Johannes [2]

[506] Johannes (der Evangelist), war der Lieblingsjünger Jesu und galt als das Ideal christlicher Liebe und Sanftmuth. Er war der Sohn eines wohlhabenden Fischers Zebedäus und der Salome aus Galiläa und Bruder des ältern Jakobus, mit dem er zugleich auf Jesu Ruf das Fischernetz verließ, nachdem er, wie es scheint, eine Zeit lang der Schüler Johannes des Täufers gewesen war. In der beständigen Nachfolge Christi wurde er von ihm unverkennbar ausgezeichnet, wovon jedoch der Grund mehr in seiner Fähigkeit, den Meister geistig zu fassen, als in seinem Temperament, namentlich seiner Sanftmuth, gesucht werden muß. An ihn, als den Vertrauten Jesu, wandten sich die Jünger bei der Einsetzung des Abendmahls, um des Verräthers gewiß zu werden. In der Leidensnacht stand er Jesu bei seiner Gefangennehmung zur Seite, folgte ihm in den Gerichtshof, trauerte unter seinem Kreuze und erhielt sterbend von ihm den Auftrag, für die Mutter Maria (s.d.) zu sorgen. Auch war er der Erste, der an den Auferstandenen glaubte und denselben den übrigen Jüngern verkündigte. Nach dem Abschiede Jesu von der Erde war er für die Verbreitung des Christenthums in Jerusalem thätig, wählte sich aber, als hier die Lage der Christen unsicher wurde, nach Einigen nach dem Tode Maria's, Ephesus, als Mittelpunkt der Gemeinden Kleinasiens, zum bleibenden Wohnsitz, wider Irrlehrer heidnischen und jüd. Stammes muthig kämpfend, mit christlicher Liebe Verlorene rettend und die Kirche zusammenhaltend, bis er am Ende des Jahrhunderts im hohen Greisenalter eines natürlichen Todes starb. Doch erzählt die Sage, daß er in Rom zum Märtyrertode in siedendem Öl verurtheilt worden sei, aber wunderbar gerettet, darauf in der Verbannung auf der wüsten Insel Pathmos habe leben müssen. Reich begabten Geistes und voll tiefen, kindlich reinen Gemüths, war dem I. die innigste Geistesgemeinschaft mit seinem hohen Meister eigenthümlich, in der sich ihm eine Gemüthswelt aufschloß, die, dem Zwiespalte des Diesseit und Jenseit, des Menschlichen und Göttlichen, überhoben, im freudigen Entzücken dem Anschauen des Ewigen und Himmlischen lebte. So erscheint I. in der Sage, nach welcher er seine Gemeinde immer mit den Worten anredete: »Kinder, liebet euch untereinander«, und noch mehr in seinen Schriften. Zu denselben gehören sein Evangelium weniger eine Erzählung des wunderbaren Lebens Christi in der Weise der drei ersten Evangelisten, als eine Verherrlichung seines himmlischen Wesens als Gottes Sohn, drei Briefe, von denen der erste an eine Gemeinde Kleinasiens, die beiden andern an einzelne Personen gerichtet sind, und die ihm streitig gemachte Offenbarung. Diese galt früher allgemein als eine Weissagung großer und wichtiger Ereignisse für alle Jahrhunderte. In dieser Voraussetzung suchten und fanden Christen aller Zeiten, welche die Einbildungen der Phantasie einem ruhigen und besonnenen Denken vorzogen, in derselben abenteuerliche Meinungen und wunderbare Aufschlüsse. Eine gebildete und vorurtheilsfreie Vernunft findet in diesem Werke eine mit prophetischer Begeisterung abgefaßte Schilderung des Sieges des Christenthums über das Heidenthum. Nach dieser Auffassung zerfällt die Dichtung in drei Acte, von denen im ersten der Fall Jerusalems oder des Judenthums, im zweiten der Fall Babylons oder des Heidenthums, im dritten das Herabsteigen eines neuen verschönerten Jerusalems, d.h. des Reichs Gottes (Christenthums) mit seiner Glückseligkeit vom Himmel auf die Erde dargestellt wird. Das Ganze ist im Geiste der orientalischen Dichtersprache abgefaßt mit geheimnißvollen, dem Daniel nachgeahmten Bildern. Der Annahme, daß I. der Verfasser dieses Buchs sei, steht die Gesinnung entgegen, welche sich in demselben ausspricht und welche dem milden und liebevollen Wesen des I. nicht gemäß ist.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1838., S. 506.
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