[435] Wien. Will man England oder Frankreich auf dem kürzesten Wege kennen lernen, so reist man nach London oder Paris, und 14 gut benutzte Tage reichen hin, eine flüchtige Bekanntschaft wenigstens mit diesen beiden europäischen Großmächten zu schließen. Sag' an, Deutschland, wo steht dein Altar, auf dem sie opfern können, die Scharen deiner Völker, und niederlegen, was Industrie, Handel und Künste geschaffen in ihren Reichen? Wo flattert dein Panier, Germanien, um das sie sich sammeln können deine Kinder, und stolz blicken nach Osten und Westen, im Bewußtsein ihrer Stärke und Einheit? Siehe, da regt es sich laut in allen Gauen, von der Donau bis zur Ostsee, von dem Rhein bis zur [435] Oder, und der Ruf Vaterland ertönt überall gleich stark und liebeswarm. Gar viele Kinder hat es geboren und groß gezogen, aber keines bevorzugt wie eine parteiische Stiefmutter; auf Allen ruht der heilbringende Muttersegen, und Alle, wie eine, weitverzweigte Familie, umschlingt das eine starke Liebesband, die Treue für das Vaterland. Darum, Fremdling, setze deinen Wanderstab auch nicht nach dem kaiserlichen, von der vielarmigen Donau umflossenen Wien, wenn du meinst, Deutschland dort kennen zu lernen. Glaube auch nicht, daß du in der Hauptstadt die Grundtöne zu dem Gemälde der ganzen Monarchie finden wirst; sie ist immer nur die Repräsentantin des südlichen Deutschlands und trägt die Farben der Provinz Oestreich, dem Lande unter der Ens, von dem sie einen Theil ausmacht. Und doch welcher Koloß an den lachenden Ufern des gewaltigen Stromes: im Norden die Inseln der Donau, im Westen der Kalemberg, im Süden die mit Waldungen und Weingärten bedeckten Gebirge Steiermarks und im Osten jene weiten, fruchtbaren Ebenen, die der Donau nach dem nachbarlichen Ungarn folgen. Mitten inne aber dieses anmuthigen und malerischen Panorama's 350,000 gutmüthige, fröhliche, gastfreie, biedere Menschen, voller Lebenslust und Heiterkeit, wie eine große Familie geschart um das geliebte lothringen-habsburgische Kaiserhaus, dessen Adler hier horstet nach alter, guter Sitte, ein gemüthlicher Vater unter seinen Kindern. Wien, seinen Namen jedenfalls von dem kleinen hier fließenden Flüßchen gl. N's ableitend, verdankt, wie so manche deutsche Stadt, ihren Ursprung den Römern und die eigentliche, innere Stadt, mit ihren meist krummen engen, oft düstern Straßen, trägt noch heute das mittelalterliche Gepräge. Hier aber in der Burg, mit dem Amalien- und Schweizerhof und der herrlichen Façade der ehemaligen Reichskanzlei, dem Hofbibliothekgebäude mit seinem großen tempelartigen Saale, der Reitschule, den beiden Redoutensälen und dem Burgtheater, hält der Kaiser sein glänzendes Hoflager. Was demnach mit Hof und Regierung[436] nur in einiger Berührung steht, hat sich in diesem Theile Wiens niedergelassen. Wir finden sonach dort die Paläste der Liechtenstein, Lobkowitz, Schwarzenberg, Esterhazy, Harrach, Kinsky, Auersberg und überhaupt aller jener edlen Geschlechter der östreichischen Monarchie. Nicht weniger zahlreich sind aber auch die öffentlichen Gebäude, wie die Hof- und Staatskanzlei, das Hofkriegsgebäude, das Rathhaus, die Nationalbank, das Universitätsgebäude, das kaiserl. und bürgerliche Zeughaus, ferner das sogenannte Bürgerspital mit 1200 Bewohnern, die weltberühmte Stephanskirche mit ihrem schiefen Thurme, 38 marmornen Altären, ihrer merkwürdigen, 354 Ct. schweren Glocke aus türkischen Kanonen gegossen der Fürstengruft, wohin seit Ferdinand III. die Eingeweide aller verstorbenen Mitglieder des kaiserlichen Hauses in kupfernen Urnen, gebracht werden, die Peterskirche, nach St. Peter in Rom gebaut und mit herrlichen Fresco- und Oelgemälden verziert, die Augustinerkirche mit dem Grabmale der Erzherzogin