[254] Jhering (spr. jēring), Rudolf von, einer der bedeutendsten Juristen der neuern Zeit, geb. 22. Aug. 1818 in Aurich, gest. 17. Sept. 1892 in Göttingen, habilitierte sich 1843 in Berlin als Dozent des römischen Rechts, ging 1845 als ordentlicher Professor nach Basel, 1846 nach Rostock, 1849 nach Kiel, 1852 nach Gießen, 1868 nach Wien, von wo er 1872 einem Ruf an die Universität Göttingen folgte. 1872 ward ihm vom Kaiser von Österreich der erbliche Adel verliehen. Der Einfluß, den J. in der zweiten Hälfte des 19. Jahrh. auf die Rechtswissenschaft geübt hai, läßt sich fast mit dem während der ersten Hälfte von Savigny geübten vergleichen; doch steht J. zu jenem Rechtslehrer vielfach im Gegensatz. Obwohl von der historischen Schule ausgegangen, auf deren Standpunkt er in seinen »Abhandlungen aus dem römischen Recht« (Leipz. 1844) noch steht, hat er sich später Aufgaben gestellt, die über die von dieser Schule der Rechtswissenschaft gesteckten Grenzen hinausgehen. Als Rechtshistoriker begnügte er sich nicht mit der konkreten Entwickelung der einzelnen Rechtsinstitute an der Hand der Quellen, sondern suchte in seinem (leider unvollendet gebliebenen) Hauptwerk, dem »Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwickelung« (Leipz. 185265, 3 Tle. in 4 Abtlgn.; mit Register 1878; 4. Aufl. 187888; Bd. 1 u. 2, Abt. 1 u. 2 in 5. Aufl. 189199; ital. von Bellavite), durch Aufhellung der den römischen Volksgeist konstituierenden allgemeinen psychologischen Faktoren einen tiefern Einblick in die Gründe der Entwickelung des römischen Rechts und des Rechts überhaupt zu gewinnen, so daß dies Werk nach des Verfassers Absicht zugleich als der »Versuch einer Naturlehre des Rechts« zu betrachten ist. Als Dogmatiker sucht er den rezipierten fremden Rechtsstoff durch volle Entfaltung auch seines verborgenern Inhalts allen Bedürfnissen des modernen Lebens dienstbar zu machen. »Durch das römische Recht über das römische Recht hinaus« ist die Devise der von ihm ausgehenden wissenschaftlichen Bewegung geworden. Dieses Ziel verfolgen zahlreiche größere und kleinere Abhandlungen Iherings in den von ihm im Verein mit Gerber gegründeten und bis zu seinem Tode geleiteten »Jahrbüchern für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts«, die gesondert erschienen sind als »Gesammelte Aufsätze« (Jena 1881 bis 1886, 3 Bde.). Bedeutendes Aufsehen, aber auch vielfachen Widerspruch erregten seine Schriften zur Besitzlehre (»Beiträge zur Lehre von Besitz«, zuerst im 9. Bande der genannten Jahrbücher, in 2. Auflage u. d. T.: »Über den Grund des Besitzschutzes«, Jena 1869; sodann: »Der Besitzwille. Zugleich eine Kritik der herrschenden juristischen Methode«, das. 1889; endlich der Artikel »Besitz« im 2. Bande des »Handwörterbuchs der Staatswissenschaften«, das. 1891), in denen er als Gegner Savignys auftrat. An Stelle bloßer Entwickelung aus Rechtsbegriffen, welches Verfahren er vielfach, besonders auch in seiner satirischen Schrift »Scherz und Ernst in der Jurisprudenz« (Leipz. 1885, 9. Aufl. 1904) als »unfruchtbaren Begriffskultus« angriff, fordert J. ein stetes Hervorkehren der realen Faktoren des Rechts. Mehr der Rechtsphilosophie als der Wissenschaft des positiven Rechts gehören an die kleine, geistvolle Schrift »Der Kampf ums Recht« (Wien 1872, 15. Aufl. 1903, in fast alle europäische Sprachen übersetzt) sowie sein zweites Hauptwerk: »Der Zweck im Recht« (Leipz. 187783, 2 Bde.; 4. Aufl. 1905, gleichfalls unvollendet), das sich zum Entwurf einer Phänomenologie der gesamten ethischen und sozialen Welt erweitert hat. Außer den vorstehend genannten hat J. noch folgende Schriften erscheinen lassen: »Zivilrechtsfälle ohne Entscheidungen« (Leipz. 1847; 10. Aufl. von Regelsberger, Jena 1904); »Der Lucca-Pistoja-Aktienstreit« (Darmst. 1867); »Das Schuldmoment im römischen Privatrecht« (Gießen 1867); »Die Jurisprudenz im täglichen Leben« (Jena 1870; 12. Aufl. von G. Detmold, 1903); »Das Trinkgeld« (Braunschweig 1882, 6. Aufl. 1901). Seine kleinern Arbeiten erschienen gesammelt als »Vermischte Schriften juristischen Inhalts« (Leipz. 1879). Aus seinem Nachlaß wurde von V. Ehrenberg herausgegeben die nur teilweise vollendete »Vorgeschichte der Indoeuropäer« (Leipz. 1894) sowie das Bruchstück einer »Entwickelungsgeschichte des römischen Rechts« (das. 1894). Iherings Schriften zeichnen sich durch eine glänzende Darstellung aus, deren Reiz in vollendeter Deutlichkeit und steter Anknüpfung des abstrakten an anschauliches [254] Denken liegt. Vgl. M. de Jonge, Rudolf v. J. (Berl. 1888); A. Merkel, Rudolf v. J. (Jena 1893); J. Kuntze, J., Windscheid, Brinz (Leipz. 1893).