Ornamentik, vorgeschichtliche

[134] Ornamentik, vorgeschichtliche. Die älteste bis jetzt nachweisbare Kunst des europäischen Menschen finden wir bei den Paläolithikern, besonders denen des südlichen Frankreich und der deutschen Schweiz. Sie fällt noch in die Zeit der Mammut- und Renntierjäger und gleicht in ihren Charakterzügen ganz auffallend der Kunst der Jäger unter den Naturvölkern von heute, der Buschmänner und Australier (s. Kunst der Naturvölker). Die Wiedergabe von Tier und Mensch waltet in sehr hohem Maße vor (s. Tafel »Kultur der Steinzeit III«), daneben finden sich auf Knochen und Geweihstücken, seltener auf weichem Stein Striche und Schnitte, die zuweilen in Gruppen geordnet erscheinen, Bänder bilden, in wechselnder Richtung nebeneinander gesetzt sind, Bogen- oder Wellenlinien, auch Figuren, die an die Säge eines Sägefisches oder die Rückenzeichnung einer Schlange erinnern, konzentrische Kreise und Spiralen bilden. Über Entwickelungsgang und Bedeutung dieser geometrischen Ornamente wissen wir nichts; soweit sie Tierkörpern eingezeichnet sind, mögen sie stilisierte Behaarung bedeuten.

Die Kunst der jüngern Steinzeit bedeutet einen Fortschritt gegen die des Paläolithikums nur auf einzelnen Gebieten: in der Baukunst leistet diese Periode Großes (s. Megalithische Denkmäler und Gräber, vorgeschichtliche), sehr wenig dagegen in der Bildnerei und der Zeichenkunst. Vielgestaltig ist nur die Ornamentik, namentlich soweit sie sich an der kulturell wichtigen Errungenschaft der Töpferei betätigt. Näheres s. Gefäße, vorgeschichtliche. Farbige Ornamente sind in dieser Zeit noch selten, doch sind sie in Südeuropa früher vorhanden als im Norden. Aus diesem sind bisher nur erst wenige Funde (Niederösterreich, Znaim, Worms) bekannt.

In der frühen Metallzeit (Kupfer- und Bronzezeit) bleibt das Ornament im wesentlichen noch geometrisch. Zum Teil werden die geradlinigen Muster der neolithischen Keramik weitergeführt, neben ihnen entwickelt sich die gebogene Linie zum Leitmotiv der Ziermuster. Demgemäß schwelgt das Bronzealter förmlich in Kreisen, Halbkreisen, einfachen und fortlaufend sich überschlagenden Wellenlinien, vor allem aber in der Spirale (s. Tafel »Kultur der Metallzeit II«, Fig. 4, 6–13, 26–28). Diese hat wohl ihren Weg von Südosten her (Ägypten, Mykenä) genommen; sie hat sich indessen, wie so vieles andre, in Mittel- und Nordeuropa selbständig weiterentwickelt. So lassen die Wellenlinien der skandinavischen Bronzeornamentik oft die Gestalt von Schiffen erkennen, wie sie uns in den Hällristningar (s. Felsenbilder, vorgeschichtliche) entgegentreten, oder aber sie verwandeln sich in die Umrisse von allerlei Tieren, Drachen, Schlangen, Seepferden etc. (s. Tafel »Kultur der Metallzeit II«, Fig. 23 u. 26), die für die nordische Bronzezeitornamentik so charakteristisch sind. In der Keramik machen die zarten, geradlinigen, anscheinend punktierten Muster der jüngern Steinzeit jetzt derbern, vorwiegend plastischen Zierweisen Platz: Buckeln, Warzen und andern vorspringenden Zieraten, dann auch Rippungen und Riefungen. Die Entstehung der Haus- und Gesichtsurnen (s. Gefäße, vorgeschichtliche, und Hausurnen) gehört dieser Zeit an.

Noch weniger einheitlich als die Ornamentik der Bronzezeit ist die der ersten Eisenzeit, der Hallstattstufe, und der La Tène-Zeit; überall lassen sich örtliche und zeitliche Verschiedenheiten feststellen. Lediglich die dauernde Kreuzung fremder Schmuckströmungen mit bodenwüchsiger Zierkunst läßt sich als Grundregel feststellen. Auf der Hallstattstufe betätigt sich die Tierornamentik vorwiegend in, plastischen Vogel-, Pferde- und Rinderkopfendungen (s. Tafel »Kultur der Metallzeit II«, Fig. 23). Im Flachornament herrscht hier und da das rein Geometrische vor; es liebt aber größere Muster. Die Vorliebe für Buckel und Warzen hält an. Die Ornamentik der La Tène-Zeit ist arm wie die Kunst dieser Zeit überhaupt; die Betonung der Zweckmäßigkeit steht im Vordergrunde. Früh-La Tène ist eine Tierkopffibel (Schlangenfibel, s. Tafel »Kultur der Metallzeit III«, Fig. 5 u. 7). Sonst erscheinen die alten geometrischen Linien pflanzen stengelartig geschwungen; selbst die Tierfiguren werden arabeskenhaft verschnörkelt und laufen an allen Enden, Hörnern, Füßen, am Schwanz, oft selbst am Maul, in pflanzenartige Ranken aus (s. dieselbe Tafel, Fig. 19). Häufig ist noch die Spirale, das Triquetrum u.a. Auch die Verzierung der Stücke mit Schmelz und farbigen Pasten, die schon in der Hallstattkunst beginnt (Barbarenemail), ist in dieser Zeit häufig.

Die auf die La Tenè-Zeit folgenden Jahrhunderte stehen in außerordentlich hohem Grad unter dem Bann des römischen Einflusses, ohne daß dieser jedoch die alten Muster ganz verdrängt oder eine selbständige Weiterentwickelung der Ornamentik ganz verhindert. hätte. Soz. B. ist das römische Pflanzenornament in Nordeuropa nicht übernommen worden; die Tierornamentik aber bildet über die hellenistisch-römischen Muster hinaus massenhaft neue. In der Völkerwanderungs- und Merowingerzeit waltet als Zier mittel der mit farbigen Glaspasten, farbigen Steinen und Halbedelsteinen ausgefüllte Zellenbelag[134] vor, als Zierform bevorzugt (besonders in der Merowingerzeit, 500–750), die deutsche und die französische Kunst das Bandgeflechtornament (s. Tafel »Kultur der Metallzeit IV«, Fig. 10, 11 u. 14), während die skandinavische, die irische und die angelsächsische Kunst ihr Hauptgewicht auf Tiermotive legen.

Der Ursprung der vorgeschichtlichen Ornamente geht sicher nicht auf Eine Quelle zurück. Viele sind ein Produkt der Naturnachahmung; diese hat den Paläolithikern nicht nur ihre großartige Tierornamentik, sondern sicher auch geometrische Motive geliefert, die in Tier- und Pflanzenwelt ja auch massenhaft vertreten sind. Eine zweite Grundlage der Ornamentik ist sodann in der Technik gegeben; natürliche Muster entstehen beim Flechten und Weben; unbeabsichtigte leicht beim Töpfern, beim Umwickeln eines Gegenstandes mit Stoff, Bändern etc. Eine dritte große Gruppe endlich ist aus sinnbildlichen Vorstellungen hervorgegangen. Vgl. die Literatur bei Artikel »Kunst der Naturvölker«; eine ausführliche Bibliographie s. bei Woermann, Geschichte der Kunst aller Zeiten und Völker, Bd. 1 (Leipz. 1900).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 15. Leipzig 1908, S. 134-135.
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