Shakespeare, William

[224] Shakespeare, William. Nicht länger vermocht' es Orpheus, der thrakische Sänger, seine heiße Sehnsucht nach Eurydicen zu ertragen. Wohl lächelten die Blumen, der Himmel und die Fluren wie sonst; melodisch ertönten die Saiten seiner Lyra, und bei seinem sanften Klagliede bewegten sich die starren Felsen voll heißen Mitgefühls, wie ehemals. Aber die Liebe mit ihrer Strahlenkrone warf ihren Himmelsabglanz nicht mehr in die Mährchenwelt des Sängers; ihm fehlte das treue Weib, das wahre Glück, ein liebendes Herz, welches liebend seine Lieder verstand, liebend alle die Sonnen seines Geistes belebte. Und er ergriff die Laute und sang ein banges Schmerzenslied in die Mitternacht hinaus, daß selbst der rauhe Orkus weinte, und die bleiche Göttin, die freudlos mit dem finsteren Gatten in der Nacht der Nächte thront, ihm die Pforten öffnete zu des Orkus schwarzen Flüssen, um die Verlorene noch einmal mit auf den lächelnden Tag der Mutter Erde zu nehmen. Aber ach! schon folgt sie ihm, schon erglänzt von fern das Licht der Erdensonne: da vermag er's nicht länger, die Qualen seiner Sehnsucht zu ertragen; Proserpina's Verbote zuwider sieht er sich nach der Geliebten um, – und sie verschwindet für immer zurück unter[224] die bleiche Larvenschar des nächtlichen Gefilds. Nun sitzt er einsam in der Mitternacht unter den Blumen seiner Heimath und singt die alten Lieder, wie von einem süßen Traume befangen; aber dazwischen klirren die Ketten des Tartarus hindurch; grauenhafte Gespenster umwirbeln seinen Scheitel; Wahnwitz, gebrochene Herzen, die Inseln der Seligen, Alles, was er sah, eilt noch einmal vor seinen inneren Blicken vorüber; und er klagt und seufzt, – bis ihm das Allerheiligste des mitternächtlichen Schweigens kund wird, bis stolz und gewaltig sich das Verständniß und die Kraft aus den Thränen losringt, und er heilig zuckend und zitternd durch alle Nerven, aus den tiefsten Tiefen der Brust in einen herz- und sinnberauschenden Jubelgesang ausbricht auf das große gigantische Schicksal, welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt!... Dieß ist der Dichtergesang William S's, Albions Orpheus, des größten Dichters unter allen germanischen Nationen, eines himmelstürmenden Titanen, der auf den Ossa des furchtbaren Geschicks den Pelion seiner Kunst thürmt, während sich über beide versöhnend der reine Himmel ausbreitet mit allen seinen Sternen. An der Hand des Virgil wandelte der unsterbliche Dante durch alle Reiche der Ober- und Unterwelt, und schrieb dann, des Gottes voll, seine göttliche Komödie: – S. konnte die ganze göttliche Komödie seinem eigenen Innern entweben; seine Brust barg Himmel und Erde mit allen ihren Thränen und Jauchzen, Sehnen und Genießen, Wonnen und Schauern: – und wie sich in dem kleinen Rahmen des Auges der ganze Horizont mit seinen Sonnen spiegelt, so war sein Herz im engsten Raume ein treues Abbild des großen Weltenherzens, welches allmächtig über dem Chaos waltet, durch alle Adern des Universums pulsirt und den süßen Traum webt von Leben und Liebe, auf daß Alles lebe und liebe auf den Erden! So nur konnte S. aus einem Dichter seines Volkes, aus dem Lieblinge seiner Zeitgenossen, der Dichter aller Nationen, der Liebling aller Zeiten werden. Und wer nur staunend weilt vor den Giganten seiner Tragödien, wer zurückbebt[225] vor den gewaltigen Tiefen seines Geistes, vor dem furchtbaren Abgrunde seiner Schöpferkraft, – der werfe einen Blick in das Allerheiligste seines Liebegemachs, wo Othello ruht an Desdemona's Brust, wo Julie ihren Romeo küßt, und erbebe dann süß und innig vor diesem wunderbaren Zaubergarten. Gleich vorzüglich in dem Ernste des Trauerspiels, wie in dem scherzenden Humor der Komödie, entgeht seinem durchdringenden Geiste nichts, was auf irgend eine Art das Interesse einer Situation vermehren könne. Kein anderer Dichter versteht es so wie er, die Charaktere scharf zu zeichnen und sie bis