[752] Spinōza (eigentlich d'Espinosa), Baruch (Benedikt), berühmter Philosoph, geb. 24. Nov. 1632 in Amsterdam als Sohn jüdischer Eltern portugiesischen Ursprungs, gest. 21. Febr. 1677 im Haag, besuchte die Schulen der portugiesisch-jüdischen Gemeinde in Amsterdam, ohne jedoch einen theologischen Grad zu erwerben, wurde seiner freien Religionsanschauungen wegen in den Bann getan (1656), lebte 166063 in Rijnsburg bei Leiden, dann bis 1670 in Voorburg beim Haag, zuletzt im Haag, wo er sich seinen Unterhalt zum Teil durch Schleifen optischer Gläser erwarb, sonst von Freunden durch ausgesetzte Jahrgelder unterstützt ward. Eine ihm 1673 vom Kurfürsten von der Pfalz angebotene Professur in Heidelberg schlug er aus, um sich die volle Freiheit des Denkens wahren zu können, und starb arm und unvermählt an der Lungenschwindsucht. Ein Standbild (von Hexamer) ist ihm 1880 im Haag errichtet worden. Über die Entwickelung seines Gedankenkreises steht so viel fest, daß er talmudistische Studien gemacht hatte und mit den Cartesianischen Schriften und Giordano Bruno zeitig genauer bekannt wurde. Die religiöse Freigeisterei der Kollegianten in Amsterdam und Rijnsburg hatte gleichfalls Einfluß auf ihn. Zuerst verfaßte er, noch vor 1660, den »Traktat über Gott und den Menschen und dessen Glückseligkeit« (»De deo et homine eiusque felicitate«). Es war dies der erste Entwurf seines Systems, erst in neuerer Zeit von van Vloten aufgefunden und zwar in holländischer Sprache, in der er vielleicht sogar niedergeschrieben war. Es folgten der »Traktat über die Verbesserung des Verstandes« (»De intellectus emendatione«, unvollständig), der »Theologisch-politische Traktat« (»Tractatus theologico-politicus«, 1670 anonym erschienen), ferner eine wenig selbständige Darstellung der Cartesianischen Prinzipien (»R. des Cartes Principiorum philosophiae pars I et II more geometrico demonstratae«, Amsterd. 1663). Das epochemachende Hauptwerk, die »Ethik« (»Ethica ordine geometrico demonstrata«), wurde erst nach seinem Tode von dem Amsterdamer Arzte Schuller herausgegeben zusammen mit dem »Traktat über die Verbesserung des Verstandes«, dem »Politischen Traktat« (»Tractatus politicus«, unvollendet), dem für die Erklärung seiner Schriften wichtigen Briefwechsel und einem Kompendium der hebräischen Grammatik, unter dem Titel »Opera posthuma«, Amsterdam 1677. Spinozas »Ethik« ist der Form nach, im Gegensatz zu der analytischen (regressiven, von den Folgen auf die Gründe zurückgehenden) Denkweise des Descartes, in synthetischer (progressiver, von dem ersten Grund zu den äußersten Folgerungen fortschreitender) Darstellung und nach der mathematischen Methode des Eukleides in Grundbegriffen, Axiomen, Propositionen, Demonstrationen und Korollarien abgefaßt, wodurch sie, gleich ihrem Vorbilde, den Anschein unumstößlicher Gewißheit empfängt. Dem Inhalt nach stellt sie gleichfalls einen Gegensatz zum Cartesianismus dar, indem an die Stelle der dualistischen eine monistische Metaphysik tritt. Spinozas Philosophie knüpft daher zwar an die des Descartes (s. d.) an, aber nur, um dessen System der Form und dem Inhalt nach aufzuheben. Sie ist mit ihrer Vorgängerin zwar darüber einverstanden, daß Geist, dessen Wesen im Denken, und Materie, deren Wesen in der Ausdehnung besteht, einen Gegensatz bilden; jener ohne das Merkmal der Ausdehnung, diese ohne das des Denkens gedacht werden kann. Aber S. leugnet, daß dieser Gegensatz ein Gegensatz zwischen Substanzen (Dualismus) sei, sondern setzt ihn zu einem solchen zwischen bloßen »Attributen« ein und derselben Substanz herunter. Da nämlich aus dem Begriff der Substanz, d. h. eines Wesens, das seine eigne Ursache (causa sui) ist, folgt, daß es nur eine einzige geben kann, so können Geist und Materie, die zwei angeblichen Substanzen des Cartesius, nicht selbst Substanzen, sondern sie müssen Attribute einer solchen, der wahren und einzigen Substanz, sein, die an sich weder das eine noch das andre ist. Diese einzige Substanz, die als solche mit Notwendigkeit existiert, und zu deren Natur die Unendlichkeit gehört, nennt S. Gott (deus), dasjenige, was der Verstand (intellectus) von ihr als ihr Wesen (essentia) ausmachend erkennt, Attribut. Die Substanz selbst besteht aus unendlichen