Kunstseide

[819] Kunstseide, aus einer Flüssigkeit hergestellte Spinnfaser. Die Seide des Maulbeerspinners entsteht durch schnelles Erstarren eines dickflüssigen Sekrets, das in den Spinndrüsen der Raupe gebildet wird und unter Druck aus zwei seinen Öffnungen der Unterlippe austritt, wobei die Raupe durch Bewegungen des Kopfes zugleich einen Zug auf den sich bildenden Faden ausübt. Diesem Vorgang ist die künstliche Herstellung von Fäden nachgebildet. Jeder Flüssigkeitsstrahl hat die Neigung, sich in Tropfen aufzulösen. Die Stärke dieser Neigung ist abhängig von der Viskosität der Flüssigkeit und von der Natur des Mediums, in dem der Strahl fließt. Ein in eine Flüssigkeit einfließender Strahl zeigt geringere Neigung zur Tropfenbildung als ein in Luft sich bewegender. Diesen Umstand verwerten die meisten Kunstseideverfahren. Zur Fadenbildung ist außerdem erforderlich, daß die Flüssigkeit gerinnt, daß der erzeugte Strahl an der Oberfläche erstarrt, während das Innere noch flüssig bleibt. Wird dann ein Zug auf den sich bildenden Faden ausgeübt, so zerreißt die Haut in Ringe, der hervortretende noch flüssige Inhalt des Fadens bedeckt sich wieder mit einer Haut, die abermals zerreißt, und so entsteht ein Faden, der sehr viel geringern Durchmesser hat als die Öffnung, aus der die Flüssigkeit austrat. Chardonnet in Besançon arbeitete seit 1885 mit dickflüssigem Kollodium, das er unter starkem Druck aus Glasröhren von 0,08 mm Durchmesser austreten ließ. Die seinen Strahlen wurden in Wasser geleitet, das dem Kollodium Alkohol und Äther entzog und dadurch die Gerinnung bewirkte, die ein weiteres Ausziehen des Fadens ermöglicht. Später entdeckte Chardonnet, daß man mit Kollodium aus feuchtem Pyroxylin auch trocken spinnen kann. Die erhaltene stark glänzende K. (Nitratseide, Kollodiumseide) ist entflammbar wie Schießbaumwolle, verliert diese Eigenschaft aber durch Behandeln mit Schwefelammonium oder Schwefelnatrium und besteht dann wie Baumwolle aus reiner Zellulose (Zellulosehydrat) und läßt sich wie diese färben. Das Spinnen und Haspeln der K. erfordert besondere Maschinen; Strehlenert erfand eine Spinndüse, die nicht einen einzelnen Faden, sondern aus mehreren Löchern eine fertige Grège (s. Seide) liefert, die durch langsame Drehung der Düse eine gewisse Zwirnung erhält. Versuche, K. ausGelatine herzustellen, die in ihrer Zusammensetzung dem Fibroin der Seide viel näher steht als Zellulose, sind fehlgeschlagen. Dagegen ist es gelungen, aus mit Natronlauge behandelter Zellulose und Kupferoxydammoniak eine spinnfähige Lösung herzustellen, die man in verdünnte Schwefelsäure hineinspinnt. Man erhält eine schöne K. (Glanzstoff, Glanzseide), die der aus Kollodium dargestellten sehr ähnlich ist und wie diese aus Zellulosehydrat besteht. Das Kupfersalz wird aus der angereicherten Flüssigkeit wieder gewonnen. Nach einem andern Verfahren wird Zellulose in Form von Viskose verarbeitet; man verbindet sie mit Natron und behandelt sie dann mit Schwefelkohlenstoff. Dabei entsteht zelluloxexanthogensaures Natron, das eine äußerst schleimige und klebrige Lösung (Viskose) bildet. Wird diese Lösung in eine warme Lösung von schwefelsaurem Ammoniak hineingesponnen, so entstehen gallertartige Fäden aus saurem, zellulosexanthogensaurem Natron. Die Regeneration zu reinem Zellulosehydrat (Viskoseseide) erfolgt beim Trocknen und bei nachträglicher Behandlung mit verschiedenen Chemikalien und Bleichmitteln. Nitratseide und Glanzstoff stellt man aus Baumwolle und Abfällen (Kämmlingen), Viskoseseide aus Sulfit- oder Natronzellstoff dar. Einen wesentlichen Fortschritt in der Kunstseidenfabrikation bezeichnet die Anwendung von Zelluloseacetat, das bei großer Festigkeit höchst unempfindlich gegen Wasser ist und sich nur in Chloroform, verschiedenen Phenolen und Nitrobenzol löst (Acetatseide). Zur Darstellung des Acetats sind mehrere Verfahren angegeben. Sie beruhen im wesentlichen darauf, daß man Zellulose mit Essigsäureanhydrid, Eisessig und Schwefelsäure auf 40–50° erhitzt. Da das Acetat nicht verseift wird, so erhält man ungefähr das doppelte Gewicht der angewandten Zelle als Material für die Herstellung[819] der K., während bei Verarbeitung aller andern Zelluloselösungen höchstens die angewandte Menge von Zellulose als K. erhalten werden kann.

Gute K. besitzt etwa 1/5-1/3 der Zugfestigkeit bester chinesischer Rohseide, allein die seidenen Gewebe sind aus abgekochter Seide hergestellt, die viel geringere Zugfestigkeit hat, und beschwerte Seide, wie sie jetzt meist verarbeitet wird, übertrifft bisweilen kaum die K. an Zugfestigkeit. Im feuchten Zustand büßt die K. 65–70 Proz. ihrer Festigkeit ein, sie eignet sich daher nicht für Material, das dem Naßwerden ausgesetzt ist. Dagegen besitzt K. höhern Glanz als echte Seide, und sie wird daher namentlich zu Passementeriearbeiten, Borten, Litzen, Schnüren, Knöpfen, zu Mischgeweben, um gewisse Effekte hervorzubringen, zu Plüschen und Samt (als Flor), zu Stickereien etc. verarbeitet. Acetatseide hat große Vorzüge vor den andern Kunstseiden, sie eignet sich zur Herstellung zugfester, dauerhafter, gegen Feuchtigkeit ganz unempfindlicher Gewebe, Gurten, Riemen, Müllergaze, Filterstoffen, Sieben und mancherlei technischen Artikeln. Sie ist das beste Isolationsmittel für elektrische Leitungen. Man wird die Acetatseide aber auch in so starkem Faden herstellen, daß sie das Roßhaar und seine Surrogate, die Tillandsiafaser, Agave-, Sanseverien-, Aloefaser, Manilahanf etc. ersetzen kann. Schon jetzt kommt als »Meteor« eine außerordentlich glänzende Faser in den Handel, in der drei mäßig dicke Einzelfäden zu einer Grège vereinigt sind, die an Roßhaar erinnert, es aber in vieler Hinsicht erheblich übertrifft. Vgl. Süvern, Die künstliche Seide (Berl. 1900); Witt, Die künstlichen Seiden (in »Verhandlungen des Vereins zur Beförderung des Gewerbfleißes«, Berl. 1904).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 11. Leipzig 1907, S. 819-820.
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