Schelling

[67] Schelling (Friedr. Wilh. Jos. von), gegenwärtig wirklicher geheimer Rath, Vorstand der königl. Akademie der Wissenschaften, Professor der Philosophie und Conservator der wissenschaftlichen Sammlungen zu München, ist einer der ausgezeichnetsten neuern Philosophen. Er wurde 1775 zu Leonberg in Würtemberg geboren, studirte auf den Universitäten zu Tübingen, Leipzig und Jena und wurde hier 1798 außerordentlicher und 1803 ordentlicher Professor der Philosophie. Nachdem er später als Professor zu Würzburg dem jetzt regierenden Könige Ludwig von Baiern bekannt geworden war, wurde er 1808 Generalsecretair der königl. Akademie der bildenden Künste in München und ward in den Adelstand erhoben. Hierauf begab er sich 1820 nach Erlangen, um daselbst philosophische Vorlesungen zu halten, aber 1827 wurde er an die neu errichtete Universität zu München zurückberufen, wo er nun in immer zunehmender Anerkennung seiner Verdienste bis jetzt gewirkt hat. S. hat das große Verdienst, die Philosophie auf dem Wege, welchen sie durch Kant und Fichte in ihrer Entwickelung eingeschlagen hat, fortgeführt zu haben, indem er zugleich durch die tiefsinnigsten und geistreichsten Gedanken eine Menge neuer [67] Anschauungen in den verschiedensten Gebieten der Wissenschaft eröffnete, welche einen gewaltigen Umschwung, ja zum Theil eine wahre Revolution in denselben bewirkten. Indeß ist es S. doch nicht gelungen, in wissenschaftlicher Strenge den Fortschritt der Philosophie über Fichte hinaus darzustellen, welches vielmehr durch Hegel (s.d.) geschehen ist. Der Unterschied von denkendem Geiste und empfindendem Leibe, wie er an dem Menschen selbst auftritt, hat eine doppelte Richtung in der Philosophie zu Folge gehabt, indem man die Wahrheit und Wirklichkeit bald in der Welt des Geistes, bald in der des Körpers suchte, und demgemäß dort die Körperwelt, hier die Geisterwelt als einen bloßen Schein betrachtete. Idealismus nannte man die erste, Realismus die zweite der angegebenen beiden Richtungen. Schon Kant zeigte auf, daß sich sowol die eine als die andere rechtfertigen lasse, machte aber den Schluß, da dennoch die eine nur die richtige sein könne, indem sie die andere von sich ausschlösse, so folgte, daß wir überhaupt nicht im Stande wären, zu einer vollkommenen (absoluten) Erkenntniß der Wahrheit zu gelangen. In dieser Folgerung war die falsche Voraussetzung enthalten, daß der Realismus den Idealismus und dieser jenen schlechthin von sich ausschlösse, und es folgt aus dem Kantischen Resultate, daß beide Richtungen sich als richtig rechtfertigen lassen, vielmehr, daß das Reale und das Ideale nur scheinbar, nicht aber in Wahrheit unterschieden sind; oder: daß das Absolute die Identität des Idealen und Realen. Von dieser Grundansicht ging S. aus. Ihr gemäß sind auch der erkennende Geist und die Welt als Gegenstand der Erkenntniß identisch, wie denn der Proceß der Erkenntniß nichts Anderes ist als die Herstellung dieser Identität. So lange nämlich Das, als was der zu erkennende Gegenstand in meinem Geiste existirt, ein Anderes ist gegen Das, was er wirklich ist, habe ich ihn nicht erkannt, sondern das Werk des Erkennens ist eben die Aufhebung dieses Unterschiedes zur Identität. Nach dem angegebenen Grundgedanken der Schelling'schen Philosophie hat man dieselbe Identitätsphilosophie genannt. Nach ihr liegt im Absoluten (in Gott) die Möglichkeit des Unterschiedes zwischen Idealem und Realem, und indem sich das Absolute aus sich selbst nach diesem Gegensatze entwickelt, entsteht eine Welt von unendlichen selbständigen Dingen. Die Aufgabe der Philosophie ist nun eine doppelte, nämlich 1) das Ideale aus dem Realen abzuleiten und so das Reale nach seiner Wahrheit, welche die Identität mit dem Idealen ist, zu erkennen und 2) das Reale aus dem Idealen abzuleiten und das Ideale nach seiner Wahrheit, welche die Identität mit dem Realen ist, zu erkennen. Von diesen beiden Aufgaben ist es namentlich die erste, welche S. zu lösen unternommen hat. Hierher gehören seine Schriften: »Ideen zu einer Philosophie der Natur« (Tüb. 1795); »Von der Weltseele u.s.w.« (Hamb. 1798); »Erster Entwurf der Naturphilosophie« (Jena 1799). Der zweiten Aufgabe ist sein »System des transcendentalen Idealismus« (Tüb. 1800) gewidmet. Weil aber S. vorzugsweise jene erste Aufgabe bearbeitete, so hat man auch seine philosophische Lehre vorzugsweise als Naturphilosophie bezeichnet. Eine allgemeine Darstellung seines Systems unternahm S. in der »Zeitschrift für speculative Physik« (2 Bde., Jena 1800–1); dieselbe wurde aber abgebrochen und S. gab nun mehre Schriften über einzelne Gegenstände der Philosophie heraus, z.B. »Bruno, oder über das göttliche und natürliche Princip der Dinge« (Berl. 1802); »Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums« (Tüb. 1803; 3. Aufl. 1830), »Philosophie und Religion« (Tüb. 1804) u.s.w. Seit 1816, wo er eine Schrift »Über die Gottheiten von Samothrake« (Tüb. 1816) herausgab, hat S. kein philosophisches Werk mehr erscheinen lassen, aber wol haben er und seine spätern Schüler mehrmals bekannt gemacht, daß er selbst zu ganz andern und vollkommenern Resultaten gekommen sei und daß durch ein großes zu erwartendes Werk S.'s der Philosophie eine letzte und sie zur Vollendung der Erkenntniß abschließende Umbildung bevorstehe. Dagegen hat es aber allerdings, nach Dem, was bis jetzt von dieser neuen Schelling'schen Philosophie verlautet, den Anschein, als habe in derselben S. den Boden freier selbständiger Forschung und damit das eigentliche Gebiet der Philosophie gänzlich verlassen. Durch seine frühern Schriften wie durch seine akademischen Vorträge hat sich S. eine große Anzahl begeisterter Anhänger verschafft, welche auf dem von ihm eingeschlagenen Wege fortgingen, aber großentheils auch die Fehler der Schelling'schen Art zu philosophiren, den Mangel an streng wissenschaftlichem Denken, vorzugsweise ausbildeten und mehr mit Phantasie und Witz als strengem Denken und tüchtigen Kenntnissen im Gebiete der Naturphilosophie sich zu thun machten und dadurch bald in um so größerer Blöße erschienen, als die empirischen Naturwissenschaften überraschend schnelle und großartige Fortschritte in neuster Zeit gemacht haben.

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Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 67-68.
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