Maßsystem, absolutes

[327] Maßsystem, absolutes. Das absolute Maßsystem unterscheidet sich von den sonst gebräuchlichen Maßsystemen dadurch, daß es nur für Längen, Zeiten, Massen je eine willkürliche Einheit des Maßes festsetzt und die Maße aller andern meßbaren Größen so auf diese Grundmaße zurückführt, daß alle Reduktionsfaktoren erspart werden. Das aus den Vorschlägen von Gauß und Weber und der Feststellung durch den Pariser Kongreß vom 21. September 1881 hervorgegangene absolute Maßsystem, das sogenannte Gramm-Zentimeter-Sekunde-System (abgekürzt = G.C. S.), hat als Einheit der Masse das Gramm, d.h. die Masse von 1 ccm Wasser, als Einheit der Länge das Zentimeter und als Einheit der Zeit die Sekunde. Diese drei sind die fundamentalen Einheiten; alle andern sind abgeleitete Einheiten und lassen sich in Funktionen von Potenzen der fundamentalen Einheiten ausdrücken. Diese Funktionen heißen ihre Dimensionen und werden durch in eckige Klammern gesetzte Produkte der Potenzen der drei fundamentalen Größen: [L] Länge, [M] Masse, [T] Zeit dargestellt. Wir unterscheiden 1. geometrische, 2. mechanische, 3. kalorische, 4. elektrostatische, 5. magnetische und 6. elektromagnetische Einheiten.

1. Flächen sind von der Dimension [L2], ihre Maßeinheit ist das Quadratzentimeter; Volumina [L3] haben als Einheit das Kubikzentimeter.

2. Die mittlere Geschwindigkeit eines Körpers wird gefunden, wenn man seinen Weg [L] durch die Zeit [T] dividiert, in welcher der Weg zurückgelegt wird, die Geschwindigkeit hat daher die Dimension [LT–1]; ihre Einheit ist diejenige, bei welcher pro Sekunde 1 cm Weg beschrieben wird. Die gleichmäßige Beschleunigung oder die für die Zeiteinheit berechnete Zunahme der Geschwindigkeit innerhalb einer gemessenen Zeit ist von der Dimension [LT–2]. Die Beschleunigung der Schwere (s.d.) hat am Aequator den Wert g = 978,1, am Nordpol g = 983,1 und unter 45° Breite g = 980,6. Eine Kraft ist um so größer, je größer die von ihr bewegte Masse und je größer die von ihr bewirkte Beschleunigung; sie ist von der Dimension [MLT–2]; ihre Einheit, die Dyne, ist der 980,6. Teil des Gewichts von 1 ccm Wasser, denn die Masse von 1 g erleidet durch die Schwere eine Beschleunigung von 980,6 cm. Man verwechsle also nicht die beiden Bedeutungen: Gramm gleich Einheit der Masse im absoluten Maßsystem und Grammgewicht gleich Einheit einer Kraft im konventionellen Maßsystem im Betrage von 980,6 Dynen. Letztere Größe, das Grammgewicht, ist mit der geographischen Breite und mit der Erhebung über die Meeresoberfläche veränderlich, erstere unveränderlich. Das Gewicht eines Körpers, das an sich eine mit dem Orte veränderliche Kraft ist und bei[327] seiner Ermittlung mittels einer Federwage sich als solche erweist, dient scheinbar als konventionelles Maß für die Masse. In Wirklichkeit vergleicht die Wägung mittels einer Gewichtswage die Massen, weil Ware und Gewichtstücke ihre Gewichte in gleichem Verhältnis mit dem Orte verändern. Ein Körper hat in der Tat ebensoviel Gramm Masse nach absolutem Maßsystem, als er nach dem konventionellen Gewichtsystem Gramm an Gewicht besitzt. Die Einheit der Arbeit heißt Erg. Wir setzen die Arbeit gleich dem Produkt aus der Kraft und der Projektion des Weges auf die Kraftrichtung; daraus folgt die Dimension [ML2T–2] und die Definition von Erg als diejenige Arbeit, welche verrichtet wird, wenn die Kraft von 1 Dyne über den Weg von 1 cm wirkt. Von derselben Dimension und daher eine der Arbeit gleichartige Größe, welche in derselben Einheit gemessen wird, ist das halbe Produkt aus Masse und Quadrat der Geschwindigkeit, die sogenannte lebendige Kraft. Die Arbeit, durch welche ein Kilogramm ein Meter hoch gehoben wird, heißt nach konventionellem Maßsystem ein Kilogrammeter oder Meterkilogramm (m/kg). Da ein Meter gleich 100 Längeneinheiten und ein Kilogramm des konventionellen Maßsystems gleich 980600 Krafteinheiten (Dynen) des absoluten Maßsystems ist, so ist ein Meterkilogramm gleich 98060000 Erg. Die Einheit des Effekts, d.h. der in der Zeiteinheit geleisteten Arbeit, Dimension [ML2T–3] verhält sich zu einer Pferdekraft (75 m/kg pro Sekunde) wie 1 : (75 · 98060000). Der zehnfache Betrag dieser absoluten Einheit heißt Watt. Eine Pferdekraft ist daher gleich 735,5 Watt. Bei den drehenden Bewegungen sind noch weitere Begriffe zu unterscheiden: Die Winkelgeschwindigkeit ist die in der Zeiteinheit beschriebene Kreisbogenlänge vom Radius 1, sie ist von der Dimension [T–1], die Winkelbeschleunigung (s.d.) ist von der Dimension [T–2], das Drehungsmoment, das Produkt aus Kraft in ihrem Hebelarm, hat die Dimension [ML2T–2], das Trägheitsmoment, das Produkt oder die Summe der Produkte aus Masse und Quadrat des Dreharmes, hat die Dimension [M L2]. Noch sei die Dimension [ML–1T–2] des Elastizitätsmoduls erwähnt, er ist eine auf die Flächeneinheit bezogene Kraft, diejenige Kraft, durch deren Zug ein Stab von 1 qcm Querschnitt in seiner Länge verdoppelt wird. Von derselben Dimension ist der Druck, das auf die Flächeneinheit bezogene Gewicht einer Quecksilbersäule. Der Druck von einer Atmosphäre, gleich 76 cm Quecksilbersäule, ist gleich 1013200 Einheiten des absoluten Maßsystems.

