[346] Allgemeines Stimmrecht (franz. Suffrage universel), die Befugnis, zum Zweck der Mitwirkung bei den wichtigsten Regierungshandlungen mitzustimmen, insofern diese Befugnis jedem Staatsangehörigen eingeräumt ist, der sich im Vollgenuß der staatsbürgerlichen Rechte befindet. Eine unmittelbare Mitwirkung der Gesamtheit der Staatsbürger bei der Gesetzgebung und deren unmittelbare Teilnahme an der Verwaltung des Staates sind selbstverständlich nur bei einem ganz kleinen Staatskörper, wie z. B. in einigen Schweizer Kantonen, möglich. In Freistaaten oder konstitutionellen Monarchien von größerm Umfang kann das Volk eine derartige Mitwirkung nur mittelbar, d.h. durch Wahl von Vertretern (Volksvertretern), betätigen. Wird nun das Recht, an den Wahlen dieser Volksvertreter teilzunehmen (aktives Wahlrecht), den Staatsangehörigen unmittelbar, ohne Rücksicht auf ihre bürgerliche Stellung und auf ihre Abgaben zur Staatskasse eingeräumt, so spricht man von einem allgemeinen Stimm- oder Wahlrecht oder genauer von einem allgemeinen gleichen und unmittelbaren Wahlrecht. Bei der indirekten Wahl besteht zwischen den Wählern (Urwählern) und den Gewählten das Zwischenglied der Wahlmänner, welch letztere von den Urwählern gewählt werden und die dann die Abgeordneten zu wählen haben. Das allgemeine Stimmrecht beseitigt dieses Zwischenglied und läßt die Abgeordneten unmittelbar von den Wahlberechtigten wählen. Dies System ist in England, Nordamerika, Frankreich, Belgien, Italien, in den meisten Schweizer Kantonen, in Württemberg und auch für die Wahlen zum deutschen Reichstag, in einigen Ländern auch für die Gemeindewahlen angenommen, während das System der indirekten Wahl in Preußen, Bayern, Sachsen, Baden und in verschiedenen deutschen Kleinstaaten besteht. Einige Staaten, wie z. B. Österreich, haben ein gemischtes System. Erst infolge der Revolution von 1848 wurde das allgemeine Stimmrecht in Frankreich eingeführt. Noch während der Republik aber, und zwar gerade deshalb, weil man deren Beseitigung durch das allgemeine Stimmrecht befürchtete, wurde es wiederum abgeschafft, bis Ludwig Napoleon es durch Plebiszit vom 2. Dez. 1852 wiederherstellen ließ, um dann, gestützt auf das Suffrage universel, die Republik selbst zu stürzen.
Nach dem Vorgang Frankreichs hatte auch die Frankfurter Nationalversammlung durch Gesetz vom 12. April 1849 das allgemeine Stimmrecht einzuführen gesucht, indem sie bestimmte, daß an den Wahlen der Abgeordneten zum Volkshaus jeder unbescholtene Deutsche nach vollendetem 25. Lebensjahr teilzunehmen befugt sein solle. Dieses Gesetz kam allerdings nicht zur Verwirklichung; es blieb jedoch das immer entschiedener auftretende Verlangen nach Einberufung einer deutschen Gesamtvolksvertretung auf der Grundlage des allgemeinen und direkten Wahlrechts, und als 1867 der Norddeutsche Bund errichtet ward, fand das allgemeine Stimmrecht in dessen Verfassung Ausnahme. Auch die deutsche Reichsverfassung vom 15. April 1871 (Art. 20) bestimmt, daß der Reichstag aus allgemeinen und direkten Wahlen mit geheimer Abstimmung hervorgeht, und das Wahlgesetz vom 31. Mai 1869 enthält in § 1 die Bestimmung, daß jeder Deutsche nach zurückgelegtem 25. Lebensjahr in dem Bundesstaat, wo er seinen Wohnsitz hat, Wähler für den Reichstag ist. Eine Ausnahme (Wahlgesetz, § 3) findet nur statt für diejenigen, deren Vermögen sich im Konkurs befindet, für Personen unter Vormundschaft oder Kuratel, für solche, die eine Armenunterstützung[346] beziehen oder im letzten der Wahl vorhergegangenen Jahr bezogen haben, und endlich auch für diejenigen, denen infolge rechtskräftigen Erkenntnisses der Vollgenuß der staatsbürgerlichen Rechte entzogen ist. Für Personen des Soldatenstandes des Heeres und der Marine ruht das Wahlrecht so lange, als sie sich bei der Fahne befinden. Ein Gegengewicht gegen das allgemeine Stimmrecht glaubte die Reichsverfassung in der Diätenlosigkeit der Reichstagsabgeordneten zu finden. Über den innern Wert des Systems des allgemeinen Stimmrechts wird gestritten. Während z. B. Lamartine das allgemeine Stimmrecht als einen Adelsbrief bezeichnete, den das französische Volk 1848 unter den Trümmern des Thrones gefunden, sprechen sich andre, selbst freisinnige Männer gegen das allgemeine Stimmrecht aus, weil es der rohen und unerfahrenen, aber zahlreichern Menge die Macht über die höhern Klassen der Gesellschaft verleihe, die Interessen der Bildung, der Kultur und des Vermögens bedrohe und durch die Quantität der bessern Qualität der Wähler Eintrag tue. Die Erfahrung hat diese Befürchtungen nicht überall bestätigt. Übrigens ist das allgemeine Stimmrecht bereits so tief in das Rechtsbewußtsein des Volkes eingedrungen,. daß an seine Beseitigung nicht wohl zu denken ist. Vgl. Wahl.