Christine von Canova und der Lorettokapelle, wo die Herzen der verstorbenen kaiserlichen Familienglieder in silbernen Gefäßen ruhen und der Tod enkapelle der Grabstätte großer Männer, die Kapuzinerkirche mit der kaiserlichen Familiengruft, die Kirche zu Maria Stiegen und endlich das neue Bethaus der Juden. Dieser ganze Stadttheil, zu welchem 12 Thore führen, von denen das am 18. Oct. 1824 eröffnete Burgthor eines der schönsten Bauwerke neuerer Zeit ist, welcher 8 große und 10 kleine Plätze, 110 große und kleine Gassen hat, welcher auf dem Josephsplatze durch die Statüe Josephs II. Aufmerksamkeit verdient, war früher mit Wällen umgeben, die jetzt zu Promenaden und Gärten umgewandelt sind. Das eigentliche lustige, heitere Wien liegt aber außerhalb dieser Stadt, und beginnt in den 34 Vorstädten, welche dieselbe wie ein duftender Blumenkranz umgeben. Dort ist frohes reges Leben, dort herrscht jene gemüthliche Indolenz und sinnliche Lebenslust, die dem Süddeutschen so scharf von dem Nordländer scheidet, und dort ist ja auch die Brigittenau und der Prater[437] und alle jeue Hunderte von Lustgärten und Tanzsälen und Vergnügungsorten, wo der Wiener aus Herzensgrunde Wiener ist. Aber werfen wir auch einen ernsten prüfenden Blick auf diesen größten Theil der Hauptstadt Alle diese zahlreichen Vorstädte sind zum Theil nach einem regelmäßigen Plane erbaut, haben meist schöne breite Straßen, außer den zahlreichen Palästen und Gärten 11 Thore, nur minder sorgsame Beleuchtung als die innere Stadt, kein so gutes Pflaster als diese, aber mehr Leben, mehr Industrie, mehr Handel, und bieten einen gesündern, heiterern Aufenthalt. Die Vornehmsten unter denselben, durch Verkehr, Lebensgenuß und Schönheit, sind die Leopoldstadt, die Landstraße, Mariahilf, die alte und neue Wieden und die Josephstadt; die merkwürdigsten Gebäude daselbst, der Marstall des Hofes, das Belvedere, meist der Lieblingsaufenthalt Eugen's von Savoyen, jetzt eine kaiserliche Gemäldegalerie enthaltend, das Invalidenhaus, das allgemeine Krankenhaus, das sogenannte Freihaus, die Kasernen, der wunderschöne Palast des Fürsten von Liechtenstein mit einer Gemäldegalerie und endlich 31 Kirchen und Kapellen. Durchwandert der Fremde nun diese zahlreichen freundlichen Vorstädte oder den ernsthaften, mittelalterlichen innern Theil Wiens, so drängt sich ihm allerdings die Ueberzeugung auf, daß hier nicht wie in Paris, alle materiellen und geistigen Kräfte eines großen Reichs, wie in einen Brennpunkt, zusammenfließen. Er begegnet hier wie dort einem zahlreichen Adel, und diesem sogar in vielfachern Nüancirungen, da der Kaiserhof diesen aus Böhmen, Ungarn, Italien etc. in seine Nähe zieht, aber diese Großen der Monarchie leben nicht für Wien allein, denn es gibt außer diesem auch ein Prag, Pesth, Venedig und Mailand, und immer wieder kehrt er dahin zurück, von wo ihn nur der Glanz der Majestät abrief; man stößt auf schöne, einer Kaiserstadt würdige Gebäude, allein man vermißt jene kolossalen Nationaldenkmäler, wie namentlich in Paris, zu deren Erbauung alle Provinzen contribuiren mußten, vermißt jene fieberhafte, speculative Bewegung wie[438] in Paris, oder jenes tolle Handelsgetriebe wie in London; allein Wien ist nicht die Monarchie, wie Paris Frankreich, es ist nur die schönste und größte Stadt des Reichs, ohne sich deßhalb auf Unkosten der Provinzen mit Glanz und Ruhm zu umgeben. Eine starke, kräftige, unumschränkte Regierung hat hier ihren Sitz, wen aber die Pflicht nicht unmittelbar an dieselbe fesselt, der kümmert sich wenig darum, sondern geht unbesorgt seinen behaglichen Weg und lebt um zu leben. Deßhalb ist es aber auch eine wahre Luft an einem schönen Sommerfeiertage die Wiener im Prater zu besuchen; in diesem großen Lustwalde und Wiesengrunde, voller Menschen aus allen Ständen bunt durch einander, Alle findend, was sie suchen. Kaffehäuser, Panoramen, ein Circus gymnasticus, optische Vorstellungen, Geistererscheinungen, elektrische Experimente und am 1. Mai das schöne Wettrennen oder ein Feuerwerk von Stuwer! Wer könnte da widerstehen, und wer es möglich machen kann, der miethet sich wohl auch einen von den 1200 bereitstehenden Fiacres. Der Prater an einem solchen Tage, wo tausende von Equipagen und wohl 60,000 Fußgänger ihn durchziehen, bietet freilich seinesgleichen in Europa nicht. Unweit desselben liegt der Augarten, von Kaiser Joseph dem Publikum geöffnet, der aber bei Weitem nicht so besucht ist. An diesen stößt die Brigittenau, wo alljährlich eine echt nationale Kirmes gefeiert wird. Aber nicht hier allein, auch entfernter in Schönbrunn, Tivoli, Hitzing, St. Veit, Hetzendorf, Heiligenstadt, Währing, Heiligenkreuz etc feiert der Wiener seine Vergnügungstage, und überdieß bieten das Innere Stadt, der Wall mit seinen Basteien, der Volksgarten, das Paradiesgärtlein, eine Menge, zum Theil sehr elegante, Kaffehäuser und Tanzsäle der Vergnügungen gar mancherlei. Dagegen findet man wenig geschlossene Gesellschaften, und unter diesen dürfte der kaufmännische Verein obenan stehen, wohl aber sind die Abendgesellschaften, welche der vornehme Adel und selbst wohlhabende Bürger geben, sehr beliebt und für Fremde ist es sehr leicht, bei denselben Eintritt zu erhalten. Einen wohlverdienten europäischen[439] Ruf besitzen die Theater. Das Burg- und Kärthnerthortheater, dem Kaiser gehörig und von diesem unterstützt, sind Ersteres die Schule für das deutsche Schauspiel, letzteres der Oper und des Ballets. Das Theater an der Wien, ausgezeichnet durch seine Größe, liefert Spectakelstücke, Zauber- und Singspiele, und wurde 1801 von Schikaneder gegründet. Für das Lustspiel, Localpossen und Parodien besteht das Theater in der Leopoldstadt, während das Theater in der Josephstadt die Mitte zwischen Luft- und Volksspielen hält, aber nicht so besucht ist wie jenes. Musik und Tanz sind den Wienern Bedürfniß. Jedermann, ohne Ausnahme der Stände, treibt etwas Musik, und wo es so viele Dilettanten in der Musik gibt, müssen nothwendig auch die Meister derselben einheimisch sein. Deßhalb sind denn auch Concerte an der Tagesordnung und stets besucht, und welche Kräfte zu denselben verwendet werden können, beweist unter Andern das am 5. Nov. 1837 in der kaiserlichen Reitschule aufgeführte Riesenconcert, wo 1100 Künstler mitwirkten, um die Schöpfung von Haydn aufzuführen. Glänzende Repräsentanten der wiener Tanzvergnügungen sind die Redouten in den kaiserl. Redoutensälen, die Fortunabälle und die Bälle bei Sperl, wo Strauß repräsentirt. Der Apollosaal ist jetzt in Verfall gekommen, aber unzählige Ballsäle, namentlich in den Vorstädten, öffnen sich für die Mittelclassen Wiens. Ergibt man sich indeß allen Vergnügungen und Genüssen auch mit wahrer wienerischer Vorliebe, so sind deßhalb doch Literatur, Künste, Industrie, Handel und Gewerbe keineswegs stiefmütterlich gepflegt; dieß beweisen die 500 Schriftsteller, die in W. leben, die 31 Buchhandlungen, die daselbst bestehen, die 20 Zeitschriften, die hier erscheinen, und die zahlreichen Bibliotheken, unter denen die kaiserliche in der Burg, die Bibliotheken der Universität, des Theresianums, der Kunstakademie, die des jetzigen Kaisers, des Erzherzogs Karl, des Fürsten Metternich, Liechtenstein, Esterhazy etc., die vorzüglichsten sind. Nicht weniger beachtenswerth sind die wissenschaftlichen Sammlungen, wie z. B. das Münz- und[440] Antikencabinet in der Burg, die kaiserl. Naturalien- und physikalischen Cabinete, und eine Menge