[723] Handelsbilanz (Balance de commerce, Gleichgewicht des Handels), das Verhältnis des Gesamtwertes der Wareneinfuhr eines Landes zu dem der Ausfuhr. Von der Anschauung ausgehend, daß der hierbei sich ergebende Unterschied durch Barsendungen zu begleichen sei, bezeichneten die Anhänger des Merkantilsystems (s. d.) die aktive H., bei der die Warenausfuhr größer ist als die Einfuhr, als günstig, die passive H. dagegen, bei der die Einfuhr die Ausfuhr übersteigt, als ungünstig; bei jener werde die Geldmenge und damit der Wohlstand des Inlandes vermehrt, wogegen durch die passive H. dem Lande Geld entzogen und somit dessen Verarmung herbeigeführt werde. Diese Schlußfolgerung ist jedoch nur sehr bedingt zutreffend. Sie beruht auf der Annahme, als ob nur der wechselseitige Warenverkehr in Betracht komme und die Warenbilanz durch Metallsendungen ausgeglichen werden müsse. In Wirklichkeit entstehen aber Forderungen und Verbindlichkeiten auch noch auf andern Wegen, die gerade bei dem heutigen Kreditverkehr eine hohe Bedeutung gewonnen haben. Dann ist in der merkantilistischen Lehre von der H. eine richtige Berechnung der Ein- und Ausfuhrwerte vorausgesetzt, wie sie früher kaum möglich war und auch heute noch nicht erfolgt. Dieselbe kann nur nach den Aufzeichnungen der Handelsstatistik (s. d.) und der Zollregister erfolgen. Diese sind aber immer mehr oder weniger lückenhaft. Sie sind insbes. dann nicht zutreffend, wenn sie sich nur auf die zollpflichtigen Waren beschränken, die übrigen aber nur durch ganz summarische Schätzungen erfassen. Bestehen nur Einfuhrzölle und gar keine oder nur wenige Ausfuhrzölle, dann ist die Bemessung von Ein- und Ausfuhr nicht gleichwertig, ein Übelstand, dem in Deutschland 1879 durch das Gesetz über die Statistik des Warenverkehrs abgeholfen wurde. Eingeschmuggelte Waren, die früher eine wichtige Rolle spielten, entziehen sich der Berechnung. Ferner ist die Bewertung nicht genügend genau. So enthalten die Zolltarife keine so weit reichende Spezialisierung, wie sie hierfür erforderlich[723] wäre; auch führt das Verfahren, nach dem die Bewertung erfolgt, sei es die Deklaration oder sei es die Feststellung der Werte durch die Finanz- oder statistischen Behörden, selbst bei der sorgfältigsten Verwaltung nur zu annäherungsweise richtigen Ergebnissen. Sodann ist von Wichtigkeit, für welchen Platz die Warenpreise berechnet werden. Werden lediglich die Inlandspreise der ausgeführten den Auslandspreisen der eingeführten Waren gegenübergestellt, so ist der Unterschied kein brauchbarer Maßstab für Beurteilung der H. Denn es kommen noch Handelsgewinne, Transport-, Speditions- und Versicherungsspesen in Betracht, die bei Aktivhandel dem Inland, bei Passivhandel dem Ausland zufließen. So kann leicht eine scheinbar ungünstige Bilanz in Ländern vorkommen, die tatsächlich eine Nettoausfuhr haben, wie denn auch alle Länder der Welt zusammen stets einen Einfuhrüberschuß aufweisen.
