Aequivalenz der Bewegungen

[83] Aequivalenz der Bewegungen (der Schiebungen [Translationen] und der Drehungen [Rotationen]). Zwei Bewegungen eines starren Punktsystems (Körpers) sind äquivalent, wenn sie es aus einer ersten Lage in dieselbe zweite Lage überzuführen vermögen. Eine Folge von zwei oder mehreren Bewegungen kann einer einzelnen Bewegung oder einer andern Folge von Bewegungen äquivalent sein. Die Ordnung der Aufeinanderfolge ist dabei im allgemeinen nicht vertauschbar. Eine Folge von Bewegungen ist äquivalent der Ruhe, wenn sie das System in die ursprüngliche Lage zurückführt. Eine Bewegung, die der Folge zweier oder mehrerer andrer äquivalent ist, heißt die Resultante derselben und diese heißen ihre Komponenten. Die Bildung der Resultanten aus ihren Komponenten heißt die Zusammensetzung, die Auffindung von Komponenten einer Bewegung die Zerlegung dieser in sie. Die einfachsten Bewegungen eines Systems sind die Translation (Parallelbewegung, Schiebung), die Rotation (Drehung) und die Schraubung oder Windungsbewegung. Sie sind zugleich die einzigen, die ein starres System haben kann. Bei der Schiebung beschreiben alle Punkte des Systems parallele und gleiche Wege in demselben Sinne, bei der Drehung beschreiben sie um eine ruhende Gerade (Achse) des Systems Kreise, deren Ebenen zu der Achse senkrecht sind; die Schraubung ist eine solche Verbindung beider, wobei die Richtung der Schiebung der Drehachse parallel ist. Eine Schraubung ist bestimmt durch die Richtung der Achse, die Größe der Schiebung = Höhe der Schraubung und den Drehwinkel (Amplitude). Eine Drehung um den Winkel von 180° heißt Umwendung; jede Bewegung eines starren Systems läßt sich durch die Aufeinanderfolge zweier Umwendungen um verschiedene Achsen ersetzen.

Die Folge zweier Schiebungen von der Größe A1A2 und A2A3 ist äquivalent einer einzigen Schiebung A1AZ, welche die geometrische Summe jener ist (Fig. 1). Hierbei ist die Folge der Komponenten vertauschbar. Die resultierende Schiebung kann daher durch die Diagonale des Parallelogramms aus den Translationsftrecken A1A2 und A1A3 gefunden[83] werden. Die Resultante dreier, nicht einer Ebene paralleler Schiebungen ergibt sich mit Hilfe des Parallelepipeds (Fig. 2), die einer beliebigen Anzahl von Schiebungen durch das Polygon der Translationstrecken in beliebiger Ordnung der Komponenten als die Schlußlinie A1A2 desselben (geometrische Summe) (Fig. 3). Ist die Schlußlinie des Polygons Null, also das Polygon geschlossen, so ist die Folge der Schiebungen äquivalent der Ruhe. Sind die Schiebungen parallel, so geht die Resultante in die algebraische Summe derselben über.

Die Folge zweier endlicher Drehungen von den Drehwinkeln ϑ und ϑ' um zwei parallele Achsen A, B (senkrecht zur Ebene des Papiers) ist äquivalent einer einzigen Rotation vom Drehwinkel Θ = ϑ ± ϑ' je nachdem ϑ' gleichen oder entgegengesetzten Sinnes mit ϑ ist, um eine Achse C, parallel zu A und B. Durch die erste Rotation ϑ um A gelangt nämlich B in die Lage B' (Fig. 4) und durch die Rotation ϑ' um B in der Lage B' rückt A nach A'; die Schnittlinie der beiden Ebenen, welche die Sehnen BB' und AA' rechtwinklig halbieren, gelangt durch die Folge beider in ihre ursprüngliche Lage zurück; ihre Gesamtbewegung ist äquivalent Null, und sie ist daher die Achse der resultierenden Drehung, deren Winkel BCB' = Θ = ϑ + ϑ' ist. Die resultierende Achse wird daher mit Hilfe des Dreiecks ABC gefunden, in dem die Winkel an den Achsen A und B gleich 1/2ϑ und 1/2ϑ' sind und zwar an der ersten Achse A direkten, an der zweiten Achse B entgegengesetzten Sinnes liegend mit den Amplituden der Rotation. Die Rotationsfolge ist nicht vertauschbar. Werden ϑ und ϑ' entgegengesetzt gleich, so geht die resultierende Drehung in eine Schiebung τ = 2 AB sinϑ über (Fig. 6). Zwei entgegengesetzt gleiche Drehungen um parallele Achsen heißen ein Rotationspaar und die ihnen äquivalente Schiebung ihr Moment.