an's Ende so meisterhaft durchzuführen. Benehmen, Sprache, Sitten, Anspielungen gehören jedesmal einer besonderen Klasse in einer besonderen Zeit an; der eigenthümliche und dramatische Charakter, welcher die Grundlage bildet, ist stets in seiner ganzen Individualität scharf begrenzt, und gehört, da er jederzeit der Natur entnommen ist, auch immer jedem Zeitalter an. Mit vollendeter Weisheit, mit der kräftigen Besonnenheit eines echten Künstlers ordnet er eine Persönlichkeit der anderen unter, ohne ihnen auch nur das Geringste von ihrer Wirkung zu entziehen; er ist, wie Göthe so schön sagt, eine Uhr mit krystallenem Zifferblatte und Gehäuse, welche die Stunden richtig weist und zugleich das innere Getriebe wahrnehmen läßt, wodurch dieß bewerkstelligt wird. Jene Wahrheit und Kraft, jene wunderfeinen, kunstreich eingewebten Anspielungen und Bemerkungen, jene Anmuth und Treue, mit der er die Sitten, Parteiungen und bürgerlichen Kriege vergangener Zeiten zu malen weiß, machen uns seinen Richard III.. Heinrich VI, Heinrich VII. Heinrich III., etc. zu bewunderungswürdigen Gestalten voller Wahrheit und Leben, und es war zugleich die tiefste Kenntniß des weiblichen Herzens in Haß wie Liebe, in seinem Glauben und Ahnen wie in seinem Lächeln und Schmollen erforderlich, um eine Lady Macbeth, eine Cordelia, eine Ophelia in so feenhaften und doch lebensgetreuen Umrissen mit Meisterkraft zu entwerfen. Zum Glück für die Weltliteratur war die Zeit, in welcher[226] der Dichter für das Theater schrieb, eine für das dasselbe äußerst zünftige, indem England unter Elisabeth's Regierung von den langwierigen und blutigen Bürgerkriegen ausruhte, und die Königin selbst die Luft an Vergnügungen und Schauspielen weckte. S. konnte es, Elisabeth's despotischer Regierung ungeachtet, wagen, seine Schöpfungen ohne Scheu zu gestalten und rücksichtslos Hof und Adel zu zeichnen: – mit den grellsten Farben malte er die Tyrannei und Verschwendung Heinrich's VIII., des eigenen Vaters der Königin. – So ragt der Titane S. aus der grauen Ferne der Vorzeit bald lächend, bald dräuend herein in die kleine Gegenwart, und mahnt uns, wenn wir seine Sendung begriffen, seine Sendung zu erfüllen: vom falschen Regelzwange zur Wahrheit und Natur zurückzukehren, die Schlange zu ersticken, die den Genius umschnürt, mit der reinen Priesterbinde der Kunst die göttliche Natur zu ziehen, und auf den durch ihn zertrümmerten Altären fürder keiner Aftermuse zu huldigen. Fehler, die man an seinen Meisterwerken findet, wie eine incorrecte Sprache, zuweilen Schwulst, gesuchte Vergleiche und Anspielungen etc., sind Fehler seines Zeitalters; und darum ist er noch jetzt der geharnischte Geist, welcher, wie eine Heldengestalt aus einer fernentlegenen Welt über die Breter hinweggeht, um die gemeinen Larven zu verscheuchen und die oft entweihte Bühne zum würdigen Sitze der alten Melpomene umzuwandeln. – Bevor S. zur dramatischen Dichtkunst überging, hatte er schon eine ziemliche Anzahl Sonette und andere größere Gedichte, wie: »Venus und Adonis,« »Lucretia,« geschrieben, die sich durch ihren Reichthum an gewählten Bildern, durch Witz und ihren edlen, fast zu gefeilten Styl auszeichneten. Allein gleich bei dem ersten Besuche des Theaters wurde er sich des hohen Berufes für die dramatische Poesie bewußt, und es sind 36 unangefochtene von ihm zwischen 1591–1614 gedichtete Dramas, welche die Fülle seiner dicherischen Gestalten für alle Zeiten bewahren. Als Lustspieldichter vereinigt er die tiefste Ironie mit dem glänzendsten Witze, und die [227] Poesie der komischen Charaktere mildert bei ihm nicht die komische Wirkung, sondern erhöht sie noch; auch bewegen sie sich nicht bloß in der bürgerlichen und häuslichen Sphäre der gewöhnlichen Komödie, sondern athmen alle den Geist einer innerlichen Urpoesie und spielen oft magisch in die wunderbare Mährchenwelt hinüber. Ein blendender Humor mit einem oft allerliebsten Anfluge von