Nun setzt sich aber die auswärtige Wirtschaftsbilanz nicht ausschließlich aus der Ein- und Ausfuhr von Waren, sondern aus folgenden Hauptposten im Credit und Debet zusammen: 1) Einnahmen für ausgeführte und Ausgaben für eingeführte Waren und Edelmetalle. 2) Einnahmen für Frachtverdienst, Assekuranz etc. von Inländern im Ausland (inländischen Reedern, welche die Schiffahrt zwischen zwei ausländischen Häfen betreiben, oder inländischen Eisenbahngesellschaften, die einzelne Strecken auf fremdem Gebiet betreiben) und anderseits Ausgaben für die Fracht der auf Ausländern gehörigen Verkehrsanstalten eingeführten Waren. 3) Einnahmen aus den auf Rechnung von Inländern im Ausland betriebenen Unternehmungen und umgekehrt Ausgaben an Zinsen und Gewinnen der von Ausländern im Inland betriebenen Geschäfte. 4) Anleihen im Ausland, An- und Verkauf von Effekten, Einnahmen an Zinsen und Kapitalrückzahlungen der an das Ausland gewährten Darlehen und umgekehrt Ausgaben für Verzinsung und Amortisierung der im Ausland aufgenommenen Anlehen. 5) Einnahmen aus jenem Aufwand, den Ausländer im Inland als Reisende machen, Kapitalien, die Einwanderer mitbringen etc., und umgekehrt Ausgaben für den Aufwand der im Ausland lebenden Inländer, Verlust von Kapital, das die Auswanderer mitnehmen, etc. 6) Außerordentliche Einnahmen und Ausgaben aus besondern einmaligen Anlässen, wie: Empfangnahme oder Abtragung von Kriegsentschädigungen oder im Ausland gemachter Kriegsaufwand oder Subventionen und Hilfsgelder. 7) Verschiedene Einnahmen und Ausgaben aus den von einem Land ins andre kommenden oder gehenden Pensionen, Legaten, Erbschaften der im Lande wohnenden Fremden u. dgl. Diese sämtlichen Posten müßten sorgfältig gebucht werden, um zu ersehen, ob nach einem bestimmten Zeitraum die Volkswirtschaft mit einem Saldo zu ihren gunsten oder ungunsten schließt. Dieser Saldo aber drückt sich in den Wechselkursen aus, d. h. er veranlaßt deren günstigen oder ungünstigen Stand, je nachdem er aktiv oder passiv ist. Um ihn richtig beurteilen zu können, ist ein Durchschnitt aus den Kursen längerer Zeiträume zu ziehen.
Die obigen Tatsachen gaben Veranlassung zur Unterscheidung zwischen der Warenbilanz (H. im engern Sinn), als dem Unterschied der Gesamtwerte der ein- und ausgeführten Waren, und der Zahlungsbilanz oder Wirtschaftsbilanz (H. im weitern Sinne), welche die Gesamtheit aller internationalen Wertübertragungen umfaßt, und für die außer dem Warenhandel auch die in andrer Weise entstandenen Forderungen und Verbindlichkeiten in Betracht kommen. Länder, die eine ungünstige Warenbilanz haben, können deswegen doch sehr wohlhabend sein und immer reicher werden, sobald sie nur gewinnreiche Kapitalanlagen im Ausland und viele fremde Effekten besitzen und von außen Zinsen, Dividenden und Bezahlungen für Dienstleistungen (Pensionen) beziehen. Dagegen weisen verschuldete, wirtschaftlich nicht günstig gestellte Länder oft aktive Warenbilanzen und zwar gerade in den Zeiten auf, in denen sich ihre Verschuldung an das Ausland erhöht. Die Wirtschaftsbilanz im ganzen ist dann freilich unbefriedigend. Aktive Warenbilanz bedeutet einen Überschuß von Produktionswerten des betreffenden Landes und kann ebenso durch großen Umfang der Erzeugung ausfuhrfähiger Güter wie durch geringe Konsumtionskraft der Bevölkerung verursacht, demnach entweder ein günstiges oder ein ungünstiges Symptom sein. Passive Warenbilanz bedeutet entweder