Zwei Drehungen um sich schneidende Achsen A,B (Fig. 10) von den Winkeln ϑ, ϑ' sind äquivalent einer einzigen Drehung um eine dritte Achse C, die durch den Schnittpunkt O von A und B hindurchgeht. Man findet C, indem man an der ersten Achse A (die Konstruktion wird am einfachsten auf einer um O konstruierten Einheitskugel ausgeführt) 1/2ϑ im Sinne der Drehung sowie 1/2ϑ' an der zweiten Achse B im entgegengesetzten Sinne dieser anträgt und von O nach der dritten Ecke C des entstehenden sphärischen Dreiecks die Gerade OC zieht. Der resultierende Drehwinkel Θ ist der doppelte Außenwinkel des sphärischen Dreiecks an C. Infolgedessen wird


Aequivalenz der Bewegungen

und wenn p die Neigung der Achse C gegen die Ebene A B der Achsen bezeichnet,

sin p sin 1/2Θ = sin 1/2 ϑ sin 1/2 ϑ' sin AB.

Die Rotationsfolge ist nicht umkehrbar.

Die Folge zweier endlicher Schraubungen, die durch Achse, Höhe und Drehwinkel p, a, α, bezw. q, b, β gegeben sind, ist eine neue Schraubung, deren Bestimmungsstücke r, c, γ wie folgt gefunden werden (Fig. 7): Man bestimme die Gerade t, die zugleich ρ und q senkrecht schneidet, lege dann eine Gerade s so, daß sie p senkrecht trifft und daß Abstand und Winkel der beiden Geraden s und t gleich 1/2a und 1/2α ist, ebenso die Gerade u so, daß sie q senkrecht trifft und daß Abstand und Winkel der Geraden t und u gleich 1/2b und 1/2β ist. Dann ist die Gerade r, die s und u senkrecht trifft, die gesuchte Schraubenachse; Abstand und Winkel der Geraden s und u sind die halbe Höhe und der halbe Winkel der gesuchten Schraubung 1/2c und 1/2γ. Die Folge der Schraubungen ist nicht vertauschbar.

Die Lehre von der Aequivalenz der Bewegungen eines starren Systems hat neuerdings durch H. Wiener [2] eine wesentliche Vereinfachung insofern erfahren, als er zeigte, daß sich jede Bewegung in mannigfacher Weise als Resultat zweier Umlegungen, d.h. Halbdrehungen um gewisse Achsen darstellen läßt. So kommt die Schiebung (Translation) einer Folge von Umwendungen um zwei parallele Achsen gleich. Die Folge zweier Umwendungen um sich schneidende Achsen gibt eine Drehung um eine durch den Schnittpunkt der Wendeachsen gehende und zu ihrer Ebene senkrechte Achse mit einem Drehwinkel gleich dem doppelten Winkel der Wendeachsen. Die Folge zweier Umwendungen um sich kreuzende Achsen ist durch[84] eine Schraubenbewegung ersetzbar, deren Achse durch den kürzesten Abstand der Wendeachsen bestimmt ist, während die Schraubenhöhe gleich dem doppelten kürzesten Abstand und die Drehung gleich dem doppelten Winkel der Wendeachsen ist.

Im Falle unendlich kleiner Drehungen und Schraubungen ist die Reihenfolge, in der sie vorgenommen werden, bedeutungslos für das Endergebnis. Wir betrachten zunächst zwei Drehungen um die parallelen Achsen A und B mit den Winkeln und dϑ'. Indem man die Bewegungen (Fig. 9, 10 u. 11) verfolgt, welche die Punkte der Ebene der Achsen A, B annehmen, erkennt man auch direkt, ohne auf die vorigen Figuren zurückzugreifen, daß jene zwei Drehungen zusammen einer einzigen Drehung Θ = dϑ ± dϑ' äquivalent sind, je nachdem sie gleichen oder entgegengesetzten Sinn haben, und daß die Achse C der resultierenden Drehung ϑΘ in die Ebene AB fällt, parallel mit A und B läuft und im ersten Falle zwischen diesen Achsen, im zweiten im Außenräume derselben auf der Seite der Achse liegt, welcher der größere Drehwinkel angehört, und daß die Abstandsverhältnisse sind: AC/dϑ' = CB/dϑ = AB/ϑΘ. Im Falle d ϑ' = dϑ sind die Drehungen zusammen der unendlich kleinen Schiebung dτ = AB dϑ äquivalent, die senkrecht zu der Ebene AB der Achsen steht und nach jener Seite dieser Ebene hingewandt ist, von der aus ein Auge die Stellung der auf den Achsen dem Sinne nach als Längen aufgetragenen Drehwinkel dϑ, dϑ' mit dem Uhrzeigersinne übereinstimmend erkennt.

Aequivalenz unendlich kleiner Drehungen und Schraubungen. Wenn sich die Achsen A und B im Punkte O schneiden, vereinfacht lieh die frühere Konstruktion bei unendlich kleinen Drehwinkeln ϑ und ϑ' folgendermaßen (Fig. 11): Indem man auf den Achsen, entsprechend dem Uhrzeigersinne, zwei Längen Oα, Oβ aufträgt, so daß Oa : Oβ = dϑ : dϑ', liefert das Parallelogramm über ihnen durch seine Diagonale die Achse C und den resultierenden Drehwinkel diese, und es wird Oα : Oβ : Oγ = dϑ : dϑ' : sowie


Aequivalenz der Bewegungen

Zwei Drehungen um gekreuzte Achsen sind äquivalent einer Schraubung. Man findet in diesem Falle die resultierende Schraubung auf folgende Weise. Es seien a, b die beiden Drehachsen (Fig. 12) und dϑ dϑ' ihre Amplituden, sowie AB ihr kürzester Abstand, c aber die Achse der resultierenden Schraubung, die AB treffen muß, sowie und der Drehwinkel und die Höhe derselben. Der Fußpunkt B des kürzesten Abstandes AB auf der Achse B verdankt seine Bewegung der Rotation um a allein und beschreibt um diese Achse ein Bogenelement BB' = AB ∙ dϑ, das die Achse a rechtwinklig kreuzt. Wir zerlegen dasselbe in zwei Komponenten, parallel und senkrecht zur Achse c der gesuchten Schraubung; dieselben sind

βB' = BB' sin ac = Abdϑ sin ac und Bβ = BB' ∙ cos ac = ABdϑ cos ac

Ebenso verdankt der Fußpunkt A auf a seine ganze Bewegung der Drehung dΘ' um β. Diese ist AA' = BA ∙ dϑ und zerfällt ebenso in die Komponenten

αA' = BA ∙ dϑ' ∙ sin cb, Aα = BA ∙ dϑ' cos cb.

