Naturwissenschaften

[247] Naturwissenschaften. Der zum Bewußtsein gelangte Mensch lernt bald seine innere geistige Welt von der äußern, der Natur unterscheiden, der er gleichwol von leiblicher Seite auf das innigste angehört. Indem er daher die Abhängigkeit der Körperwelt theilt, drängt ihn der Trieb der Selbsterhaltung und das angeborene Streben nach Kenntniß und Freiheit, zur Erforschung der Geheimnisse der Natur und je anhaltender er seine Aufmerksamkeit. ihr zuwendet, desto mehr fühlt er sich dafür belohnt. Die Natur selbst gibt ihm die Mittel an, ihre Kräfte für seine Zwecke zu verwenden und deren oft gefährliche Wirkungen unschädlich zu machen. Die Entdeckung der Eigenschaften eines unscheinbaren Steins lieferte ihm den Compaß zum Führer über das unabsehbare Meer, die Kraft des Dampfs machte den Seefahrer fast unabhängig von Wind und Wetter, versetzt den Menschen auf sein Gebot mit unerhörter Schnelligkeit von einem Ort zum andern und bewegt die gewaltigsten wie die kleinsten Massen. In die Tiefe des Meeres bringt uns ungefährdet die Taucherglocke, der Luftballon in die durchsichtigen Räume des Dunstkreises und dem unsere Wohnung bedrohenden Blitze selbst lernten wir einen unschädlichen Weg zur Erde anweisen. Geht nun daraus das erhebende Bewußtsein der Würde der Menschennatur hervor, so paart sich damit auch zu gleich die Auffoderung zur Bescheidenheit und Demuth, indem sich die Armuth alles menschlichen Wissens im Verhältniß zu der Aufgabe, welche die gesammte Natur dem Geiste zur Lösung darbietet und der erhabenen Weisheit gegenüber herausstellt, welche sich überall offenbart, wohin wir den Blick wenden. Darum bleibt es aber nicht minder anziehend und eine Quelle der schönsten Nahrung für unsern Geist, sowie von der höchsten Bedeutung für das Leben, die Natur so weit wie möglich zu ergründen. Zunächst führt dazu sinnliche Wahrnehmung oder Erfahrung und Beobachtung, durch innere Verknüpfung und wissenschaftliche Anordnung und Begründung der gemachten Erfahrungen aber gestalten sich die erworbenen Naturkenntnisse erst zur Naturwissenschaft oder einer Wissenschaft der Natur als Ganzes, welche jedoch in ebenso viele Zweige oder besondere Naturwissenschaften zerfällt, als die Natur sich in besondere Gebiete theilen läßt, die jedoch überall ineinander greifen und sich gegenseitig voraussetzen und in die Hände arbeiten. Faßt man zuerst die Natur als Universum ins Auge, wie sie den Weltraum mit Weltkörpern erfüllte und die durch ihre gegenseitigen Beziehungen als ein Weltganzes erscheinen, so haben wir es mit der Kosmologie oder Weltlehre, gilt es der vermuthlichen Entstehung der Weltkörper, mit der Kosmogonie zu thun, die Entfernungen der Weltkörper von einander und die Gesetze ihrer Bewegung, ihre Größe und überhaupt die Erforschung der Erscheinungen am Himmel ist Gegenstand der Astronomie oder Sternkunde (s.d.). Kommt dagegen, abgesehen von diesen die allgemeinen Verhältnisse des Weltgebäudes betrachtenden Wissenschaften, die nähere Beschaffenheit unserer Erde in Frage, so ist es die Geologie (s.d.), welche den Ursprung und die Veränderungen des Erdkörpers, sowie dessen äußere und innere Beschaffenheit im Ganzen und in einzelnen größern Theilen, folglich eine Naturgeschichte der Erde zu liefern sich bemüht.