Mangel an Gütern zur Bedürfnisbefriedigung eines Volkes oder große Kaufkraft und breit angelegten Wohlstand desselben, ist also ohne Berücksichtigung dieser letzten Ursachen auch kein sicheres Merkmal zur Beurteilung der gesamten wirtschaftlichen Lage. In Europa haben alle Staaten zusammengenommen stets eine passive Warenbilanz, und dennoch ist Europa der reichste Erdteil, weil es aus den übrigen Titeln eine aktive Bilanz hat. Die größte Passivität zeigt, und zwar in steigender Höhe, Großbritannien seit dem Jahr 1854 (seitdem die real values des Handels neu bestimmt wurden); seine Warenbilanz ist im letzten Jahrzehnt durchschnittlich alle Jahre um 114 Mill. Pfd. Sterl. passiv; es hat dagegen einen noch viel höhern Aktivsaldo aus andern Wertübertragungen und zwar aus dem großen überseeischen Reedereigeschäft (Ertrag nach Giffen über 60 Mill. Pfd. Sterl. jährlich); aus den vielen im Ausland (besonders in Indien) mit britischem Kapital betriebenen Unternehmungen; aus den Zinsen der an fremde Länder in der Form von Staatsanlehen, Eisenbahn- und andern Prioritäten besonders im Laufe der letzten 40 Jahre verliehenen Kapitalien (Ertrag nach Giffen mindestens 75 Mill. Pfd. Sterl. jährlich); endlich aus verschiedenen Titeln, worunter insbes. die von Ostindien zu zahlenden Pensionen der nach zurückgelegter Dienstzeit in England lebenden Beamten des India Government gehören. Die Wechselkurse stehen daher trotz der passiven H. zumeist auf London günstig, und das Land hat stets die Wahl, die Aktivsaldi seiner Bilanz sich durch Waren, Edelmetallsendungen oder durch neue Kredite, die es in der Tat fortwährend dem Ausland gewährt, berichtigen zu lassen. Ähnliche Verhältnisse findet man in der Wirtschaftsbilanz von Frankreich, Holland, Belgien, der Schweiz. Das Deutsche Reich hat in den Jahren 187279 eine passive Warenbilanz gehabt, der Passivsaldo betrug jährlich 920 Mill. Mk.; die Höhe desselben beruhte aber zumeist auf einer mangelhaften Bewertung der Ausfuhr, teilweise erklärte er sich durch die Folgen der Milliardenzahlung, die auf die Wareneinfuhr fördernd wirkte. Seit 1880 wurde die Ausfuhr statistisch genauer nachgewiesen, und die Warenbilanz wurde nunmehr aktiv. Seit 1887 hat aber Deutschland wieder eine passive H.; seit 1894 hat der Wert der Einfuhr den der Ausfuhr nahezu regelmäßig um ca. eine Milliarde Mk. überstiegen. Vgl. G. J. Göschen, Theory of foreign exchanges (16. Aufl., Lond. 1894; deutsch von Stöpel, Frankf. 1875, und von Herz, Wien 1876); Ad. Fellmeth, Zur Lehre von der internationalen [724] Zahlungsbilanz (Heidelb. 1877); Arendt, Die internationale Zahlungsbilanz Deutschlands (Berl. 1878); Grunzel, Der internationale Wirtschaftsverkehr und seine Bilanz (Leipz. 1895); W. Ruland, Die H. (das. 1897); Hucke, Die H. (das. 1901); Artikel Handelsbilanz im »Handwörterbuch der Staatswissenschaften«, Bd. 4 (2. Aufl., Jena 1900); Nicklisch, H. und Wirtschaftsbilanz (Tübingen 1903).
Buchempfehlung
Eine Reisegruppe von vier sehr unterschiedlichen Charakteren auf dem Wege nach Braunschweig, wo der Luftschiffer Blanchard einen spektakulären Ballonflug vorführen wird. Dem schwatzhaften Pfarrer, dem trotteligen Förster, dem zahlenverliebten Amtmann und dessen langsamen Sohn widerfahren allerlei Missgeschicke, die dieser »comische Roman« facettenreich nachzeichnet.
94 Seiten, 5.80 Euro
Buchempfehlung
Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.
430 Seiten, 19.80 Euro