Volksbewaffnung

[622] Volksbewaffnung. Im Allgemeinen wird darunter jetzt eine solche Einrichtung der Streitkräfte eines Landes verstanden, daß denselben schon in Friedenszeiten jeder waffenfähige Bürger angehört und im Gebrauche der Waffen und den erfoderlichen militairischen Bewegungen regelmäßig unterrichtet und geübt wird, um bei von außen oder im Innern drohender Gefahr sogleich zur Vertheidigung des Gemeinwesens auftreten zu können. Solche Volksbewaffnungen bestehen gewöhnlich neben einem eigentlichen, stehenden Heere und dienen im Nothfalle zu dessen Verstärkung, im Frieden aber sollen sie die Erhaltung eines zahlreichen stehenden Heers unnöthig machen, dadurch im Allgemeinen den Staatsaufwand vermindern, auch wol Verkürzung der Dienstzeit im Heere bei allgemeiner Verpflichtung dazu (wie in Preußen), und den Gewinn aller jener geistigen und Körperkräfte für die Betriebsamkeit des Volks vermitteln helfen, welche beim vieljährigen Dienste in zahlreichen stehenden Heeren verkümmern und verloren gehen. Endlich liegt es auch in der Natur einer auf Volksbewaffnung wesentlich beruhenden Streitmacht, daß sie weit mehr vom Nationalgeiste und von wahrer Vaterlandsliebe beseelt und dabei weniger geneigt sein wird, den etwaigen ehrgeizigen Absichten eines Machthabers an ihrer Spitze zu dienen, als Heere von auf Lebenszeit oder doch für eine lange Reihe von Jahren eingereihter Soldaten, denen nur der Krieg eine Aussicht auf rasche Verbesserung ihrer beschränkten Verhältnisse eröffnet und deren ganze Beschäftigung im Frieden in der Abrichtung und Übung zum Dienste besteht. In sehr umfänglichem Sinne Volksbewaffnung ist die Miliz der Vereinigten Staaten von Nordamerika (s.d.), welche seit 1792 in der noch bestehenden Art organisirt ist. Neben einem stehenden, hauptsächlich auf Bildung von Offizieren berechneten Heere, von welchem ein Mann auf 2000 Einw. kommt, sind alle waffenfähige Bürger vom 18.–45. Jahre mit einigen Ausnahmen zum Dienst in der Miliz verpflichtet, welche ihre Ausrüstung von der Bundesregierung erhält. Auch das franz. Conscriptionssystem (s. Recrutirung) beruht auf der allgemeinen Verpflichtung zum Dienste für bestimmte Zeit im stehenden Heere, neben welchem die Nationalgarde als Volksbewaffnung im [622] engern Sinne besteht. Diese entstand während der ersten Bewegungen der franz. Revolution zur Abwehr der Gewaltthätigkeiten roher und verführter Haufen, wie der jener Hofpartei, welche keine Verbesserungen aufkommen lassen wollte, und stand schon damals in Paris unter den Befehlen von Lafayette. Die Umwälzungen der nächsten Jahre raubten ihr zwar vorübergehend den Charakter einer gesetzlichen, zum Schutze und Dienste der Bürger bestimmten, von der bürgerlichen Behörde abhängigen Volksbewaffnung, den sie jedoch 1797 einigermaßen wiedererhielt und nun verfassungsmäßig sowol unter Napoleon wie unter dem hergestellten Hause Bourbon fortbestand. Napoleon hatte sie während seiner auswärtigen Kriege zur Bewachung der Küsten und Grenzfestungen geschickt zu benutzen verstanden, und 1812, wo sie nach dem Alter in drei Abtheilungen formirt wurde, aus der ersten, welche sämmtliche nicht zum wirklichen Dienst im Heere berufene junge Männer von 20–26 Jahren umfaßte, 100 Cohorten zu 1000 M. für den wirklichen Dienst im Innern genommen, wovon sich 1813 auch viele bereit erklärten, außerhalb der Grenzen zu fechten. Da im Apr. 1827 die pariser Nationalgarde bei einer Heerschau die Entlassung des Ministeriums Villèle und Entfernung der Jesuiten foderte, wurde sie am 30. Apr. aufgelöst, trat erst während der Juliusrevolution von 1830 anfangs freiwillig wieder zusammen und Lafayette ward Oberbefehlshaber des ganzen Corps in Frankreich. Ein neues