[372] Taubstummheit nennt man den Zustand, wo durch den Mangel des Gehörs zugleich auch das Vermögen zu sprechen verloren gegangen ist. Taubstumme sind also nicht der Sprache beraubt, weil, wie man sonst glaubte, ihre Zunge und sonstigen Sprachorgane fehlerhaft gebildet sind, sondern weil ihnen die Natur das Vermögen versagt hat, zu hören. Dieses Gebrechen ist meist angeboren oder doch in der ersten Zeit des Lebens durch Krankheit entstanden, oft ohne daß die Angehörigen des Kindes zur Zeit seines Entstehens eine Ahnung davon haben. Von welchen Störungen in den Gehörorganen die angeborene Taubheit abhängt, ist freilich noch wenig erforscht, indem man oft in der Organisation des Ohrs nicht die geringste Unregelmäßigkeit wahrgenommen. Oft aber hat man auch Organisationsfehler angetroffen, welche offenbar der Grund der Taubheit waren. Auch die angeborene Taubheit bietet verschiedene Grade dar. Bei dem geringsten, mildesten Grade derselben wird das Gesprochene noch verstanden, wenn die einzelnen Wörter langsamer und lauter als gewöhnlich gesprochen werden, auch hat dieser Grad noch keine unbedingte Stummheit zur Folge, allein das Kind spricht ebenso unvollständig, als es hört, und seine Geistesbildung bleibt ebenso unvollkommen wie seine Sprache. Merkwürdig ist, daß selbst ein Kind, welches erst im vierten oder fünften Lebensjahre taub wird, von da an auch wieder des vollkommenen Sprachvermögens beraubt wird, ja in gleichem Verhältnisse Rückschritte in geistiger Hinsicht macht. So unterscheidet sich die angeborene Taubheit noch anderweit. Manche hören nur eine kleine [372] Anzahl articulirter Stimmlaute, andere blos unarticulirte, noch andere nur starke Geräusche, die vollkommen Tauben aber gar nichts mehr. Leider gehört dieser letzten Classe von Taubstummen wenigstens die Hälfte aller dieser Unglücklichen an, denn in demselben Verhältnisse, in welchem der Gehörsinn stumpfer ist, wird auch die Stummheit immer vollständiger. Der Taubstumme bietet hinsichtlich seiner geistigen Entwickelungs- und Bildungsstufe, seines Charakters und seiner Leidenschaften Eigenthümlichkeiten dar, die von seiner vereinzelten Stellung mitten in der Gesellschaft abhängen. Im Allgemeinen verharrt er in einem Zustande halber Kindheit, hat wenige Wünsche, aber auch wenig Genuß, scheint weder einer dauernden Anhänglichkeit noch einer lebhaften Erkenntlichkeit fähig, bleibt jeder Nacheiferung fremd und ist sehr leichtgläubig. Indeß paßt diese Schilderung nicht auf alle Taubstumme, indem es einzelne unter ihnen gibt, weche sich durch einen hohen Grad von Bildung des Geistes und Herzens auszeichnen, während andere wieder in einem Zustande von Blödsinn verharren. Mag aber auch im Allgemeinen der Taubstumme tiefer stehen als andere Menschen, so ist er doch nichtsdestoweniger der Vervollkommnung fähig wie diese. Alles, was man bisher zur Heilung der Taubstummheit versucht hat, wie namentlich die Elektricität und der Galvanismus, energische Ableitungen durch Abführmittel und Hautreizungen, ferner die Durchbohrung des Trommelfells, Einspritzungen in den äußern Gehörgang und die Trommelhöhle u.s.w., ist ohne Erfolg geblieben. Nur letztere haben zuweilen eine vorübergehende Besserung des Gehörs zur Folge gehabt. Die wichtigste Aufgabe bei Behandlung Taubstummer ist, sie dadurch hören und sprechen zu lehren, daß man ihr Gehörorgan zum Gegenstande einer wirklichen Erziehung macht. Hier ist Übung die Hauptsache, von der freilich bei ganz Tauben die Rede nicht sein kann.
