Zigeuner

[801] Zigeuner (die). Dieses heimatlose Volk von höchst wahrscheinlich ind. Abstammung und schon in seinem Äußern und seiner Sprache bestimmt ausgeprägter asiat. Herkunft, zieht in Asien und auch in manchen europ. Ländern noch in mehr und minder zahlreichen Banden umher und ist nur hin und wieder an feste Wohnsitze gefesselt worden. Daß sie Nachkommen eines um 1400 durch Timur's Eroberungen zersprengten asiat. Volkes oder Stammes sind, scheint auch dadurch bestätigt, daß sie in verschiedenen Horden sich zu Anfang des 15. Jahrh. in Natolien, dann im östl. Europa, bald auch in der Schweiz und in Italien zeigten. Sie wußten anfänglich die Meinung zu erregen, daß sie aus Ägypten vertriebene Christen und aus dem gelobten Lande zurückkehrende Pilger wären und verschafften sich dadurch nicht blos gute Aufnahme, sondern auch Schutzbriefe, wie z.B. 1423 vom Kaiser Sigismund, machten sich aber auch später falsche, wohin einer gehört, welcher ihnen auf sieben Jahre freies Stehlen zugesichert haben soll. Von den bei ihrer Verbreitung durch Europa entstandenen Meinungen rühren die mancherlei Namen her, welche sie in westl. europ. Ländern führen. In Frankreich hielt man sie z.B. für vertriebene Hussiten und nannte sie davon Böhmen Bohémiens). Bei den Holländern heißen sie Heiden, in England aber Ägyptier (Gypsies), in Dänemark Tataren, in Spanien Gitanos (Schlaue). In Italien dagegen haben sie den Namen Zingari, in Ungarn Zigani und in Rußland, der Moldau und Walachei, sowie bei den Türken, also in den von ihnen zuerst betretenen europ. Ländern, wurden sie ebenfalls Tschingani, Zigani und Zingari geheißen, was wol ihrem ursprünglichen Namen am nächsten kommen wird. Auch gibt es am Indus noch ein Volk, Tschinganen genannt, dessen Sitten mit denen der Zigeuner Ähnlichkeit haben sollen. Sie selbst nennen sich Sinte, was auch an Sind, d.i. Indier, erinnert, in England auch Romeit-schal, d.h. Menschen vom Weibe geboren, und Pharao's Volk; jedenfalls erscheint aber die Ableitung des Namens Zigeuner von dem deutschen Zieh-Gauner als erkünstelt und unbegründet. Der erste Zug Zigeuner, welcher nach Deutschland kam, soll gegen 14,000 Köpfe gezählt haben und ward von einem Häuptlinge geführt, welcher Herzog in Kleinägypten genannt wurde. Auch später hatte jeder kleinere Trupp seinen Hauptmann, der bei den umherziehenden noch mit dem ältesten und angesehensten Weibe, der Zigeunermutter, eine gewisse Oberleitung führt. In England haben die dort lebenden, etwa 20,000 Zigeuner, zu deren Bekehrung eine besondere Missionsanstalt besteht, sogar einen sogenannten König, und 1836 ist einer derselben gestorben. Die Anzahl sämmtlicher Zigeuner in Europa schätzt man auf 700,000, wovon die meisten im südl. Spanien und in Ungarn, Siebenbürgen, der Türkei, in Rußland, in der Moldau und in der Walachei leben, wo sie aber zum Theil Leibeigene sind. In Deutschland und Frankreich kommen sie nur vereinzelt noch vor; am zahlreichsten hausen sie in den mildern Ländern Asiens, wie sie denn überhaupt dem gelinden Klima nachziehen, gegen die rauhe Jahreszeit am liebsten nur in Höhlen und Erdhütten sich zu schützen suchen, und selten mit Zelten versehen sind, sowie dem Aufenthalt in Wäldern und Einöden den Vorzug vor festen Wohnplätzen geben. Schon im 15. und 16. Jahrh. sachte man die durch ihre Betrügereien, Diebereien und als Bettler lästigen Fremdlinge im westl. Europa wieder zu entfernen, ohne jedoch zu gemeinsamen Maßregeln gegen sie zu schreiten, daher sie sich immer blos ins benachbarte Land zogen und zurückkehrten, wenn die Wachsamkeit gegen sie nachließ. Durch Maßregeln, um sie in Güte oder mit Strenge dahin zu bringen, sich feste Wohnsitze zu wählen und bestimmte Gewerbe zu treiben, ihre Kinder in die Schule zu schicken und zweckmäßiger zu erziehen, ist nur sehr langsam und blos theilweise etwas für ihre Gesittung erreicht worden. Am meisten scheint das noch in Ungarn, Siebenbürgen, Galizien und Dalmatien der Fall zu sein, wo sich einzelne Horden angesiedelt haben und Neubauern, Neuungarn, Neubanater zum Unterschiede von den herumziehenden sogenannten Lumpenzigeunern genannt werden. Die ansässigen treiben Gastwirthschaft, Pferdehandel, sind Schmiede, verfertigen allerlei Eisenwaaren, flicken Kessel und Pfannen, schnitzen Löffel, Quirle, Tröge aus Holz, treiben Handel mit Salz, Butter, Taback, sind bei den Goldwäschereien beschäftigt, machen Tanzmusik, [801] wie sie denn überhaupt viel musikalische Anlage besitzen, treten als Seiltänzer und Springer auf und treiben leicht Alles, wobei auf eine ihre Neigungen ansprechende Weise Geld zu verdienen ist.