Es ist nämlich die Aufgabe der Naturgeschichte, uns die Naturgegenstände zunächst nach Form und Gestaltung, sodann nach ihren wichtigsten Veränderungen von ihrer Entstehung bis zu ihrem Vergehen oder gleichsam ihren Lebenslauf, nach ihrer innern Einrichtung, wozu sie Anatomie und Chemie (s.d.) zu Hülfe nimmt, sowie nach ihren besondern und eigenthümlichen Eigenschaften kennen zu lehren. Aus diesen Merkmalen wählt sie die wesentlichen Kennzeichen aus, nach denen sie die fast unzählbare Menge der Naturgegenstände unterscheidet und in Hauptabtheilungen oder Classen, in Ordnungen, Familien, Gattungen und Arten zur Übersicht sondert. Die wissenschaftliche Aufstellung solcher übereinstimmender und unterscheidender Merkmale zur Anordnung der bekannten Naturdinge werden ein Natursystem genannt und Linné (s.d.) hat das Verdienst, das erste aufgestellt zu haben. Gegenstände für die Naturgeschichte können blos solche Naturdinge sein, deren Entwickelung wo möglich von ihrer Entstehung an durch deutliche Anschauung beobachtet werden kann oder die wenigstens menschlicher Forschung zugänglich sind. Sie ist daher auf den Erdkörper, so weit wir in denselben einzudringen vermögen (s. Geologie) und auf Das angewiesen, was sich an seiner Oberfläche befindet und dort wächst und lebt, wofür die Namen Naturalien und Naturproducte gebräuchlich sind. In besondern Räumen verwahrte Sammlungen von dergleichen, zur Aufbewahrung geeigneten oder dazu vorbereiteten Naturgegenständen, z.B. Schmetterlinge und andere Insekten, Muscheln, Steine, in Weingeist gesetzte oder ausgestopfte Thiere, getrocknete Pflanzen u.s.w., werden Naturaliencabinete und sind sie sehr umfänglich, naturhistorisches Museum genannt. Privatleute scheinen erst seit dem 16. Jahrh. dergleichen angelegt zu haben, jetzt aber sind wichtige öffentliche und Privatsammlungen von Naturalien in Europa nichtselten. – Schon von Alters her wurden die gesammten Naturerzeugnisse in die sogenannten drei Naturreiche, das Thier-, Pflanzen- und Mineralreich, abgetheilt und darnach zerfällt die Naturgeschichte in ebenso viele Haupttheile: in die Zoologie oder Naturgeschichte der Thiere, in die der Pflanzen oder die Phytologie [247] oder Botanik (s.d.) und in die Mineralogie (s. Mineralien), wozu noch die allseitige Naturgeschichte des Menschen, die Anthropologie (s.d.) kommt. Noch ist aber die Erforschung der Kräfte übrig, welche den Veränderungen der Naturdinge vorstehen und die Erkenntniß der Gesetze, daher Naturgesetze, welchen diese Veränderungen folgen oder nach denen die Körper aufeinander wirken. Diese Gesetze sind entweder allgemein gültige oder nur auf besondere Classen von Körpern anwendbare und in die zwei Hauptclassen, die der belebten oder organischen Natur, d.h. der Thiere und Pflanzen und die der unorganischen geschieden worden. Die erstern sind Gegenstand der Biologie (s. Leben), der Physiologie und Medicin (s.d.), die Aufsuchung und Feststellung der andern aber fallen der Naturlehre oder Physik anheim. Nun beruhen aber im Allgemeinen alle Veränderungen unorganischer Körper entweder auf bloßer Bewegung, d.h. Wechsel der Lage gegen andere oder ihrer Theile unter sich und dann ist die Erforschung der Gesetze dieser Bewegungserscheinungen Sache der sogenannten mechanischen Naturlehre oder Physik im engsten gewöhnlichen Sinne; treten dagegen Änderungen im innern Zustande des Körpers, also Stoff-und Eigenschaftsumwandlungen ein, wodurch wesentlich neue Körper entstehen, so ist es die chemische Naturlehre oder Chemie (s.d.), auch Stöchiologie oder Stoffwissenschaft, welche die dabei zum Grunde liegenden Naturkräfte zu ermitteln hat. Alle diese großen Abtheilungen der Naturwissenschaften haben wieder zahlreiche Unterabtheilungen als besondere Wissenschaften, und die Naturgeschichte der Thiere enthält z.B. so viel zoologische Wissenschaften, als das Thierreich Hauptabtheilungen. So behandelt die Mastozoologie oder Mammaliologie die Naturgeschichte der Säugthiere, die Ornithologie die der Vögel, die Ichthyologie die der Fische, die Entomologie oder Insektologie die Insekten, die Herpetologie die der Amphibien, die Helminthologie die der Würmer. Den höhern Vereinigungspunkt für alle von diesen Wissenschaften erlangte Erfahrungen und Naturkenntnisse gibt endlich die Naturphilosophie ab, die in ihrem Bestreben, den innern Zusammenhang des Sichtbaren nach Ursache und Wirkung und in höherer Beziehung zum Weltall aufzufassen, für alle jene Erscheinungen erst den rechten Sinn und die tiefer liegende Bedeutung im Verhältniß zum Ganzen zu finden sucht. Unvollkommene Grundzüge derselben finden sich schon bei den alten Griechen, in neuester Zeit aber hat sie nach ihrer Wiederherstellung durch Schelling (s.d.), vorzüglich von Oken (s.d.) ihre weitere Ausbildung erhalten. – Unter die allgemein verständlichen Schriften über das ganze Gebiet der Naturgeschichte gehören Blumenbach's »Handbuch der Naturgeschichte« (12. Aufl., Götting. 1830); Funke's »Naturgeschichte und Technologie« (3 Bde.; 6. Aufl., Braunschw. 1812); Löhr's »Gemeinnützige Naturgeschichte für Liebhaber und Lehrer« (5 Bde., Lpz. 1816–17, mit Abbildgn.), und Oken's »Allgemeine Naturgeschichte für alle Stände« (Stuttg. 1833, mit Abbildgn.).

Wer das Studium der Natur mit wissenschaftlichem Ernste betreibt, wird im Allgemeinen Naturforscher genannt, häufig aber noch von der einen oder andern vorzugsweise von ihm angebauten Naturwissenschaft, z.B. als Zoolog, Botaniker, Mineralog u.s.w. näher bezeichnet. Ein Verein deutscher Naturforscher und Ärzte, welcher jährlich im Sept. an wechselnden Orten Zusammenkünfte hält, welche das persönliche Bekanntwerden wissenschaftlich befreundeter Männer und die dadurch begünstigte Einleitung vertrauterer Verbindungen, sowie den Austausch von Ideen, neuen Entdeckungen und sonst Geeignetem bezweckt, wurde 1822 zu Leipzig von Oken (s.d.) gegründet. Von der nur geringen Zahl Gelehrter, welche in Folge seiner Einladung sich dort am 18. Sept. einfanden, wurden die Gesetze des Vereins abgefaßt, der ohne alle innere Verbindung nur während der jährlichen Zusammenkünfte besteht, an denen jeder ohne vorherige Wahl Theil nehmen kann, der sich mit Naturforschung oder Medicin wissenschaftlich beschäftigt, bei denen aber nur Schriftsteller in diesen Fächern stimmfähig sind. Der Ort der Zusammenkunft sollte jährlich gewechselt und jedesmal zwei an demselben Wohnhaften die Geschäftsführung durch Wahl übertragen werden. Die zweite Versammlung in Halle (1823) war nicht besuchter als die erste; die dritte fand 1824 in Würzburg, die von 1825 in Frankfurt a. M., von 1826 zu Dresden statt, wo zum ersten Male 151 Naturforscher aus allen Gegenden Deutschlands beisammen waren und der regelmäßige Wechsel der Versammlungsorte zwischen Nord- und Süddeutschland, sowie daß man immer einen Naturforscher und einen Arzt zu Geschäftsführern ernennen wolle, beschlossen ward. Die folgenden Versammlungen waren. 1827 zu München; 1828 zu Berlin, wo 466 Theilnehmer anwesend waren; 1829 zu Heidelberg 1830 zu Hamburg, wo sich 417 eingefunden hatten; wegen der Cholera fand 1831 keine Zusammenkunft Statt, sondern ward erst 1832 wieder zu Wien von 418 Mitgliedern gehalten. Im Jahre 1833 war Breslau, 1834 Stuttgart, wo sich 517 Theilnehmer einfanden, 1835 Bonn, 1836 Jena, 1837 Prag der Versammlungsort und für 1838 ist Freiburg im Breisgau dazu ausersehen.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 3. Leipzig 1839., S. 247-248.
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