Attributen, deren jedes nach seinem Wesen deren ewige und unendliche Wesenheit ausdrückt. Zwei dieser Attribute sind nun Denken und Ausdehnung, dieselben, die, nach Descartes, als Wesen des Geistes und der Materie diese zu zweierlei entgegengesetzten Substanzen machen sollten; unter dem erstern aufgefaßt, erscheint die Substanz dem Intellekt als das unendlich Denkende (als unendliche Geisteswelt), unter dem zweiten aufgefaßt, als das unendlich Ausgedehnte (als unendliche Stoffwelt); beide sind, da außer Gott keine andre Substanz existiert, der Substanz nach identisch, keine qualitativ entgegengesetzten Substanzen mehr, weshalb der Cartesianische Einwand gegen die Möglichkeit der [752] Wechselwirkung zwischen Geist und Materie, Seele und Leib beseitigt erscheint. Hiermit ist im Gegensatz zu dem gewöhnlichen und cartesianischen Dualismus der entschiedene Monismus gelehrt. Das unendliche, als solches unbestimmte Denken zerfällt nun durch inhaltliche Bestimmungen in unzählig viele Gedanken (Ideen); die unendliche, als solche unbegrenzte, Ausdehnung zerfällt durch räumliche Begrenzung in unzählig viele Stoffmassen (Körper), die sich untereinander ebenso gegenseitig ausschließen, als sich in stetiger Reihenfolge gegenseitig berühren. S. bezeichnet diese Bestimmungen als Modi, d. h. als Affektionen der Substanz, die Ideen als solche, insofern die Substanz unter dem Attribut des Denkens, die Körper als solche, insofern sie unter dem Attribut der Ausdehnung vorgestellt wird. Da beide Attribute der Substanz nach identisch sind, das unendliche Denken aber der Summe aller einzelnen Denkbestimmungen (Ideen), die unendliche Materie der Summe aller einzelnen begrenzten Stoffteile (Körper) gleich ist, so müssen auch diese beiden in ihrer stetigen Reihenfolge untereinander (der Substanz nach) identisch, und kann zwischen der (idealen) Gesetzmäßigkeit des Ideenreichs und der (mechanischen) Gesetzmäßigkeit der Körperwelt kein Gegensatz vorhanden sein. S. stellt daher nicht nur den Satz auf, daß aus dem unendlichen Wesen Gottes (als natura naturans) Unendliches auf unendlich verschiedene Weise folge (als natura naturata), sondern auch den weitern, daß die Folge und Verknüpfung der Ideen, die ideale, und jene der ausgedehnten Dinge, die reale Weltordnung, ein und dieselbe (ordo et connexio idearum idem est ac ordo et connexio rerum) seien, womit die Identitätsphilosophie ausgesprochen ist.
Folge des erstern Satzes ist, daß die Gesamtsumme der Wirkungen Gottes, die Welt der Erscheinungen, ihrer Beschaffenheit sowohl als ihrer Verknüpfung nach als eine unabänderliche, von Ewigkeit her feststehende, angesehen werden muß. Folge des zweiten ist, daß die im Reiche des Geistes waltende Gesetzlichkeit von der das Reich der Materie regelnden (mechanischen) nicht verschieden, das die Erscheinungen der Natur ausnahmslos beherrschende Kausalgesetz daher auch das die Erscheinungen des Geistes bestimmende sei. So wenig in der Körperwelt eine Wirkung ohne zwingende Ursache, so wenig ist in der Geisteswelt ein Willensentschluß ohne nötigendes Motiv möglich, womit der volle Determinismus gegeben ist. Die geistigen wie körperlichen Erscheinungen selbst als Entfaltung der Substanz (des all-einen Seins) sind weder das Werk einer Vorsehung, da die Substanz als solche weder Intelligenz noch Willen besitzt, von einem »Weltplan« nicht die Rede sein kann, noch eines blinden Verhängnisses, da die Substanz Ursache ihrer selbst und von nichts außer ihr abhängig ist. Die Beschaffenheit und Reihenfolge der Erscheinungen sind nicht durch Zwecke, sondern lediglich durch wirkende Ursachen bestimmt; sie und weder gut (nützlich) noch schlecht (schädlich), sondern einfach notwendig. Als solche ist die Welt weder die beste noch die schlechteste unter mehreren möglichen, sondern die einzig mögliche. Die Erkenntnis dieser unabänderlichen Weltordnung ist es, die den Weisen vom Toren scheidet. Während der letztere vom Weltlauf die Erfüllung seiner Wünsche hofft oder deren Gegenteil fürchtet, erkennt der erstere, daß jener unabhängig von diesen unabänderlich feststeht und daher weder Hoffnung noch Furcht einzuflößen vermag. Die philosophische Erkenntnis besteht darin, die Dinge zu schauen unter dem Gesichtspunkte der Ewigkeit, sub