Reifeprüfung

[748] Reifeprüfung an höhern Lehranstalten (Abiturienten- oder Maturitätsexamen). Früher hatten in Deutschland allgemein die Universitäten über die Zulassung zum akademischen Bürgerrecht selbständig zu entscheiden und demgemäß die Ankommenden zu prüfen. Die große Verschiedenheit der Ausübung dieses Rechts bei den einzelnen Akademien veranlaßte, daß 1788 (23. Dez.) in Preußen eine nach allgemeinen Grundsätzen abzuhaltende R. an den gelehrten Schulen angeordnet wurde, deren Bestehen von der akademischen Aufnahmeprüfung befreite. Allgemein vorgeschrieben als Bedingung der akademischen Immatrikulation für Inländer wurde diese R. durch die Instruktion vom 25. Juni 1812 (Edikt vom 12. Okt. 1812). Durch Kabinettsorder vom 23. Juni 1834 wurde eine neue Prüfungsordnung für Gymnasien erlassen, die mit einigen Abänderungen (namentlich vom 12. Jan. 1856) bis 1882 gegolten hat. Für höhere Bürger- und Realschulen ward 8. März 1832 eine vorläufige Instruktion und 6. Okt. 1859 eine neue Prüfungsordnung gegeben, welch letztere 1880 auf die aus den Gewerbeschulen hervorgegangenen Oberrealschulen (Realschulen erster Ordnung ohne Latein) sinngemäß ausgedehnt wurde. Inzwischen waren zufolge des Bundesbeschlusses vom 13. Nov. 1834 (Art. 2) in den meisten deutschen Staaten entsprechende Maßregeln getroffen (in Hannover schon 1829, in Österreich erst 1849) und, da seit 1866 der Norddeutsche Bund, seit 1871 das Deutsche Reich wegen der militärischen Berechtigungen mitbeteiligt war, auf Anlaß des Reichskanzlers 1872 auf einer Konferenz in Dresden gewisse Grundzüge als allgemein maßgebend vereinbart, über deren Innehaltung seit 1875 die Reichsschulkommission (s. d.) zu wachen hat. Im Anschluß an die neuen Lehrpläne vom 31. März 1882 erließ sodann der preußische Minister v. Goßler 27. Mai 1882 eine neue Prüfungsordnung für sämtliche höhere Schulen, die wiederum durch die Prüfungsordnung vom 6. Jan. 1892 im einzelnen verändert und durch die gegenwärtig geltenden vom 27. Okt. 1901 für die R. an den neunstufigen höhern Lehranstalten und vom 30. Okt. 1901 für die Schlußprüfung an den sechsstufigen höhern Schulen ersetzt ist. Die wesentlichsten Vorschriften des Regulativs vom 27. Okt. 1901 sind folgende: Die Prüfungskommission besteht aus dem Kommissar des Provinzialschulkollegiums (Schulrat; Vertreter: Direktor), dem Direktor, dem etwaigen Patronatskommissar, den wissenschaftlichen Lehrern der obersten Klasse und an Realanstalten dem Zeichenlehrer dieser Klasse. Die Meldung geschieht drei Monate vor Beginn der Prüfung und darf, von besondern Ausnahmefällen abgesehen, erst im zweiten Halbjahr des Besuches der Oberprima erfolgen. Über die Zulassung entscheidet das Provinzialschulkollegium; jedoch kann die Vorkonferenz (Direktor und Lehrer) schon zuvor solche Bewerber zurückhalten, denen nach ihrem einstimmigen Urteil die sittliche oder wissenschaftliche Reise fehlt. Die Aufgaben für die schriftliche Prüfung bestimmt auf Vorschlag des Lehrerkollegiums der Kommissar. Es sind anzufertigen: 1) an Gymnasien: deutscher Aufsatz, Übersetzungen aus dem Deutschen ins Lateinische, aus dem Griechischen und dem Französischen ins Deutsche, mathematische Arbeit (vier Aufgaben); 2) an Realgymnasien: deutscher und französischer oder englischer Aufsatz oder Übersetzung in die fremde Sprache, Übersetzung aus dem Lateinischen ins Deutsche, mathematische (vier Aufgaben) und physikalische Arbeit (eine Aufgabe); 3) an Oberrealschulen fällt die Übersetzung ins Lateinische fort; dagegen ist neben dem deutschen Aufsatz und den vier mathematischen Aufgaben eine französische und eine englische Arbeit zu liefern, und zwar in einer Sprache ein Aufsatz und eine Aufgabe aus Physik oder Chemie zu bearbeiten. Die Beurteilung der schriftlichen Arbeiten geschieht durch die Fachlehrer nach der Stufenleiter der Zeugnisse: »sehr gut«, »gut«, »genügend«, »nicht genügend«. Der Kommissar des Schulkollegiums kann die gefällten Urteile beanstanden. Vor Eintritt in die mündliche Prüfung wird festgestellt, ob ein Prüfling von ihr auf Grund