3. Die der Arbeitseinheit, dem Erg, äquivalente Wärmemenge ist die Einheit der Wärme im absoluten Maßsystem. Die konventionelle Einheit Kalorie, oder genauer Grammkalorie, nämlich diejenige Wärmemenge, welche die Temperatur eines Gramms Wasser von 0 auf 1° C. erhöht, ist entsprechend dem mechanischen Wärmeäquivalent (1 Kalorie = 0,425 m/kg gleich 41,7 Millionen Erg). Die sogenannte absolute Temperatur ist kein dem absoluten Maßsystem entspringendes Temperaturmaß, sie ist der 273 fache Betrag einer Zahl, welche das Volumen eines idealen Gases bei der zu messenden Temperatur zu demjenigen Volumen ins Verhältnis setzt, welches bei gleichem Druck demselben Gas beim Gefrierpunkt des Wassers zukommt. So wenig wie das Temperaturmaß aus dem absoluten Maßsystem abgeleitet ist, kann auch der davon abhängige Maßbegriff Ausdehnungskoeffizient aus demselben abgeleitet werden. Begriffe dieser Art haben in Beziehung auf die drei Grundmaße die Dimension 1, d.h. [M0L0T0], ebenso verhält es sich mit den Maßbegriffen: spezifische Wärme, spezifisches Gewicht, Atomgewicht u.a.

4. Die Abstoßung zweier elektrisch geladenen kleinen Kugeln ist dem Produkt der Elektrizitätsmengen e und e' direkt und dem Quadrat der Entfernung r umgekehrt proportional. Wir setzen daher den Quotient ee'/r2 gleich einer Kraft [MLT–2], und es ist e von der Dimension [M1/2L1/2T–1]. Die Einheit der elektrischen Menge flößt eine gleichgroße Menge im Abstand von 1 cm mit der Kraft von einer Dyne ab. Diese Menge heißt genauer die Einheit der elektrischen Menge in elektrostatischem Maß. – Ein elektrisch geladener Körper übt auf andre geladene Körper Kraftwirkungen aus, die man als Summen von Fernwirkungen auffassen kann, welche zwischen je zwei geladenen Punkten stattfinden. Der Quotient e/r der elektrischen Ladung e eines Punktes und seines Abstandes r von einem andern Punkt heißt das Potential der Ladung e auf den Punkt in der Entfernung r. Die nach r gebildete Ableitung der Potentialfunktion, die Funktion – e/r2, gibt ein Maß für die zwischen den zwei Punkten wirkende Kraft, wenn der eine die elektrische Quantität e, der andre die Quantität 1 als Ladung enthält. Das elektrostatische Potential ist von der Dimension [M1/2L1/2T–1] Das elektrostatische Potential gibt die Arbeit an, welche die elektrische Abstoßung leistet, wenn die Quantität 1 von der Quantität e bis auf unendliche Entfernung abgestoßen wird. – Eine leitende Kugel vom Radius ρ, welche mit der Quantität e geladen ist, übt auf einen Punkt im Abstande r vom Kugelmittelpunkt das Potential v = e/r aus, falls r > ρ, dagegen das Potential v = e/ρ, falls r < ρ. Für einen irgendwie gestalteten Konduktor hat das Potential v an jedem Punkte seiner Oberfläche einen konstanten Wert v = e/c, wenn e die Quantität der Ladung des Konduktors ist. Die Größe c, der Quotient der Ladung und des Oberflächenpotentials, heißt die Kapazität des Konduktors und hat die Dimension [L]. Derjenige Konduktor besitzt die Einheit der Kapazität, dessen Oberfläche infolge der Ladung durch die Menge e = 1 in beliebigem Punkte das Potential v = 1 erhält. – Der Maßbegriff Dielektrizitätskonstante ist vom absoluten Maßsystem unabhängig und daher von der Dimension 1.[328]

