleiben will, die von der wirklichen Welt dargebotenen Gegenstände nur als Material zu betrachten, aus dem er unter Berücksichtigung der dort waltenden Gesetzmäßigkeit bald in dieser, bald in jener Form eine neue, höhere Welt der Kunst auferbaut. Je deutlicher er die wirkenden Gesetze des Lebens erkennen läßt, und je tiefer und eigenartiger sich sein eigner Genius in der Erschließung der Gesetzmäßigkeit und in der Deutung der Rätsel des Lebens bekundet, um so reicher und wirksamer übt er die Kunst des Idealisierens aus.
Schon durch die Darstellungsmittel, deren sich die einzelnen Künste bedienen, ist eine Abweichung von der Wirklichkeit geboten, die zugleich der idealisierenden Tätigkeit des Schaffenden den Weg weist. Indem der Maler die seiner Phantasie sich darbietenden Gegenstände zumeist in verkleinertem Maßstab auf eine Fläche bringt und das Bild im Rahmen begrenzt, ist er genötigt, die augenscheinliche Entfernung vom wirklichen Leben anzuerkennen. Ebenso muß der Bildhauer auf die seinen Gegenstand umgebenden Dinge, auf die Bewegung, in der Regel auch auf die Farbe Verzicht leisten etc. Die Dichtung kann die äußern Dinge und Vorgänge nur für die Phantasie lebendig machen, und sie entfernt sich durch Wortwahl, Satzmelodie und Rhythmus von der gesprochenen Rede des Lebens. Die Musik, die fast ausschließlich auf Wiedergabe der auf- und abflutenden Affekte beschränkt ist und, auf Bild und Wort verzichtend, die Welt der Vorstellungen nicht oder höchstens andeutungsweise festzuhalten vermag, ist durch diese Schranken ihres Darstellungs gebietes zu einer noch weit größern Abweichung von der Wirklichkeit genötigt. Bei den freien Künsten der Ornamentik, Tektonik etc. kann dann endlich nur noch mittelbar von einer Wiedergabe des Lebens die Rede sein. Schon dieser Hinweis auf die Darstellungsmittel der Künste verdeutlicht die Kluft zwischen Kunst und Leben und läßt erkennen, wie berechtigt die Forderung des Idealisierens ist. Tiefer begründet wird diese jedoch erst durch die oben berührten Normen der ästhetischen Bedeutsamkeit und der ästhetischen Abtönung des Lebensgehaltes (s. Ästhetik, S. 898). Auch die dem Leben am nächsten stehende Kunst der dramatischen[734] Darstellung, in der sich die Wirkungen der Plastik, Malerei, Musik und Poesie, durch lebendige Menschen verkörpert, vereinigen, kann daher der Idealisierung nicht entbehren.