Die Zigeuner sind meist von mittler Größe, schlank gewachsen, haben eine gelbbraune Hautfarbe, schwarze Haare und Augen, blendendweiße Zähne und die etwas heller aussehenden Frauen sind in jüngern Jahren oft sehr anmuthige Erscheinungen, allein auch in der Regel leichtfertige und schlaue Buhlerinnen. Sie sind oft Tänzerinnen, schlagen das Tamburin, singen und treiben im Alter das Wahrsagen, Kartenschlagen und der Art Betrügereien mehr. Das Ansehen der Männer ist meist abstoßend und in ihren Zügen spricht sich eine gewisse Scheu, außerdem Leichtsinn und eine Liebe zur Trägheit und Ungebundenheit aus, welche mit dem Hange zu Betrug und Dieberei ihrem Charakter hauptsächlich eigen sind. Muth besitzen sie nicht und wagen selbst nächtliche Einbrüche nur höchst selten und wo sie es ungefährdet können; dagegen entwickeln sie viel Schlauheit und Gewandtheit bei ihren Unternehmungen. So wenig umständlich es beim Schließen einer Ehe hergeht, so wenig genau wird es auch mit der ehelichen Treue gehalten, wenn Eins dem Andern nicht mehr zusagt, an ihren Kindern aber hängen sie mit einer solchen Zärtlichkeit, daß sie es nicht über sich gewinnen können, dieselben zu strafen und ihnen Alles zugestehen und zulassen. Ihre religiösen Gebräuche richten sich meist nach denen, welche in dem Lande vorherrschen, wo sie verweilen, und wie sie in der Türkei Mohammedaner, so sind sie in Siebenbürgen, Ungarn, Spanien äußerlich Christen, aber ohne sich irgend um Begriffe und Unterricht von geistlichen Dingen zu kümmern. Nicht selten ist es vorgekommen, daß sie Kinder an verschiedenen Orten haben wiederholt taufen lassen, um dadurch mehrmals Pathengeschenke einzunehmen. Die Männer sind meist nur mit Hemd und Beinkleidern von blauer oder rother Farbe, manchmal noch mit einem breitrandigen Hute oder einer Mütze bekleidet; die Frauen tragen Rock, Corset und gern sehr breite, mit bunten Zacken und Schnuren verzierte Schürzen, an den Füßen höchstens Sandalen und etwa ein buntes Tuch um den Kopf. Die Kinder sind selten vor dem zehnten Jahre mit irgend einer Hülle versehen. Dies gilt jedoch nur von den wandernden Zigeunern, denn bei den angesiedelten wird viel auf Kleider gehalten. Branntwein und vor Allem Taback rauchen und kauen gehört zu den größten Genüssen beider Geschlechter. Zur Nahrung dient ihnen alles einigermaßen Genießbare und für Zwiebeln und Knoblauch theilen sie die Vorliebe der Morgenländer. Von Fleisch ist ihnen Alles recht, und Hunde, Katzen, Ratten und Mäuse, selbst gefallenes Vieh wird von ihnen verzehrt. Ja in Ungarn sind zu Ende vorigen Jahrh. sogar Zigeuner beschuldigt worden, Menschenfleisch gegessen zu haben und deshalb hart bestraft worden, jedoch ohne daß es ihnen bewiesen werden konnte. Zu den Geräthschaften der Zigeuner gehört außer Kessel, Pfanne, Töpfen, Schüsseln und Löffeln auch nothwendig ein silberner Becher und die Wandernden halten auf ein Pferd oder einen Esel, um diese und etwaige andere Habe fortzuschaffen; gern führen sie auch ein Schwein bei sich. In Ungarn und Siebenbürgen machen sie die Abdecker und Henker (wovon die verworfenste Classe auch Henkerzigeuner genannt worden ist), als welche letztere sie vordem in ganz Europa häufig verwendet wurden. Die Sprache der Zigeuner ist mit mehren indischen nahe verwandt, während des langen Aufenthaltes unter den Bewohnern Vorderasiens und Europas sind aber Wörter und Formen aus fast allen daselbst vorkommenden Sprachen darin aufgenommen worden.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 801-802.
Lizenz:
Faksimiles:
801 | 802
Kategorien:

Buchempfehlung

Droste-Hülshoff, Annette von

Ledwina

Ledwina

Im Alter von 13 Jahren begann Annette von Droste-Hülshoff die Arbeit an dieser zarten, sinnlichen Novelle. Mit 28 legt sie sie zur Seite und lässt die Geschichte um Krankheit, Versehrung und Sterblichkeit unvollendet.

48 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon