[871] Inspiration (lat.), Einatmung (im Gegensatz zu Exspiration, Ausatmung; s. Atmung, S. 53). In der Dogmatik bezeichnet man mit I. sowohl die übernatürliche Mitteilung von seiten Gottes an die Menschen durch den »Anhauch« seines Geistes als den eben hierdurch herbeigeführten gottbegeisterten Zustand des Menschen, also eine Art Seitenstück zum heidnischen Enthusiasmus (s. d.). Im Anschluß hieran heißt 2. Tim. 3,16 die Heilige Schrift Alten Testaments »gottgehaucht« (theopneustos), welches Wort die Vulgata durch inspiratus (daher das Substantivum inspiratio) übersetzt. Nachdem die Juden ihre heiligen Schriften gesammelt und mit dem Ansehen einer göttlichen Norm umgeben hatten, war es natürlich, auf dieselben auch den dem Altertum überhaupt geläufigen Begriff der I. zu übertragen, ja sogar die alexandrinisch-griechische Version des Alten Testaments (Septuaginta) unter die gleiche dogmatische Beleuchtung zu stellen. Gerade die alexandrinischen Juden hatten den Begriff der I. am strengsten ausgebildet, und ihnen schlossen sich wie die neutestamentlichen, so auch schon die ältesten kirchlichen Schriftsteller an, welche die Verfasser der biblischen Schriften mit einem musikalischen Instrument verglichen, das die von dem eigentlichen Künstler, dem Heiligen Geist, gewollten Töne hervorbringe. Nur einzelne Kirchenlehrer, wie Theodor von Mopsuestia, nahmen wenigstens verschiedene Abstufungen der einstweilen auch auf das Neue Testament ausgedehnten I. an. Auch Luther gestattet sich gelegentlich freiere Äußerungen über die I. einzelner biblischer Bücher. Dagegen ward von der lutherischen und reformierten Orthodoxie in der Polemik gegen die römische Kirche sowie gegen die Sozinianer und Arminianer die I. als unmittelbare Erleuchtung (s. d.)[871] gefaßt und auf eine Höhe getrieben, auf welcher der gesamte Inhalt, jedes Wort, zuletzt auch die hebräische Punktation, als vom Heiligen Geist eingegeben erschien. Die heiligen Schriftsteller waren demnach nichts weiter als »Notarien« des ihnen diktierenden Geistes. Je mehr sich freilich ein wissenschaftliches Verständnis der Bibel Bahn brach, desto weniger konnte der Begriff einer I., sofern er einen übernatürlichen Ursprung der biblischen Literatur aussagte, noch aufrecht erhalten werden, und so gilt heute wenigstens die eigentliche Wortinspiration fast allgemein als aufgegeben. Vgl. auf protestantischer Seite: v. Nathusius, Die I. der heiligen Schrift und die historische Kritik (Stuttg. 1895); Heine, Über die Zuverlässigkeit der heiligen Schrift (Essen 1896); Gennrich, Der Kampf um die Schrift in der deutsch-evangelischen Kirche des 19. Jahrhunderts (Berl. 1898); auf katholischer Seite: Leos XIII. Rundschreiben, Providentissimus Deus' vom 18. Nov. 1893; Leitner, Die prophetische I. (Freib. 1896); Chauvin, Die I. der heiligen Schrift nach der Lehre der Tradition und der Enzyklika, Providentissimus Deus' (deutsch von Pletl, Regensb. 1899); Hummelauer, Exegetisches zur Inspirationsfrage (Freiburg 1904).