der schriftlichen Arbeiten und der Klassenzeugnisse auszuschließen oder zu entbinden ist. Jenes geschieht, wenn die Mehrzahl der Arbeiten nicht genügt und bereits bei der Meldung vom Lehrerkollegium die Reise als zweifelhaft bezeichnet ist; dieses, wenn alle schriftlichen Arbeiten im Ein klang mit den Klassenprädikaten mindestens genügend ausgefallen sind und das Betragen des Schülers tadel frei ist. Auch von der mündlichen Prüfung in einzelnen Fächern kann der Prüfling bei entsprechender Sachlage befreit werden. Am Schluß der mündlichen Prüfung wird das Ergebnis zunächst für jedes Fach auf Grund der Klassenleistungen, der schriftlichen und der mündlichen Prüfung festgestellt; sodann für die ganze Prüfung. Diese gilt als bestanden, wenn überall die Leistungen genügten. Ausgleich einzelner Ausfälle durch mindestens gute Leistungen in andern Fächern kann angenommen werden; doch gelten dabei folgende Einschränkungen: a) Die als nicht genügend bezeichneten Leistungen, deren Ausgleichung in Frage kommt, dürfen nicht unter das Maß hinabgehen, das für den Eintritt in die Klasse Prima zu fordern ist; b) das Gesamturteil »nicht genügend« darf nur für je einen unter folgenden Lehrgegenständen des Gymnasiums: Deutsch, Latein, Griechisch, Mathematik; des Realgymnasiums: Deutsch, Latein, Französisch, Englisch, Mathematik; der Oberrealschule: Deutsch, Französisch, Englisch, Mathematik, Physik, und zwar nur dann als ausgeglichen angesehen werden, wenn das Gesamturteil in einem andern der namentlich aufgezählten Unterrichtsfächer mindestens »gut« lautet. Dem leitenden Kommissar steht das Recht des Einspruchs gegen den Beschluß der Kommission zu; im Falle des erhobenen Einspruchs entscheidet das vorgesetzte Provinzialschulkollegium. Auf Grund der bestandenen Prüfung erhält der Geprüfte das Zeugnis der Reise (Maturitätszeugnis, Absolutorium), das zum Besuch der Universität (theologische Fakultät: nur Gymnasium,[748] medizinische: Gymnasium oder Realgymnasium) oder der Technischen Hochschule, ferner zum einjährig-freiwilligen Dienst im Heer und auf der Flotte berechtigt. Das Reifezeugnis einer Oberrealschule kann durch bloße Nachprüfung im Latein zu einem solchen des Realgymnasiums, ebenso dieses oder jenes durch Nachprüfung im Latein und im Griechischen zum Reisezeugnis des Gymnasiums ergänzt werden. Auswärtige (Extraneer), die eine R. abzulegen wünschen, haben sich bei dem Provinzialschulkollegium ihrer Heimatsprovinz, wenn sie im Ausland leben oder bereits eine Universität, Technische Hochschule etc. besuchen, bei dem Unterrichtsminister zu melden. Sie werden dann einer bestimmten Anstalt zugewiesen und unter analoger Anwendung obiger Vorschriften getrennt von den Schülern der Anstalt geprüft. Durch Übereinkünfte der deutschen Staatsregierungen von 1874 (Gymnasien), 1889 (Gymnasien und Realgymnasien), 1904 (Gymnasien, Realgymnasien, Oberrealschulen) ist dafür gesorgt, daß die R. (in Bayern: Absolutorium) überall in der Hauptsache nach denselben Maßstäben und Grundsätzen gehalten und demgemäß das zuerkannte Reifezeugnis gegenseitig anerkannt wird. Jedoch bedürfen deutsche Reichsangehörige, die außerhalb ihres Heimatsstaates die R. als Extraneer ablegen wollen, und ebenso Schüler, die innerhalb der letzten drei Jahres- und Klassenstufen in eine Anstalt außerhalb ihres Heimatsstaates eingetreten sind, ohne durch den Wohnsitz der Eltern oder deren Stellvertreter etc. darauf angewiesen zu sein, behufs Gültigkeit des Reifezeugnisses besonderer Erlaubnis ihrer heimischen obersten Schulbehörde. Vgl. »Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen«, 1882; für Bayern: »Allerhöchste Verordnung vom 23. Juli 1891« (Ansbach 1891); Beier, Die höheren Schulen in Preußen und ihre Lehrer (2. Aufl., Halle 1902, nebst Ergänzungsheften von 1904 und 1906); Morsch, Das höhere Lehramt in Deutschland und Österreich (Leipz. 1905); »Deutsche Schulgesetzsammlung« (Berl. 1872 ff.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 16. Leipzig 1908, S. 748-749.
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