specie aeternitatis, d. h. jedes Einzelne (Idee, Körper, Ereignis) im Zusammenhang als Glied des unendlichen Ganzen, als aus Gott ewig und notwendig hervorgehend. Die philosophische Gemütsstimmung besteht einerseits in der Resignation, d. h. in der Ergebung, die aus der Erkenntnis der Notwendigkeit, anderseits in der intellektualen Liebe zu Gott, die aus der Erkenntnis der (ursprünglichen) Göttlichkeit des Weltlaufs entspringt und darin besteht, daß wir Freude haben in der Zurückführung der Din ae auf Gott in adäquater Erkenntnis. An das unadäquate Erkennen, Wahrnehmen, Vorstellen, wobei die Dinge als selbständig, frei angesehen werden, knüpfen sich die leidenden Zustände der Seele, die Affekte, die den Menschen in Knechtschaft bringen, im Gegensatz zur Freiheit, die in der intellektualen Liebe zu Gott besteht und zugleich Glückseligkeit ist. In der Erörterung dieser Affekte bietet S. Treffliches. Wird so für die Resignation wie für die Liebe zu Gott Erkenntnis des Wesens der Welt als Enthüllung Gottes vorausgesetzt, so ist es erklärlich, wie die pantheistische Metaphysik die unentbehrliche Vorbedingung zu der Ethik Spinozas bildet, und wie das erste Buch der »Ethik« von Gott (de deo) handelt. Sowohl wegen des echt philosophischen Ergebnisses in praktischer Hinsicht wie wegen des auf den Zusammenhang des Ganzen als Weltorganismus gerichteten Blickes (den übrigens Leibniz zum mindesten im gleichen Grade besaß) in theoretischer Hinsicht hat die Philosophie Spinozas, die anfänglich nur in Holland einen kleinen Kreis von Anhängern fand (den Arzt Meyer, Schuller u. a.), ein Jahrhundert später bei Größen ersten Ranges, wie Lessing, Jacobi, Herder, Goethe u. a., Bewunderung, bei Fichte, Schelling, Hegel mehr oder weniger eingestandene Nachahmung gefunden. Eine vollständige Ausgabe der Werke Spinozas, abgesehen von dem erst später gefundenen Traktat »Über Gott« etc., wurde von Paulus veranstaltet (Jena 1802, 2 Bde.); eine andre von Gfrörer im »Corpus philosophorum optimae notae«, Bd. 3 (Stuttg. 1830, ohne die hebräische Grammatik). Korrekter als die erstgenannte, aber ohne die wichtige Biographie des Colerus (Neudruck, Haag 1906), ist die Ausgabe von Bruder (Leipz. 184346, 3 Bde.); eine alles umfassende gute Ausgabe besorgten J. van Vloten und J. P. N. Land (Haag 188283, 2 Bde.; auch 1895, 3 Bde.). Deutsche Übersetzungen lieferten B. Auerbach (2. Aufl., Stuttg. 1871, 2 Bde.), Kirchmann und Schaarschmidt in der »Philosophischen Bibliothek«. Den »Tractatus de deo et homine« (hrsg. von pan Vloten, Amsterd. 1862, und von Ginsberg, Leipz. 1877) hat Sigwart (Tübing. 1870) ins Deutsche übersetzt und erläutert. Über die S. betreffende Literatur vgl. van der Linde, Spinoza (Götting. 1862), auch Überweg-Heinze, Grundriß der Geschichte der Philosophie, Bd. 3 (10. Aufl., Berl. 1907); über Spinozos Leben und Philosophie: Sigwart, Der Spinozismus, historisch und philosophisch erläutert (Tübing. 1839); Trendelenburg, Historische Beiträge zur Philosophie, Bd. 2 und 3 (Berl. 185567); K. Fischer, Spinozas Leben, Werke und Lehre (4. Aufl., Heidelb. 1898; Bd. 2 der »Geschichte der neuern Philosophie«); Camerer, Die Lehre Spinozas (Stuttg. 1877); Freudenthal, S. und die Scholastik in den »Philosophischen Aufsätzen, Ed. Zeller gewidmet« (Leipz. 1887), Die Lebensgeschichte Spinozas in Quellenschriften, Urkunden und nichtamtlichen Nachrichten (das. 1898)[753] und S. Sein Leben und seine Lehre (Stuttg. 1904, Bd. 1); Grunwald, S. in Deutschland (Berl. 1897); J. Martineau, A study of S. (3. Aufl., Lond. 1895); Pollock, S., his life and philosophy (das. 1880); Baltzer, Spinozas Entwickelungsgang (Kiel 1888); E. Caird, S. (in den »Philosophical classics«, Lond. 1888 u. ö.); Meinsma, S.en zijn kring (Haag 1896); Gebhardt, Spinozas Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes (Heidelb. 1905, Teil 1); Günther, Der Kausalitätsbegriff bei S. (Wolgast 1905); Couchoud, Benoit de S. (Par. 1902); Brunschvicg, Spinoza (2. Aufl., das. 1906); W. Bolin, Spinoza (Berl. 1894). B. Auerbach behandelte Spinozas Entwickelungszeit in einem Roman von freier Fabel, historisch ist sein ganzes Leben in O. Hausers Roman »Spinoza« (Stuttg. 1907) dargestellt.
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