Uebermuth und Ungezogenheit und einem zuweilen etwas pikanten Beigeschmack einer mehr niedrigen, aber volksthümlichen Laune, ist stets über das Ganze ausgebreitet, und Lustspiele, wie »die beiden Edelleute von Verona,« »die gezähmte böse Sieben,« die »lustigen Weiber von Windsor« mit dem unübertrefflichen Falstaff etc., werden stets Muster der Komik bleiben. Mit fast übermenschlicher Kraft schuf er als Tragiker die liebeheiße Waldnacht von »Romeo und Julie« mit ihren tausend Nachtigallen, den Liliengarten seines »Othello« wo der Gluthwind Afrika's die schönste Lilie zerknickt; das Nebelbild »Hamlet« mit seinem träumerischen Weben vom Sein und Nichtsein; den »Lear« und das Nachtgespenst »Macbeth« mit allem Ringen, Zagen und Trotzen der Schuld; diese fünf Riesentragödien – ein Sternenmantel, der königlich die Schultern des Dichters umwallt, ein Gürtel von Orionen, ein Schmuck, um den ihn die Unsterblichen beneiden! – William S. wurde am 23. April 1564 zu Stratford am Avon in der engl. Grafschaft Warwick geboren. Sein Vater, John S., war früher Schlächter, dann Wollhändler. Seine früheste Bildung erhielt er in einer Elementarschule. In seinem 18. Jahre heirathete er Anna Hatway, welche, um 8 Jahre älter als er, die Tochter eines Landmannes war und ihm 3 Kinder schenkte. Um der Rache eines Barons zu entgehen, in dessen Forsten er zur Nachtzeit gejagt und dessen Person er in einem Gedichte lächerlich gemacht, flüchtete er 1586 nach London. Hier war er, wie es heißt, Anfangs genöthigt, an den Thüren der Theater während der Vorstellungen die Pferde der Vornehmern zu halten. Einige Jahre später aber trat er als Schauspieler auf, [228] gewann als solcher, sowie durch seine Dichtungen bald die Gunst des Volkes und selbst die der Königin Elisabeth, wurde Miteigenthümer des Theaters, und verlebte so viele glückliche Jahre in Englands Hauptstadt. Um 1614 verließ er in einem Alter von kaum 50 Jahren London und zog sich in seine Vaterstadt zurück, wo er nach zwei Jahren, die er, sich auf den Umgang einiger wenigen Freunde beschränkend, im Genusse eines mäßigen Vermögens verlebt hatte, an seinem 53. Geburtstage 1616 starb. Er wurde in der Kirche zu Stratford begraben und ihm 1623 von seinem Schwiegersohne ein Denkmal gesetzt, das man noch jetzt daselbst zeigt. In einer Nische befindet sich seine Statue in Lebensgröße: er sitzt, hat ein Kissen vor sich und hält eine Feder in der Hand. Eine darunter angebrachte Steinplatte enthält folgende, wie man sagt, von ihm selbst verfaßte Grabschrift: »Freund, um Jesu Willen wage es nicht, meinen Staub zu durchwühlen. Gesegnet sei, wer dieses Grabmal schont; verflucht, wer meine Gebeine dieser Stätte entführt!« – Noch jetzt ist S's Grab das Ziel unzähliger Wallfahrten in England; auch zollte man lange Zeit einem, von dem Dichter 1609 gepflanzten Maulbeerbaume, unter dem er auszuruhen pflegte, gleiche Verehrung, als ein gewisser Castroll, ein Landprediger, S's Haus, Newplace genannt, wo er die letzten Jahre seines Lebens verlebte, käuflich an sich brachte, und, um dem steten Herzuströmen von Neugierigen nicht ferner ausgesetzt zu sein, ohne alle Rücksicht den Baum umhauen ließ; ja, die rohe Nichtachtung des unsterblichen Dichters so weit trieb, daß er dessen Haus, um nicht die auf dasselbe gelegte Fenstertaxe bezahlen zu müssen, niederriß und die Baumaterialien verkaufte. Das Haus aber, in welchem S. geboren, wird noch heute den Fremden gezeigt, und in der Halle der Westminsterabtei prangt die Marmorbildsäule des Dichters mit der Inschrift aus seinem Trauerspiele »der Sturm«:

So einst umwölkte Thürm' und Prachpaläst'

Und Feiertempel, ja der Erdball selbst,

[229] Und was darin wohnt: Alles wird zergehn,

Und, wie dieß leere Schaugepräng' entschwindend,

Auch kein Gedünst nachlasen.

S....r.

Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 9. [o.O.] 1837, S. 224-230.
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