Der Taubstummenunterricht ist erst seit der Mitte des letzten Jahrh. Gegenstand sorgfältiger Pflege geworden, seitdem man Anstalten errichtet hat, in denen sich Lehrer den Unterricht der Taubstummen zum Lebenszwecke machten. Dieser Unterricht hat einen doppelten Zweck, einmal den, die Taubstummen über den Zustand thierischer Roheit, in welchen sie, sich selbst überlassen, mehr oder weniger versinken, zu erheben und ihnen einen gewissen Grad geistiger Bildung zu geben, dann den, sie zu nützlichen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft zu machen, indem man sie geschickt macht, mit den übrigen Menschen in geistigen Verkehr zu treten. Obschon beide Zwecke nahe miteinander verwandt sind, so ist man doch, je nachdem man den einen oder den andern mehr vor Augen gehabt hat, zu verschiedenen Methoden im Unterricht der Taubstummen gekommen. Die franz. Schule hat mehr die Absicht, für die geistige Entwickelung der Taubstummen zu sorgen, die deutsche mehr den Zweck, ihn zum Verkehr mit andern Menschen geschickt zu machen. Um sich Andern verständlich zu machen, bedienen sich die Taubstummen von selbst der Geberdensprache und sie bilden diese im Verkehr untereinander auf das Vollkommenste aus. Eine willkürliche Geberdensprache ist die Zeichen- oder Fingersprache (s.d.), welche jedoch beiweitem langsamer, und unbeholfener als die natürliche Geberdensprache ist. Dieselbe ist auch nicht geeignet, den Verkehr mit Andern zu erleichtern, da sie auf einem willkürlichen Übereinkommen beruht, und hat nur den Vorzug, daß sie, auf einer geringern Anzahl von Zeichen beruhend als die Geberdensprache, schneller als diese von Andern erlernt werden kann. Ist sie erst erlernt; so bildet die Schriftsprache das wichtigste Hülfsmittel zum Unterricht der Taubstummen. Das vollkommenste Mittel zum Verkehr mit Andern hat aber der Taubstumme erreicht, wenn es möglich ist, ihm die Lippen- und Tonsprache beizubringen, welche sich gegenseitig ergänzen. Die Lippensprache lehrt den Taubstummen, die einzelnen Buchstaben, so wie sie ausgesprochen werden, an der Bewegung des Mundes, besonders der Lippen, und an der ganzen Stellung der Gesichtszüge zu erkennen, während er durch die Tonsprache sich selbst wie jeder vollkommene Gesunde sich mitzutheilen in Stand gesetzt ist. Da bei den Taubstummen mit wenig Ausnahmen die Stummheit nur Folge der Taubheit ist, so ist es auch möglich, ihnen das Sprechen beizubringen, wenn auch nur mit großer Mühe in einem mehr oder weniger unvollkommenen Grade. Die Meisten, welche durch den Unterricht sprechen lernen, behalten eine eintönige und übellautende Stimme, doch kann man den Zweck des Unterrichts als vollständig erreicht ansehen, wenn diese Sprache nun allgemein verständlich ist. Die deutsche Schule hat nur die Einübung der Ton- und Lippensprache als höchstes Ziel des Unterrichts neben der geistigen Ausbildung fortwährend im Auge, während franz. Lehrer bisher meist der Ansicht waren, daß die Tonsprache stets nur in einem sehr unvollkommenen Grade erreicht werden kann, und daß bei Einübung derselben so viel Zeit in Anspruch genommen werde, daß darüber die geistige Ausbildung der Zöglinge versäumt werde. Indeß hat man in Frankreich auch bereits angefangen, den Taubstummen im lauten Sprechen Unterricht zu ertheilen. – Nachdem schon 1570 der span. Mönch Pedro de Ponce in Sahagun und später verschiedene menschenfreundliche Männer an mehren Orten Europas Taubstumme zu unterrichten unternommen, wurde die Erziehung dieser Unglücklichen zuerst durch die Bemühungen des franz. Abbé Charles Michel de l'Epée (s.d.) Gegenstand allgemeinerer Aufmerksamkeit. Er errichtete aus seinen eignen beschränkten Mitteln 1760 das erste Taubstummeninstitut, das erst nach seinem Tode 1791 zu einer Staatsanstalt erhoben wurde. In Deutschland nahm sich wenige Jahre später der als Cantor zu Eppendorf angestellte Samuel Heinicke der Taubstummen mit Glück an. Er hatte als Erzieher derselben sich einen ausgebreiteten Ruf erworben, als ihn der Kurfürst von Sachsen 1778 in sein Vaterland Sachsen zurückberief und ihn beauftragte, die noch zu Leipzig bestehende Taubstummenanstalt zu begründen, welcher er bis zu seinem Tode 1790 als Director vorstand. Seitdem sind fast in allen gebildeten Staaten Taubstummenanstalten errichtet worden. Es gibt davon in Asien 1, in Amerika 12, in Frankreich 30, in Italien 14, in der Schweiz 6, in Dänemark 2, auf den brit. Inseln 12, in Sachsen 2, in den östreich. Staaten 9, in Preußen 18, in Baiern 8, in Würtemberg 4 u.s.w., im Ganzen etwa 140. Am bekanntesten sind das königl. Institut zu Paris, das in Bordeaux, Lyon, Mailand, Gröningen, Kopenhagen, Schleswig, Bermondsey bei London, Edinburg, Claremont und das Connecticut-Asylum zu Hartford in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, sowie die deutschen Anstalten zu Leipzig, Wien, Berlin, München und Gmünd. Diese Anstalten reichen [373] noch beiweitem nicht aus, nur allen Taubstummen Erziehung zu Theil werden zu lassen, und ihre Vermehrung steht daher zu wünschen und zu hoffen. Nur in Dänemark erhalten alle Taubstummen hinlänglichen Unterricht, in Sachsen wird etwa der dritte Taubstumme erzogen, und in ganz Europa im Durchschnitt der siebente. Man hat daran gedacht, die Taubstummen in den bestehenden öffentlichen Lehranstalten zugleich mit den gesunden Kindern zu erziehen, oder doch neben denselben, indem man die Volksschullehrer für den Taubstummenunterricht ausbilden will. Indeß wird dieser Unterricht immer nur höchst unvollkommen sein können, da die Taubstummen eine große unausgesetzte Sorgfalt erfodern, wenn sie Fortschritte machen sollen, und die Volksschullehrer schon durch ihre Berufsgeschäfte zu sehr in Anspruch genommen sind, um sich Einzelnen so ausschließlich widmen zu können. Überdies ist es gerade der Umgang mit andern Taubstummen, welcher am meisten zur Bildungsfähigkeit der Taubstummen beiträgt, weil in demselben ihre geistigen Kräfte angeregt werden, während sie unter Gesunden sich in sich zurückziehen und dadurch, geistig verkümmern.
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