Ehrengerichte

[412] Ehrengerichte, im allgemeinen die zur Untersuchung und Beilegung von Ehrensachen niedergesetzten Gerichte von Standesgenossen. Sie kamen zuerst beim deutschen Adel als vertragsmäßige Einrichtungen, sogen. Ehrentafeln (judicia heroica oder equestria), vor, wurden aus hohen Adligen zusammengesetzt und vom Landesherrn bestätigt, urteilten nach einem eignen Ehrenrecht und hatten einen Ehrenmarschall an ihrer Spitze, der zuvor die Schilde und Ahnen dessen erprobte, der vor dem Ehrengericht erscheinen wollte. Die heutigen militärischen E. haben den Zweck, die gemeinsame Ehre des Offizierstandes sowie die Ehre des Einzelnen zu wahren, gegen Mitglieder, deren Benehmen die Standesehre verletzt, einzuschreiten und auf die Entfernung unwürdiger Glieder aus der Genossenschaft anzutragen. Außerdem haben die E. Streitigkeiten und Beleidigungen der Offiziere unter sich sowie Anreizungen zum Zweikampf vor ihr Forum zu ziehen, insofern dieselben nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit[412] einem Akte des Dienstes stehen, in welchem Fall sie als Dienstvergehen zu bestrafen sind. Für das Deutsche Reich sind jetzt die preußischen Bestimmungen über die militärischen E. maßgebend. Hiernach bildet für die Hauptleute und Leutnants das Offizierkorps jedes Regiments oder selbständigen Bataillons, für Reserve-, Landwehr- und verabschiedete Offiziere das Offizierkorps des Landwehrbataillonsbezirks, in dem sie wohnen, für Stabsoffiziere die Gesamtheit der Stabsoffiziere in einem Armeekorpsbereich ein Ehrengericht, dessen jährlich gewählter Ehrenrat (je ein Hauptmann, Ober- und Unterleutnant, resp. ein Oberst, Oberstleutnant und Major) vom Kommandeur, bei Stabsoffizieren vom Divisionskommandeur mit der Führung etwaiger Untersuchungen beauftragt wird. E. für Generale bestimmt jedesmal der Kaiser. Sind die Akten spruchreif, so spricht das Offizierkorps das Urteil, das, abgesehen von Erklärung der Unzuständigkeit oder dem Antrag auf Vervollständigung der Untersuchung, nur lauten darf auf Freisprechung oder auf »Schuldig der Gefährdung der Standesehre und Warnung«, »Schuldig der Verletzung der Standesehre und Beantragung der Entlassung«, für letzteres bei Verabschiedeten »Verlust des Rechts, die Uniform zu tragen«, oder endlich auf »Schuldig und Beantragung der Entfernung aus dem Offizierstand«, bei Verabschiedeten »Verlust des Offiziertitels«. Urteile bis zur Warnung bestätigt der Divisionskommandeur, die übrigen bedürfen der Bestätigung des Kaisers. Bei Streitigkeiten und Beleidigungen soll der Ehrenrat die Vermittelung versuchen. Das Ehrengericht hat »darüber zu wachen, daß unnütze Händel und mutwillige Zänkereien vermieden werden, um die Ehre eines jeden Offiziers und dadurch auch des ganzen Korps, mit Rücksicht auf die eigentümlichen Verhältnisse des Offizierstandes, fleckenlos zu erhalten«. Läßt sich jedoch ein: Vermittelung nicht herbeiführen, und beabsichtigen die Beteiligten, die Sache durch ein Duell zu erledigen, so sind dieselben auf die gesetzlichen Strafen zu verweisen, an dem Zweikampf selbst jedoch nicht zu hindern; vielmehr haben Mitglieder des Ehrenrates dem Duell als Kampfrichter beizuwohnen. Das Ehrengericht soll wegen eines Zweikampfes nur einschreiten, wenn ein Offizier hierbei sich gegen die Standesehre vergangen hat: »denn einen Offizier, der im stande ist, die Ehre eines Kameraden in frevelhafter Weise zu verletzen, werde ich ebensowenig in meinem Heere dulden, wie einen Offizier, der seine Ehre nicht zu wahren weiß«. (Vgl. preußische Verordnung vom 20. Juli 1843, Kabinettsorder vom 3. April und 27. Sept. 1845; neuere preußische Verordnung vom 12. Mai 1874, von Bayern angenommen und publiziert 4. Sept. 1874; Kabinettsorder vom 1. Jan. 1897, Verordnung für Sanitätsoffiziere vom 9. April 1901.) – Auch auf Universitäten, wo früher nur die Burschenschaften E. hatten, sind letztere in neuester Zeit in allgemeinere Aufnahme gekommen und haben hier und da sogar gesetzliche Sanktion erhalten. – Hierher gehören auch 1) die E. der Rechtsanwalte. Nach der Rechtsanwaltsordnung für das Deutsche Reich (§ 41 ff., 62 ff.) besteht dies Ehrengericht aus dem Vorstande derjenigen Anwaltskammer, welcher der betreffende Rechtsanwalt angehört. Der Vorstand entscheidet im ehrengerichtlichen Verfahren in der Besetzung von fünf Mitgliedern, und zwar setzt sich dies Ehrengericht aus dem Vorsitzenden, dessen Stellvertreter und drei andern Mitgliedern des Vorstandes zusammen. Die ehrengerichtliche Bestrafung, die ein Rechtsanwalt, der die ihm obliegenden Pflichten verletzte, verwirkt hat, kann in Warnung, Verweis, Geldstrafe bis zu 3000 Mk. oder Ausschließung von der Rechtsanwaltschaft bestehen. Gegen die Urteile des Ehrengerichts ist das Rechtsmittel der Berufung an den Ehrengerichtshof gegeben, der aus dem Präsidenten des Reichsgerichts als Vorsitzendem, drei Mitgliedern des Reichsgerichts und drei Mitgliedern der Anwaltskammer bei dem Reichsgericht besteht, als Staatsanwaltschaft fungiert die Reichsanwaltschaft. 2) Die ärztlichen E., bestimmt zur Beilegung von Streitigkeiten unter Ärzten und zum Spruch über berufliche Verfehlungen. Gegenwärtig bestehen derartige E. für Ärzte in Sachsen (Gesetz vom 13. März 1896), in Preußen (Gesetz vom 25. Nov. 1899) und Anhalt (Gesetz vom 10. April 1900), in Bayern ist ein diesbezüglicher Gesetzentwurf in Ausarbeitung. 3) Die Börsenehrengerichte auf Grund des Reichsbörsengesetzes vom 22. Juni 1896, welche Börsenbesucher zur Verantwortung zu ziehen haben, die im Zusammenhange mit ihrer Tätigkeit an der Börse sich eine mit der Ehre oder dem kaufmännischen Vertrauen nicht zu vereinbarende Handlung haben zu schulden kommen lassen. Vgl. § 9 mit 27 dieses Gesetzes. 4) E. für Patentanwalte, durch das Reichsgesetz über Patentanwalte vom 21. Mai 1900 eingeführt, berufen zur Feststellung, ob einem Patentanwalt eine Verletzung seiner Berufspflicht oder ein unwürdiges Verhalten zur Last fällt. Vgl. § 7–14 und 22 dieses Gesetzes.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 5. Leipzig 1906, S. 412-413.
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