5. Aus ähnlichem Grunde wie bei der Menge der elektrischen Ladung setzt man die Dimension der Polstärke der als Ladung gedachten Menge des freien Magnetismus gleich [M1/2L3/2T–1]. Die Fernwirkungen eines Magnets lassen sich ersetzen durch diejenigen eines idealen Magnets, dessen nord- und südmagnetische Ladungen je in einem Punkt vereinigt sind. Ein mit der Menge 1 geladener Magnetpol flößt einen mit derselben Menge geladenen Pol eines andern Magnets auf 1 cm Entfernung mit der Kraft von 1 Dyne ab. Das Produkt μ aus dem Abstand l der Pole eines Magnets in die Stärke der Ladung μ des einen Pols heißt das magnetische Moment des Magnets, Dimension [M1/2L5/2T–1]. Dem elektrostatischen Potential entsprechend ist auch das magnetische Potential von der Dimension [M1/2L1/2T–1] und stellt eine durch eine Ladungsmenge dividierte Abstoßungsarbeit dar. Würde ein Magnetpol von der Ladung μ in einem Punkte des Feldes eines Magnets eine Abstoßung K erleiden, so nennt man den Quotienten aus der Kraft K und der magnetischen Menge, μ die Feldstärke im betreffenden Punkt. Die Feldstärke oder Intensität des magnetischen Feldes ist von der Dimension [M1/2L–1/2T–1]. Die Einheit der Feldstärke ist diejenige, bei welcher auf einen nordsuchenden Einheitspol die Abstoßung von 1 Dyne ausgeübt wird.

