[456] Naturheilkunde (Physiatrie), die Lehre von der Heilung der Krankheiten ohne arzneiliche Einwirkung. Die N. ist von zwei schlesischen Bauern, Vinzenz Prießnitz (17991851) in Gräfenberg und Joh. Schroth (180056) in Lindewiese, begründet worden. Sie durchdringt in neuerer Zeit die gesamte Heilkunde in zwei Formen, als ausschließliches Behandlungsmittel für Gesunde und Kranke und als Bestandteil der wissenschaftlichen Therapie. 1) Die N. im erstern Sinne spricht von einem tiefgreifenden Verfall der Kulturmenschheit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrh. und leitet denselben ab von den veränderten sozialen Lebensbedingungen und den ungemein verschlechterten Ernährungsverhältnissen, besonders auch von dem Genuß von Kaffee, kleiefreiem Brot, zu viel Fleisch, Alkohol und Tabak. Da nach der Lehre der Anhänger der N., der Naturärzte, »die aus falschen diätetischen Gewohnheiten entspringeude[456] minderwertige Körperqualität die Hauptursache für das Zustandekommen von Krankheiten abgibt, so ist dem Individuum und seinen Lebensbedingungen die größte Aufmerksamkeit zuzuwenden und nicht den Krankheitsauslösern, den Pilzen«. Dementsprechend soll der kranke Organismus durch naturgemäße Diät (besonders vegetarische Nahrung), durch Wasser, Massage, Bewegungskuren, Schwitz-, Luft- und Lichtbäder, rationelle Bekleidung, Hypnose und Suggestion geheilt werden. Gegenüber der »Schulmedizin« verwirft sie die Anwendung von Arzneimitteln, weil diese den Körper vergifteten. In der Regel sind es Laien, die sich mit der Ausübung der N. befassen. Nicht selten auch mißbrauchen Betrüger die im Volke tiefwurzelnde Neigung zur N., und fast alle vor Gericht wegen Betruges verurteilten Kurpfuscher hatten die N. als Reklameschild benutzt. Kann man zugeben, daß das Naturheilverfahren in vielen Fällen sich nützlich erweisen wird, so ist doch die nicht von einem Arzt überwachte Hingabe an dasselbe insofern sehr bedenklich, als leicht während der vertrauensvollen Anwendung der Zeitpunkt verpaßt werden kann, in dem der Arzt noch Hilfe hätte bringen können. Der 1888 gegründete Deutsche Bund der Vereine für Gesundheitspflege und arzneilose Heilweise, neben dem noch die Kneipp-Vereine und ein »Verband« selbständig bestehen, zählt etwa ein halbes Tausend Ortsvereine. 2) Die wissenschaftliche N. (physikalisch-diätetische Therapie) benutzt dieselben Heilmittel, sie sucht aber deren Wirkung im einzelnen genau zu studieren, ihr Anwendungsgebiet und ihre Gegenanzeigen festzustellen und sie mit andern Heilmethoden, wo nötig, zu verbinden. Alle Ärzte verwenden dies Verfahren je nach der Natur der Krankheit, an den Universitäten werden Vorlesungen darüber gehalten, die Universität München hat eins der besten hierhergehörigen Institute. Vgl. Disqué, Naturgemäße Behandlung der Krankheiten (7. Aufl., Leipz. 1904); Walser, Die neue Naturheilmethode (2. Aufl., Posen 1893) und Neuestes Handbuch der N. (Reutling. 1898); Schönenberger und Siegert, Die N. (10. Aufl., Berl. 1902); M. und S. Böhm, Lehrbuch der Naturheilmethode (Chemn. 189497, 2 Bde.); Kühner, Handbuch der N. (2. Aufl., Neuwied 1894); »Bibliothek der gesamten N.« (Berl., bis 1905: 20 Bde.); Prager, Die Vor- und Nachteile der Naturheilmethode (Leipz. 1890); die Schriften von Heinr. Lahmann (s. d.); Wilhelm, Die Naturärzte und das neue Naturheilverfahren (Wien 1898). Zeitschriften: »Der Naturarzt«, Organ des deutschen Bundes der Vereine für Naturheilkunde (Berl., seit 1872); »Natur- und Volksheilkunde« (Verband der Vereine für Natur- und Volksheilkunde, Altenburg, seit 1891); »Der Gesundheitsrat« (Leipz.); »Naturärztliche Zeitschrift« (Berl.), »Freies hygienisches Blatt« (Leipz.) u.a.