Civilisation

[173] Civilisation (v. lat.), der Zustand der menschlichen Gesellschaft, in welchem sich das geistige Wesen zur Herrschaft über die thierische Natur des Menschen erhoben hat u. die Gesellschaft, sich dieses Zustandes bewußt, demselben in ihren privaten u. öffentlichen Lebenseinrichtungen einen thatsächlichen Ausdruck gibt. Die C. geht gemeiniglich mit der fortschreitenden Cultur (s.d.), dem Streben der Menschen nach Freiheit u. materiellem Wohlergehen Hand in Hand; doch ist die Cultur nicht nothwendig Begleiterin der C., welche sich, u. sei es auch nur äußerlich, erhalten kann, wenn jene bereits ihrem Untergange entgegengeht, so im Römischen Reiche zur Zeit des Verfalls; ein hochcultivirtes Volk, wie die Chinesen, nimmt in der C. nur eine niedrige Stufe ein, u. die barbarische Natur der Menschen kann zu Zeiten bei aller Cultur die C. vernichten, wie es zur Zeit der Schreckensherrschaft in Frankreich geschah. Den civilisirten Völkern gegenüber stehen die uncivilisirten. Bei diesen überwiegt noch der Naturtrieb, u. das geistige Element erscheint vorerst nur als ein instinctives, sich in Sitten u. Gebräuchen offenbarend. Völker, denen die C-sfähigkeit fehlt, pflegt man Barbaren zu nennen, eine Bezeichnung, welche ehedem die civilisirten Völker auf alle fremden Volksstämme ausdehnten, die nur uncivilisirt waren, später aber eine selbstständige C. unter Aufnahme u. Aneignung fremder C-selemente entwickelten; so die germanischen Völker im Mittelalter. Die C. der Völker beginnt mit ihrer Organisation zu staatlichen Gemeinwesen (worauf auch der Ursprung des Wortes Civis, Civitas deutet) u. erreicht einen um so höheren Grad, als der Staat die Rechte eines Jeden gegenüber den barbarischen Gelüsten, der Willkür u. Gewalt Einzelner schützt. Der politische Fortschritt ist daher auch ein Fortschritt der C., deren höchste Stufe erst dann erreicht ist, wenn sie alle Volksklassen durchdringt u. das Rechtsbewußtsein, wie das Sittlichkeitsgefühl in allen Angehörigen des Staates feste Wurzeln geschlagen hat. Insofern sich die C. auf das Verhältniß der Menschen zu einander bezieht, unterscheidet sie sich wesentlich von der Religion, die zwar auch auf dieses Verhältniß einen mächtigen, civilisirenden Einfluß üben kann, aber zunächst nur die Beziehung des Menschen zur Gottheit im Auge hat. Religiöse Bestrebungen sind oft mit der C. in schneidenden Gegensatz getreten, u. die niedrige Stufe religiöser Bildung, auf welcher Griechen u. Römer standen, war kein Hinderniß zur Ausbildung civilisirter Staats- u. Gesellschaftsformen. Aufunsere moderne europäische C. ist das Christenthum zwar von weitgreifendem Einflusse gewesen, aber es ist nicht der einzige Factor derselben, vielmehr wirkten neben den humanen Grundsätzen, die es predigte, auch die überkommenen Elemente der griechisch-römischen C. mit. Als dritte civilisirende Macht ist dabei ferner die durch ein starkes Sittlichkeitsgefühl gezügelte Naturkraft der germanischen Völker in Betracht zu ziehen, welche von der antiken C. befruchtet, eine neue Blüthe derselben zur Entwickelung brachte. Hatte die C. im Alterthum einen hauptsächlich nationalen Charakter u. war sie dadurch in ihrer Entwickelung beschränkt, so gab ihr das Christenthum ein allgemein menschliches Gepräge; u. wenn auch noch jetzt jede Nation gewisse Eigenthümlichkeiten in ihrer C. bewahrt, so ist doch der Fortschritt der einen zugleich ein Fortschritt der gesammten civilisirten Menschheit, da der Verkehr der Völker immer mehr in einander greift u. ihre Beziehungen zu einander inniger u. fester geworden sind. Vergl. Guizot, Histoire de la civilisation en Europe, 4. Aufl., Par. 1840 (deutsch von Sachs, Stuttg. 1844).

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 4. Altenburg 1858, S. 173.
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