Gesetz gab ihr 1831 die Bestimmung zur Vertheidigung der constitutionnellen Charte und der von ihr verbürgten Rechte und Aufrechthaltung des Gehorsams gegen die Gesetze, zur Unterstützung des Heers bei Vertheidigung der Unabhängigkeit Frankreichs und der Unverletzlichkeit seines Gebiets. Sie besteht im ganzen Königreiche als ständige und mobile, die aus 20–30 Jahr alten Mitgliedern, welche von den Kammern oder einstweilen durch königl. Verordnung zum wirklichen Dienste berufen werden können und dann bei der Landesvertheidigung mit unter den Befehlen des Feldherrn stehen, während sonst die Nationalgarde den bürgerlichen Behörden und dem Minister des Innern untergeordnet ist. Dieser letztere Gesichtspunkt und die gesetzlich anerkannte Bedeutsamkeit als Beschützer der Verfassung geht freilich den in Deutschland bestehenden, der Volksbewaffnung beizuzählenden Einrichtung ab, wohin namentlich die allgemeine Dienstpflichtigkeit im Heere, dann bei der Kriegsreserve und endlich bis zum 39. Jahre bei der Landwehr, in Kriegszeiten noch bis zum 50. Jahre beim Landsturme in Preußen (s.d.) gehört. Auch in Östreich ist neben dem stehenden Heere mit seiner 14jährigen Dienstzeit eine Landwehr von 80 Bataillons eingerichtet und auch in Ungarn dauert nach 10jährigem Dienste die Landwehrpflichtigkeit fort. Auch in Baiern bestehen neben dem Heere, welches durch allgemeine Conscription ergänzt wird, bei jedem Regimente zwei Reservebataillons, welche aus den von der Linie Entlassenen gebildet sind und im Frieden ganz dem bürgerlichen Leben angehören, sobald sie aber zur Verstärkung des Heers einberufen werden, dessen Pflichten und Ehren theilen. Außerdem ist noch eine Landwehr vorhanden, welche im Frieden nöthigenfalls zur Erhaltung der innern Sicherheit, im Kriege zur Unterstützung des Heers innerhalb der Landgrenzen berufen werden kann. Ungefähr dieselben Zwecke haben auch jene Bürgerbewaffnungen, welche, nachdem schon während der Franzosenherrschaft ähnliche Institute bestanden hatten, unter den Namen von Bürgergarden oder Communalgarden bei den unruhigen Zeitumständen im J. 1830 in Sachsen, Kurhessen, Braunschweig vom augenblicklichen Bedürfnisse ins Leben gerufen und später gesetzlich anerkannt worden sind. In Sachsen ist jeder Bürger vom 20.–45. Jahr zum Dienste in der Communalgarde gehalten, welche sich ihre Offiziere selbst wählt und deren Angelegenheit in jeder Stadt von einem Ausschusse geleitet wird, zum Generalcommandanten aber den Prinzen Johann, Bruder des regierenden Königs, hat. In Braunschweig ward die Bürgergarde 1831, in Kurhessen 1832 gesetzlich eingeführt und hier steht ihr, wenigstens dem Wortlaute der Gesetze zufolge, noch die meiste Bedeutsamkeit hinsichtlich des Schutzes der Verfassung zu. – In den Niederlanden gibt es unter dem von den mittelalterlichen Bürgerwehren der Städte her beibehaltenen Namen der Schuttery ebenfalls eine Nationalmiliz, welche auf dem Grundsatze allgemeiner Verpflichtung zur Landesvertheidigung beruht. (S. Niederlān de.) Vorübergehende Volksbewaffnungen, welche sich nach erreichtem Zwecke der Abwehr von Angriffen oder Vertreibung fremder Bedrücker wieder auflösten, bildeten sich in neuern Zeiten 1703 in Tirol, in Frankreich zu Ende des vorigen Jahrh., in Deutschland 1799 unter dem Staatsminister Albini (s.d.), in Spanien gegen die Franzosen seit 1809; ebenso 1809 in Tirol gegen die Baiern, in Preußen und mehren deutschen Staaten 1813 gegen die Franzosen, und 1814 in Frankreich gegen die Deutschen und ihre Verbündeten, in Griechenland 1821, in Polen 1831, sowie später bei den Bürgerkriegen in Spanien.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 622-623.
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