Sammlungen von Privaten, wie die von Heger, Dolliner, der Grafen Palsy, Wrbna etc. Unter den Kunstanstalten bemerken wir nur die Akademie der bildenden Künste, die Gesellschaft für Musikfreunde im östreich. Kaiserstaate, die kaiserl. Gemäldesammlung in Belvedere, die fürstl. Liechtensteinsche, die Esterhazysche, Schwarzenbergsche etc. Außerdem verdienen die Erziehungsanstalten und unter diesen die für das weibliche Geschlecht volle Anerkennung. Man findet ein Civilmädchenpensionat von Joseph II. gegründet, ein Pensionat für Officierstöchter, ein gleiches zur Bildung von Lehrerinnen, eine Dienstbotenanstalt, von der verwitweten Kaiserin gegründet, eine Schule der Urselinerinnen etc. Wie regsam die Industrie ist, beweisen die zahlreichen Fabrikerzeugnisse, welche das Ausland von W. bezieht. Wer kennt nicht das wiener Porzellan, die Shawls, Schuhe, Seidenzeuge, Bronzewaaren, Uhren, Pianoforte, Wagen etc., die nach allen Ländern ausgeführt werden, und deßhalb ist denn auch der Handel, von der Donau unterstützt, auf der jährlich 6000 Schiffer ihre Fahrzeuge befrachten und mittelst welcher man jetzt durch Dampfschiffe direct mit Constantinopel in Verbindung steht, von großem Umfange. Daß die wiener Küche gut bestellt ist, weiß Jedermann, man findet sowohl in den Privat- als Speisehäusern eine vorzügliche Auswahl der wohlschmeckendsten Gerichte, obschon deren Namen dem ungewohnten Ohre oft sonderbar klingen. Wir erinnern nur z. B. an eine Ribisel-Sulz, Anis-Schatten, Fischelbrod etc. Mehl-, Eierspeisen und Saucen behaupten den Vorrang. Man ißt viel und gut und eine »Suppen« muß selbst bei dem geringsten Bürger dem Fleischgerichte vorangehen, dagegen werden Fische nicht oft zur Tafel gebracht und das Fleisch ist im Allgemeinen zu weich gekocht. Das ungebundene, freie, joviale Leben in allen geselligen Kreisen, sowohl in als außer dem Hause, übt seinen Einfluß auch auf das weibliche Geschlecht. Man findet deßhalb selbst bei den Frauen der höhern[441] Stände eine naive Zutraulichkeit, welche dem geselligen Verkehr ebenso viel Reiz als Bequemlichkeit verleiht. Kann man ihnen auch nicht jene Gabe der Repräsentation zuschreiben, durch welche die Frau von Ton in Paris einen Salon beherrscht, so besitzen sie doch nichts desto weniger jenen gewissen natürlichen Tact und jene gesellige seine Bildung, die in der guten Gesellschaft unerläßlich ist. Daß sie sich geschmackvoll zu kleiden wissen, beweist, daß die Mode in Wien, wie zu London und Paris, ihren Gerichtshof aufschlug. Schönheit und Einfachheit in der Form und Solidität in den Stoffen, das ist der Grundtypus der wiener Moden. Unter den niedern Klassen. welche sich übrigens ungemein anmuthig kleiden, findet man noch sehr häufig die goldbrokatene, in der Form der phrygischen Mütze ähnliche »wiener Haube.« Ein netter Spencer und kurzer Rock machen die übrige Bekleidung aus. Uebrigens zeichnen sich die Frauen aller Klassen durch eine schlanke Taille und zierliche Fußbekleidung aus. Wir schließen diese allerdings nur flüchtige Skizze der östreichischen Hauptstadt mit der Bemerkung: Wer das kolossale Getriebe eines alle Welttheile umfassenden Handels und die Bizarrerie des englischen Charakters kennen lernen will, der gehe nach London, wer den Lebensgenuß physisch und moralisch zur höchsten Potenz verfeinert sucht, der gehe nach Paris, wer aber leben will in Wohlleben, Behaglichkeit und natürlicher Fröhlichkeit, der gehe nach Wien.
i
Buchempfehlung
Die ältesten Texte der indischen Literatur aus dem zweiten bis siebten vorchristlichen Jahrhundert erregten großes Aufsehen als sie 1879 von Paul Deussen ins Deutsche übersetzt erschienen.
158 Seiten, 7.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.
456 Seiten, 16.80 Euro