Deszendenztheorie

[682] Deszendenztheorie (Abstammungslehre, Umwandlungs- [Transformations- oder Transmutations-] Theorie), die Lehre, daß die Lebewesen nicht seit jeher in der Gestalt, die sie heute zeigen, existiert haben, sondern von anders gestalteten und in der Regel einfacher gebildeten Wesen abstammen, so daß die höhere Organisation einzelner Gruppen als erst im Lauf der Zeiten errungen betrachtet wird. Ähnlich klingende Ansichten wurden schon im Altertum von Empedokles, Anaximandros und andern Philosophen ausgesprochen. In den letzten Jahrhunderten haben mancherlei Naturforscher und ebenso Theologen zur Entlastung der Arche Noahs vermutet, daß wenigstens die einzelnen Gattungsverwandten, alle Mitglieder eines Geschlechts, z. B. der Katzen, Papageien, Weiden etc., als klimatische und sonstige Spielarten von einer gemeinsamen Urform abstammen möchten. Im 18. Jahrh. neigten Buffon und Goethe (der letztere im Anschluß an seine Metamorphosenlehre) solchen Ansichten zu, aber erst Erasmus Darwin (gest. 1802, s.d.) brachte die Lehre in ein System, indem er meinte, einige wenige Urformen könnten durch Selbstzeugung entstanden sein und hätten sich dann im Laufe vieler Generationen allmählich zu höhern Formen entwickelt. Als die Umwandlung befördernde Faktoren sah er bereits die Fortbildung der Gliedmaßen durch Gebrauchswirkung sowie die geschlechtliche Zuchtwahl an und erklärte auch bereits die rudimentären Gliedmaßen als Überreste bei der Umwandlung außer Gebrauch gesetzter Gliedmaßen. Jean Lamarck, der gewöhnlich als der Begründer der D. angesehen wird, hat nur, wenn auch mit großem Scharfsinn, diese Grundgedanken weiter ausgeführt, indem er namentlich die Anpassung der Lebewesen an neue Lebensbedingungen (Akkommodationstheorie) und die Wirkung des Gebrauchs und Nichtgebrauchs der Gliedmaßen zur Grundlage seines zuerst 1809 in der »Philosophie zoologique« ausführlicher dargelegten Systems machte und dasselbe bis zu seiner letzten Konsequenz, der Abstammung des Menschen, ebenso wie Goethe und E. Darwin, verfolgte. Verwandte Ansichten wurden auch von den Begründern der sogen. naturphilosophischen Schule in Deutschland, namentlich von Oken, Treviranus, Schelling u. a., vertreten, obwohl diese mehr an eine planmäßige Entwickelung durch einen in den Lebewesen liegenden Drang nach höherer Vollendung dachten und sich dabei an die Ergebnisse des Studiums der Entwickelungsgeschichte anlehnten, wobei sie z. B. die niedern Tiere wie Embryonalformen oder Hemmungsbildungen der höhern Tiere und namentlich des Menschen als des vorausgesetzten Endziels der Entwickelung ansahen. Diese Form der D. wird auch gelegentlich als Evolutionstheorie (s.d.) in neuerm Sinne bezeichnet. Eine noch andre Form wurde der D. durch Etienne Geoffroy de Saint-Hilaire gegeben, der meinte, die wechselnde Umgebung (le monde ambiant) und die Veränderung der äußern Umstände hätten den Hauptanteil an der Fortbildung der Wesen zu höhern Formen gehabt. Alle diese Theorien hatten keinen durchgreifenden Erfolg, diejenigen von Erasmus Darwin und Lamarck wurden von den exakten Naturforschern kaum beachtet oder energisch zurückgewiesen, ebenso die Ansichten Geoffroys de Saint-Hilaire durch Cuvier als Vertreter des Konstanzdogmas, während die Ansichten der naturphilosophischen Schule in Deutschland namentlich durch E. v. Baer widerlegt wurden. Obwohl die Wahrheit der D. durch Rob. Chambers' »Vestiges of creation« (1844) und durch Louis Büchner von neuem verteidigt wurde, blieben doch alle diese Versuche erfolglos, bis Charles Darwin und Wallace in der natürlichen Zuchtwahl ein mechanisches Prinzip nachwiesen, durch welches das Fortschreiten der Wesen verständlich wird. Die Darwinsche Theorie (s. Darwinismus) ist daher die einzige Form der D., die sich lebensfähig erwiesen hat, und einige derselben in neuerer Zeit entgegengestellte Theorien, wie z. B. die der Heterogenesis oder sprungweisen Entwickelung Köllikers und die Mutationstheorie, konnten sie nicht ersetzen. Die ältere Geschichte der D. findet man bei Krause, Erasmus Darwin (Leipz. 1880), die neuere in Haeckels »Natürlicher Schöpfungsgeschichte« (10. Aufl., Berl. 1902). Vgl. Fleischmann, Die D., gemeinverständliche Vorlesungen (Leipz. 1900).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1906, S. 682.
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