Fliegen [1]

[691] Fliegen, die Ortsbewegung von Tieren in der Luft. Das F. ist an eine besondere Organisation des Tierkörpers geknüpft und kommt hauptsächlich Insekten und Vögeln zu; doch auch einige Säugetiere sowie der fliegende Fisch vermögen sich in der Luft zu bewegen, und der Mensch hat sich andauernd mit der Aufgabe beschäftigt, mittels künstlicher Flügel oder sonstiger Vorrichtungen die Luft zu durchschiffen. Die erwähnte besondere Organisation des Tierkörpers ist ganz allgemein so beschaffen, daß ausgedehnte Flächen in Gestalt von Flügeln (s.d.) die Luft schnell und kräftig zusammendrücken, und daß der Widerstand, der sich bei dieser Arbeit den Flügeln entgegenstellt, als Stützpunkt für die Bewegung dient. Hierbei wirken diese Flächen ganz allgemein als einarmige Hebel, so daß schon eine geringe Bewegung an dem am Tierkörper befestigten einen Ende des Hebels (Grund des Flügels) einen sehr bedeutenden Ausschlag des andern Endes (Flügelspitze) bewirkt. Bei den Insekten ist das Flugvermögen am großartigsten entwickelt. Ihre Muskeln besitzen eine Leistungsfähigkeit, die in der ganzen Tierwelt unerreicht dasteht; in einer einzigen Sekunde vermögen sie sich mehrere hundert Male zusammenzuziehen, und dies ermöglicht, daß der im übrigen mit einer bedeutenden spezifischen Schwere begabte Insektenkörper mit unglaublicher Geschwindigkeit dahinschießen kann. Fliegen überholen das schnellfüßigste Pferd, und den in vollster Bewegung befindlichen Zug verfolgen Insekten und fliegen in die Eisenbahnwagen hinein.

Vogelflug.
Vogelflug.

Durch die schnelle Flügelbewegung der Insekten wird vielfach ein Ton erzeugt, der um so höher liegt, je größer die Zahl der Flügelschläge ist. Aus der Höhe des Tones läßt sich berechnen, daß die Brummfliege 350, die Biene aber 440 Flügelschläge in einer Sekunde ausführt. Marey benutzte zur Bestimmung der Zahl der Flügelschläge eine mit einem berußten Papiermantel versehene kleine Metalltrommel, die sich mit gleichmäßiger und genau bekannter Geschwindigkeit um ihre Achse dreht. Das Insekt, dessen Flügelschläge gezählt werden sollen, wird derartig gehalten, daß die Flügelspitzen bei ihrer Bewegung das berußte Papier ganz leicht streifen. Jeder Flügelschlag erzeugt einen hellen Punkt auf dunkelm Grund, und aus der Zahl dieser Punkte läßt sich die Zahl der Flügelschläge bestimmen. Marey fand, daß die Fliege 240–321, die Hummel 240, Biene 190, Wespe 110, Libelle 28, Kohlweißling 9 Flügelschläge in der Sekunde ausführt.

Bei den Vögeln wird das F. durch den Bau des Knochengerüstes und die außerordentliche Entwickelung der Brustmuskeln begünstigt. Die Schulter erhält durch die sehr stark entwickelten, vorn miteinander verwachsenen Schlüsselbeine (Gabelbein) eine feste Verbindung mit dem Rumpf. Die Lufträume in den Knochen und die in Brust- und Bauchhöhle vorhandenen Luftsäcke erleichtern durch die Verringerung des spezifischen Gewichts des Tieres den Flug. Marey ist es gelungen, mit Hilfe eines photographischen Revolverapparats ähnlich demjenigen, den Muybridge[691] zum Studium der Gangarten des Pferdes benutzte, fliegende Vögel zu photographieren (s. Chronophotographie). Exakte Aufnahmen dieser Art ermöglichen eine Analyse der Flugbewegungen, wie sie bisher mit Hilfe von andern Methoden nicht zu erzielen war (s. Abbildung, S. 691). Unter den Säugetieren besitzen die Fledermäuse eine ziemlich vollkommene Einrichtung zum Flug. Andre Tiere, z. B. das fliegende Eichhörnchen, sind zwar mit Flughäuten ausgestattet, vermögen diese aber nur nach Art eines Fallschirms zu benutzen. Der fliegende Fisch erhält sich mit Hilfe seiner stark entwickelten Brustflossen, die hierbei schräg zum Horizont gestellte Ebenen darstellen und nach Art des Papierdrachen wirken, einige Zeit über dem Wasser, nachdem der Körper zunächst mit großer Kraft aus dem Wasser emporgeschnellt worden ist. Die Stubenfliege durchfliegt in der Sekunde 1,6 m, die Saatkrähe 8–12, die Haustaube 13, die Brieftaube 17–30, der Adler 24, die Mauerschwalbe 36, die Hausschwalbe bis 60 und die Rauchschwalbe bis 90 m. Vgl. Borelli, De motu animalium (Rom 1680); Pettigrew, Die Ortsbewegung der Tiere (deutsch, Leipz. 1875); Marey: La machine animale (Par. 1878), Le vol des oiseaux (1889) und Le mouvement (1894); Strasser, Über den Flug der Vögel (Jena 1885); Müllenhoff, Die Ortsbewegungen der Tiere (Berl. 1885); Derselbe, Die Größe der Flugflächen und die Größe der Flugarbeit (in der »Zeitschrift des Deutschen Vereins für Luftschiffahrt«,1885); Parseval, Die Mechanik des Vogelflugs (Wiesb. 1889); Lilienthal, Der Vogelflug (das. 1889); Winter, Der Vogelflug (Münch 1894); Ahlborn, Zur Mechanik des Vogelflugs (Hamb. 1896).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 6. Leipzig 1906, S. 691-692.
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