Styl

[324] Styl bezeichnet ursprünglich den Griffel, dessen sich die Alten zum Schreiben, d.h. zum Eingraben oder Eindrücken der Schrift in ein mehr oder weniger festes Material, bedienten, dann in übertragener Bedeutung zunächst die Schreibart. Wie die Geister individuell verschieden sind, so ist auch die Art, seine Gedanken in Wort und Schrift auszudrücken, individuell verschieden; wie aber alle Geister in ihrem tiefsten Wesen Eins sind, sodaß es nur Eine Wahrheit für alle gibt, welche ihr gemeinsames Lebenselement ausmacht, so gibt es im Grunde für den Geist auch nur Eine seiner und der Wahrheit würdige Ausdrucksweise. Wenn daher auch Jeder, der es sich zur Aufgabe macht, seine Gedanken auf eine allgemein verständliche Weise schriftlich auszudrücken, d.h. jeder Schriftsteller, gemäß der eigenthümlichen Ausbildung seines Geistes einen besondern Styl schreibt, so wird sich dieser doch in demselben Grade, in welchem der Schriftsteller selbst vermöge seiner Bildung sich zur Würde des allgemeinen Geistes erhoben hat, einer Allgemeingültigkeit und Vollendung der schriftlichen Darstellung nähern, welche als Ideal des Styls bezeichnet werden kann. Dieses wirklich zu erreichen, ist aber so unmöglich, wie daß je ein einzelner Mensch alle Schranken, welche zeitliche und örtliche Verhältnisse seiner geistigen Entwickelung entgegenstellen, vollkommen überwinde. Man kann es zum Gegenstande wissenschaftlicher Untersuchung machen, welche Ausdrucksweise dem Wesen des Geistes angemessen sei, und kommt dann zu Regelndes Styls, zu einer Theorie des Styls. Man sagt im Allgemeinen von einem schriftlichen Aufsatze, in welchem die wichtigsten dieser Regeln befolgt sind, zu denen noch gewisse andere Regeln kommen, welche sich auf äußere Gefälligkeit im schriftlichen Ausdrucke beziehen, daß er gut stylisirt sei. Schon aus dem Vorhergehenden geht hervor, daß der Styl, die Schreibart eines Schriftstellers, für dessen geistige Bildungsstufe im Allgemeinen und für die besondern Richtungen, die er in seiner geistigen Ausbildung genommen, charakteristisch sei; aber auch dies, daß sich der Styl eines Schriftstellers um so mehr von Eigenthümlichkeiten frei halten wird, je weiter und vollständiger sich dieser herausgebildet hat. Nicht nur aber von der geistigen Individualität, sondern auch von dem Gegenstande schriftlicher Darstellung, sowie von dem Zwecke derselben (dem Leserkreis, auf den man wirken will u. dergl.) ist der Styl abhängig, und wo die geistige Individualität des Schreibenden mit dem Inhalte des Schreibens in keinem nähern Zusammenhange steht, da nimmt der Styl eine feste, diesem Inhalte entsprechende Form an, wie der Kanzleistyl, der Geschäftsstyl. Wie die schriftliche Darstellung überhaupt in die beiden Hauptformen der Prosa und der Poesie zerfällt, so gibt es demgemäß auch zwei wesentlich verschiedene Gattungen des Styls; aber in der Prosa wie in der Poesie unterscheidet man, je nach dem Charakter des Styls inwieweit er denselben durch Gegenstand und Zweck erhält, eine niedere, mittlere und höhere Schreibart. Die Sprache ist aber nicht das einzige Ausdrucksmittel des Geistes, derselbe gewinnt durch jede Art von künstlicher Darstellung einen Ausdruck seines Daseins, seines Wesens, und so hat man denn auch in allen übrigen Künsten von Styl gesprochen. Die geistige Individualität der verschiedenen Völker, der verschiedenen Zeiten und endlich der verschiedenen Künstler drückt sich auch in den Künsten als besondere Arten des Styls aus. Wo der charakteristische Styl nur nach seinen äußern Merkmalen beibehalten, nicht mehr von der entsprechenden geistigen Individualität belebt ist, da artet er zur Manier aus, welches sehr häufig in den Schulen bei den Nachahmern großer Meister der Fall ist. Am augenfälligsten tritt die Verschiedenheit des Styls gemäß der geistigen Eigenthümlichkeit der Zeiten und Völker in der Baukunst auf; man vergleiche nur einen griech. Tempel mit einem gothischen Dome. Ganz Dasselbe ist aber in allen Künsten der Fall; aber in allen Künsten gibt es auch einzelne große Meister, einzelne Perioden, in welchen sich der Styl zu einer solchen Vollkommenheit und Unabhängigkeit von bestimmter endlicher Individualität erhebt, daß der gebildete Geschmack zu allen Zeiten zu demselben als Muster mehr oder weniger zurückgeht.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 324.
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