Kurpfuscherei

[864] Kurpfuscherei (Medizinalpfuscherei, Medikasterei, Quacksalberei), gewerbsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne entsprechende Vorbildung. In ältern Zeiten berührte sich K. und Berufsmedizin, da es eine Überlieferung der Medizin, die gelernt werden mußte, nur in unvollkommenem Maße gab. Die große Anzahl von gesicherten Tatsachen, die uns die neuere Medizin erschlossen hat, macht es heute nötig, daß jeder, der die Heilkunde mit Nutzen ausüben will, sich zunächst die Arbeiten und Erfahrungen der Ärzte und Forscher vergangener Zeiten aneignet. Für persönliche Gestaltung der Behandlung in enger Anpassung an die eignen Erfahrungen und die Natur des Patienten ist nachher vollkommen Raum gegeben. Nicht diese Gestaltung der Behandlung nach eigner Erfahrung unterscheidet den Kurpfuscher vom Arzt, sondern der Mangel an Grundlagen, auf die sich die Erfahrung aufbaut.

Die durch K. verursachten Schädigungen des Gemeinwohls treten namentlich dadurch zutage, daß der Kurpfuscher die ansteckenden Krankheiten oft nicht erkennt und deshalb nicht der Behörde anmeldet, so daß sie sich vor wirksamem Eingreifen auf andre Personen ausbreiten können. Sie treten ferner zutage durch die Gegnerschaft, welche die Kurpfuscher gegen die Pockenschutzimpfung großziehen, durch die Unsicherheit, welche die Kurpfuscher in das Getriebe[864] der Kranken-, Unfall- und Invaliditätsversicherung hineinbringen. Dazu kommt die Schädigung von Treu und Glauben im öffentlichen Leben durch planmäßige Untergrabung des Vertrauens zu den geprüften Ärzten. Die Schädigung des einzelnen ist zunächst eine materielle infolge rücksichtsloser pekuniärer Ausbeutung. Von Kurpfuschern werden oft weit höhere Preise als von Ärzten genommen, und rücksichtslos treibt der Kurpfuscher vertragsmäßig ausbedungene Honorare gerade von den ärmsten Leuten zwangsweise ein. Welche Summen dabei auf dem Spiele stehen, mögen folgende Zahlen beweisen: der Verfertiger der vielgenannten Morisonschen Pillen in England hat binnen 7 Jahren allein 2 Mill. Mk. an Stempelgebühren erlegt; Graf Matthei hat durch seine mit »weißer, blauer und grüner Elektrizität« geladenen Zuckerpillen sich ein Vermögen von 10 Mill. Lire verdient; der Schäfer Ast, der die Krankheiten durch Besichtigung der Nackenhaare erkannte, hat sich ein großes Rittergut gekauft. Der Kurpfuscher Glünecke verdiente mit seinen wirkungslosen Kräutersäften zuletzt jährlich 120,000 Mk., Nardenkötter eher noch mehr. Man hat berechnet, daß das deutsche Volk in den letzten 15 Jahren mindestens 14,5 Mill. Mk. für K. ausgegeben hat. Die Schädigung des einzelnen bezieht sich ferner auf die Gesundheit. Viele Fälle sind bekannt, in denen falsch verordnete Mittel die beim Kurpfuscher Rat suchenden Kranken schwer geschädigt oder auch getötet haben; Diphtheriekranke erstickten unter den Händen der Heilung versprechenden Kurpfuscher, weil letztere den Luftröhrenschnitt nicht kannten; viele Personen, teils neugeborne, teils erwachsene, sind an infektiösem Augenkatarrh erblindet, weil der Kurpfuscher sie von der Aufsuchung rechtzeitiger wirksamer Hilfe abhielt; namentlich Kranke mit beginnender Krebsgeschwulst werden oft dadurch inoperabel und unheilbar, daß sie die erste kostbare Zeit beim Kurpfuscher mit nutzlosen Maßnahmen hinbringen. Eine eigentliche K. existiert in Deutschland erst, seitdem die Ausübung der Heilkunde durch die Reichsgewerbeordnung 1869 gesetzlich freigegeben wurde. Eine wahre Flut von Unberufenen, Bauern, Abdeckern, Gerichtsdienern, Nachtwächtern, Leichendienern, Hausknechten und ähnlichen nicht vorgebildeten Leuten stürzte sich auf das nun offene Gewerbe der K. Die geringe allgemeine Vorbildung dieser Kurpfuscher bietet auch, ganz abgesehen von dem Mangel aller sachlichen Kenntnis, die Unmöglichkeit, daß sie sich durch Erfahrung und Studium im Beruf weiterbilden. Von den Kurpfuschern in Berlin sind 60 Proz. frühere Arbeiter und Handwerker, von den Kurpfuscherinnen 58 Proz. Dienstmädchen, 24 Proz. Konfektionösen, 10 Proz. Arbeiterinnen. Die hauptsächlichsten literarischen Apostel dieser Kurpfuscher sind: Kneipp (seine »Wasserkur« hat bisher 70 Auflagen erlebt), Platens »Neue Heilmethode«, von der etwa 1/4 Mill. Exemplare verkauft sind, und Bilz' Lehrbuch, das in 11 Mill. Exemplaren verbreitet ist. Die periodischen Blätter von kurpfuscherischer Tendenz erscheinen in Riesenauflagen. Angesichts der bedeutenden materiellen und gesundheitlichen Schädigungen des Volkes sind in neuerer Zeit schärfere Maßregeln zur Einschränkung des Kurpfuschertums in den meisten deutschen Bundesstaaten teils ergriffen, teils in Aussicht genommen worden. Zunächst ist in den Jahren 1903 und 1904 eine Liste von Geheimmitteln durch den Bundesrat festgestellt und unter gewissen nähern Modalitäten nicht nur ihr Verkauf, sondern auch ihre öffentliche Anpreisung durch die Landesregierungen untersagt worden. Preußen hat den Anmeldungszwang des Kurpfuschereigewerbes eingeführt, Baden und Oldenburg haben weitere einschränkende Bestimmungen (Verbot öffentlicher Anzeigen oder der Fernbehandlung) eingeführt. Vermutlich wird das Deutsche Reich gesetzgeberische Maßregeln gegen die K. insofern zu erwägen haben, als dem § 35 der Reichsgewerbeordnung eine Bestimmung angefügt werden soll, wonach dem Kurpfuscher wegen nachgewiesener Unzuverlässigkeit der Gewerbebetrieb untersagt werden kann. Vgl. Rapmund u. Dietrich, Ärztliche Rechts- und Gesetzkunde (Leipz. 1899); Landau, Arzt und Kurpfuscher im Spiegel des Strafrechts (Münch. 1899) und Die K. im Lichte der Wahrheit (das. 1900); Joachim, Die Rechtsverhältnisse der K. in Deutschland und die Bekämpfung ihrer Gefahren für die Gesundheit (in der »Zeitschrift für soziale Medizin«, 1895); Reißig, Medizinische Wissenschaft und K. (Leipz. 1900); Graack, Sammlung von deutschen und ausländischen Gesetzen und Verordnungen, die Bekämpfung der K. betreffend (Jena 1904); Vorberg, Kurpfuscher (Wien 1905).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 11. Leipzig 1907, S. 864-865.
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