Da durch die Schraubung alle Punkte des Systems um gleiche Strecken parallel der Schraubungsachse bewegt werden, so müssen αA' = βB'r = dτ, und da dieselben senkrecht zur Achse unendlich kleine Wege proportional ihren Abständen von der Achse c beschreiben, so sind Bβ = CB ∙ dΘ und αA = AC ∙ dα, d.h. man hat die vier Gleichungen


Aequivalenz der Bewegungen

Hieraus ergibt sich dτ/dΘ = CB ∙ tg ac = AC ∙ tg cb und folglich AB/CB = tg ac/tg cb d.h. die Schraubungsachse c teilt den kürzeren Abstand der Achsen a, b im Verhältnis der Tangenten der Winkel, welche die Achsen a, b mit der Schraubungsachse c bilden. Weiter folgt dϑ/sin cb = dϑ'/sin ab', d.h. die Schraubungsachse hat die Richtung der Diagonale des Parallelogramms der Drehwinkel dϑ, dϑ', wenn dieselben als Längen entsprechend ihrem Sinne auf den Achsen aufgetragen werden. Weiter folgt

AB(dϑ ∙ cos ac + dϑ' cos cb) = (AC + CB) dΘ oder cos ac + dϑ' cos cb = dΘ,[85]

d.h. die Länge der Diagonale des Parallelogramms gibt die Größe des Drehwinkels der resultierenden Schraubung an (Fig. 13). Daher ist auch


Aequivalenz der Bewegungen

Hierzu ergibt sich schließlich dτ = AB ∙ sin ab ∙ dϑdϑ'/dΘ. Das Verhältnis AC/CB kann man noch etwas bequemer fassen. Die Projektionen des Dreiecks aus dϑ, dϑ' und dΘ auf seine Seiten geben nämlich


Aequivalenz der Bewegungen

Spezialfälle lassen sich hiermit leicht behandeln. Sind z.B. die Achsen a, b parallel, so wird


Aequivalenz der Bewegungen

Wird a b = 1/2 π, so folgt


Aequivalenz der Bewegungen

Ist a b = 2 π, so kommt


Aequivalenz der Bewegungen

Die vorgehenden Formeln liefern zugleich die Lösung der Aufgabe, eine gegebene unendlich kleine Schraubung in zwei Drehungen um gekreuzte Achsen aufzulösen, wovon die eine Achse gegeben ist. Die sämtlichen hier entwickelten Sätze über die Aequivalenz unendlich kleiner Drehungen kann man in Sätze über Winkel- und Translationsgeschwindigkeiten verwandeln, indem man mit dem Zeitelement dividiert. Das allgemeinste Problem, das hier zu lösen ist, kann so formuliert werden, indem man alle vorkommenden Translationsgeschwindigkeiten in Paare von Winkelgeschwindigkeiten umsetzt: »Ein körperliches System besitzt um n Achsen a1, a2, ... an zugleich gegebene Winkelgeschwindigkeiten ω1, ω2 .... ωn; man soll den aus ihnen resultierenden Geschwindigkeitszustand durch eine Schraubungsgeschwindigkeit darstellen, d.h. die Achse, die Winkelgeschwindigkeit ω um sie und die Translationsgeschwindigkeit υ parallel zu ihr für die Schraubungsgeschwindigkeit finden, der dem Vereine von allen äquivalent ist.« Indem man jede Winkelgeschwindigkeit ω auf ihrer Achse a als Länge darstellt, erhält man ein Streckensystem, dessen Reduktion für die Zentralachse die Lösung der Aufgabe nebst allen Einzelheiten gibt.


Literatur: [1] Schell, Theorie der Bewegung und der Kräfte, 2. Aufl., Leipzig 1879–80, Bd. 1, S. 215 ff. – [2] H. Wiener, Die Zusammensetzung zweier endlicher Schraubungen zu einer einzigen, Sitzgsber. d. K. sächs. Ges.d. Wissensch., 1890, S. 13 u. 71.

(Schell.) Finsterwalder.

Fig. 1.
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Fig. 2.
Fig. 2.
Fig. 3.
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Fig. 4.
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Fig. 5., Fig. 6., Fig. 7.
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Fig. 8.
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Fig. 9., Fig. 10, Fig. 11, Fig. 12.
Fig. 9., Fig. 10, Fig. 11, Fig. 12.
Fig. 13.
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Fig. 14.
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Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 1 Stuttgart, Leipzig 1904., S. 83-86.
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