6. Diejenige Stärke eines galvanischen Stromes wird gleich der Einheit der Stromstärke gesetzt, bei welcher 1 cm Stromlänge zum Kreisbogen von 1 cm Radius gebogen auf einen magnetischen Einheitspol im Kreismittelpunkt eine zur Kreisebene senkrechte Abstoßung von einer Dyne erzeugt. Oder auch: der Strom von der Intensität 1, wenn er eine Fläche 1 umströmt, wirkt in die Ferne wie ein Magnet vom Moment 1. Der 10. Teil dieser absoluten Einheit der Stromstärke heißt ein Amper (Ampere); das Amper dient als praktische Einheit Ein Kreisstrom vom Radius r und der Intensität (Stärke) i erteilt einem Pol von der Stärke μ im Kreismittelpunkt eine Abstoßung K = μ i 2π/r Daraus ergibt sich die Dimension von i als Produkt von Kraft und Länge dividiert durch Polstärke, also [M1/2L1/2T–1]. Die Stromstärke kann auch aufgefaßt werden als die in der Sekunde durch einen Querschnitt des Leitungsdrahtes strömende Elektrizitätsmenge, oder: die Elektrizitätsmenge ist ein Produkt von Stromstärke und Zeit, Dimension [M1/2L1/2]. Diese Dimension unterscheidet sich von derjenigen im elektrostatischen Maße [M1/2L3/2T–1] durch die einer Geschwindigkeit [LT1]. Durch Messung derselben Elektrizitätsmenge in beiderlei Maß fanden Weber und Kohlrausch [1] u.a. den Wert des Verhältnisses beider Maße gleich 3.1010 cm (Lichtgeschwindigkeit). Durch einen Leitungsdraht, dessen Strom die Intensität 1 besitzt, fließt in der Sekunde die Elektrizitätsmenge 1. Der 10. Teil dieser absoluten Einheit der Menge ist die praktische Einheit, das Coulomb. – Das umgekehrte Verhältnis, wie zwischen den Dimensionen der Menge, besteht zwischen denen des elektrostatischen und elektromagnetischen Potentials, letzteres ist von der Dimension [M1/2L3/2T–2], denn in beiden Maßen ist das Produkt von Menge und Potential eine Arbeit. Der Unterschied der Potentialwerte zweier leitend verbundenen Punkte heißt die elektromotorische Kraft (E.K.) der Leitung. Dieselbe hat also als Potentialdifferenz dieselbe Dimension wie das Potential. Die elektromotorische Kraft einer Leitung hat den Wert 1, wenn die Einheit der Arbeit nötig ist, um die Menge 1 vom Punkte niedrigeren zum Punkte höheren Potentials überzuführen, oder wenn bei umgekehrtem Ueberfließen die Einheit der Arbeit gewonnen wird. Der 108 fache Betrag dieser absoluten Einheit ist die praktische Einheit, das Volt. – Strömt in t Sekunden die Menge q, also pro Sekunde die Menge i = q/t (i = Stromstärke) von einem Punkt höheren zu einem andern um v Einheiten niedrigeren Potentials, so liefert der Strom v i Arbeitseinheiten pro Sekunde. Der Effekt eines elektrischen Stroms ist daher gleich dem Produkt aus Stromstärke und elektromotorischer Kraft und von derselben Dimension wie der mechanische Effekt [M1/2L3/2T–1] × [M1/2L1/2T–1] = [ML2T–3]. Die praktische Einheit des Effekts ist ein Volt-Amper oder ein Watt gleich 107 absoluten Einheiten (s. oben unter 2.). – Das Verhältnis v/i der elektromotorischen Kraft zur Stromstärke ist nur von der Beschaffenheit der Leitung abhängig (Gesetz von Ohm) und heißt Widerstand, Dimension [L T–1]. Die praktische Widerstandseinheit ist das Ohm, gleich dem 109 fachen Betrag der absoluten Einheit des Widerstands, so daß für die in praktischen Einheiten ausgedrückten Werte von Widerstand w, Stromstärke i und elektromotorischer Kraft v dieselbe Beziehung w i = v besteht wie für die in absoluten Einheiten ausgedrückten Werte. – Wird ein Kondensator durch die elektrische Menge q bis zum Potential v geladen, so heißt der Quotient c = q/v die Kapazität des Kondensators, Dimension [L–1T2], Dieselbe ist in elektromagnetischem Maß (3.1010)2 mal kleiner als in elektrostatischem, oder ihre Einheit ist 9.1020 mal größer im elektromagnetischen Maß. Als praktische Einheit dient der 10-9 fache Betrag der absoluten elektromagnetischen Einheit oder der Betrag von 9.1011 elektrostatischen Einheiten, das Farad. – Ober- und Unterabteilungen der praktischen Einheiten bezeichnet man durch Vorsilben: Megohm = 1000000 Ohm, Mikrohm = 1/1000000 Ohm, Mikrofarad = 1/1000000 Farad, Milliamper = 1/1000 Amper. – Nach Versuchen von F. und W. Kohlrausch [2] scheidet ein Coulomb (oder der Strom von 1 Amper pro Sekunde) im Voltameter 1,11826 mg Silber aus (nach Lord Raleigh 1,11794 mg); es ist daher den Eichungen durch die Physikalisch-technische Reichsanstalt der Betrag von 1,118 mg Silber pro Coulomb zugrunde gelegt. Der Widerstand[329] von 1 Ohm ist gleich dem Widerstand eines Quecksilberfadens von 106,3 cm Länge und 14,452 g Masse (oder 1 qmm Querschnitt bei 13,5956 spez. Gew.). – Für weitere Ausführungen sei verwiesen auf [3]– [7].


Literatur: [1] Kohlrausch, R., und Weber, W., Zurückführung der Stromintensitätsmessungen auf mechan. Maß, Abh. der Kgl. Sächs. Ges.d. Wiss., Leipzig 1857, Bd. 3, S. 221. – [2] Kohlrausch, s. und W., Das elektrochemische Aequivalent des Silbers u.s.w., Wiedem. Annalen 1886, Bd. 27, S. 1. – [3] Elementare Vorlesungen über Elektrizität und Magnetismus von Silvanus P. Thompson, übersetzt von Himstedt, Tübingen 1887, S. 298–300 und S. 348–349. – [4] Kohlrausch, F., Leitfaden der prakt. Physik, Leipzig 1892, S. 380–400. – [5] Ders., Lehrbuch der prakt. Physik, Leipzig und Berlin 1901. – [6] Hovestadt, Lehrbuch der absoluten Maße und Dimensionen der physikalischen Größen, Stuttgart 1892; enthält zahlreiche Aufgaben nebst deren Lösungen. – [7] Wüllner, Lehrbuch der Experimentalphysik, 5. Aufl., Leipzig 1899, Bd. 3, S. 1230 ff.

Aug. Schmidt.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 6 Stuttgart, Leipzig 1908., S. 327-330.
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