Guyon [1]

[801] Guyon (spr. Güjong), Jeanne Marie de la Mothe G., geb. Bouviere, geb. 13. April 1648 in Montargis in Orleans aus adliger Familie, wurde als Kind bei den Ursulinerinnen erzogen u. erhielt hier eine strenge religiöse Richtung, da es ihr aber nicht gelang in ein Kloster aufgenommen zu werden, so. legte sie sich selbst allerhand Kasteiungen auf; 16 Jahre alt heirathete sie nach dem Willen ihrer Eltern den Herrn de la Mothe G. u. gebar 5 Kinder, führte aber mit G., einem kränklichen alten Manne, eine unglückliche Ehe u. setzte ihre strenge Ascese fort. Von diesem äußerlichen Gottesdienst schied sie sich, nachdem sie 1670 von einem Franciscaner zur Mystik des Molinas, dem sogenannten Quietismus, geführt war. 1676 wurde sie Witwe u. gelobte nie wieder zu heirathen; der Mystiker Bertot, ihr Gesinnungsverwandter; wurde ihr Beichtvater, nach dessen Tode 1681 sie Paris verließ u. Superiorin im Hause der Neubekehrten in Gex wurde. Nach kurzem Aufenthalt hier, wo sie wenig Gehör für ihre Bekehrungsversuche fand, durchzog sie 5 Jahre mit ihrem neuen Beichtvater Lacombe sowohl Savoyen u. Piemont, als das Rhonegebiet bis Marseille u. Genua, um die Reformirten zur Katholischen Kirche zurückzuführen, u. da sie deren wenige fand, die schon Bekehrten zum inneren Leben zu leiten. Diese Zeit wurde die Blüthenzeit ihrer Schwärmerei; seit ihrem Gexer Aufenthalte hatte sie Visionen u. in einer derselben die Offenbarung erhalten, daß sie die Mutter der Gläubigen werden würde. Mit Lacombe trat sie nun in das intime Verhältniß, daß sie seine Gnadenmutter u. er ihr geistiger Sohn wurde. Sie fühlte sich jetzt auch zur Schriftstellerei getrieben u. schr.: Les torrens, Lyon 1683; Le moyen court et tres facile pour l'oraison, ebd. 1684, u. die Erklärung des Hohen Liedes u. der Offenbarung Johannis 1684. Sie stiftete auch eine besondere Congregation der Kindheit-Jesu-Genossen u. verfaßte für dieselben eine eigne Regel. Endlich ihres Umherschweifens müde kehrte sie 1686 mit Lacombe nach Paris zurück. Aber schon im folgenden Jahre begann die Verfolgung des Quietismus, u. nachdem Lacombe 1687 eingesperrt worden war, traf sie, nachdem ihre Lehre von Papste verdammt worden war, 1688 gleiches Loos; im Gefängniß beschäftigte sie sich mit der Abfassung ihrer Lebensbeschreibung u. Schriften über religiöse Gegenstände; 1689 befreit, blieb sie in Paris u. wurde eine Zeitlang bei der Maintenon beliebt; auch Fénélon erklärte sich für sie, doch konnte er nicht hindern, daß sie bei der Fortsetzung ihrer mündlichen u. schriftlichen Belehrungen (so erschien die Bibel mit Erläuterungen über das innere Leben von derselben, in 20 Bänden, deren Herausgabe Peter Poiret besorgte), nachdem sie 30 ihrer quietistischen Lehren hatte widerrufen müssen, 1695 auf das Schloß Vincennes u. später in Vaurigard u. in die Bastille bis 1701 gefangen gesetzt wurde; von da befreit ging sie nach Blois, wo sie ein stilles religiöses Leben führte u. 9. Juni 1717 starb. Ihre Ansichten gaben zu einem langen Streite zwischen Fénélon u. Bossuet Anlaß, u. nach einer Entscheidung des Papstes wurden in einem 1699 ergangenem Breve 23 Sätze in Fénélons Explication des maximes des saints sur la vie intérieure, Par. 1697, verdammt. Von ihren Werken erschienen die Opuscules spirituelles, Amst. 1704; sämmtliche Werke (darunter 4 Bde. Poésies spirituelles), ebd. 1713–22, 39 Bde.; deutsch übersetzt erschienen die kleineren Schriften, Lpz. 1729; ihre Briefe, ebd. 1728–43. 4 Bde.; Die geistreichen Discurse über verschiedene Materien das innere Leben betreffend, ebd. 1730, 2 Bde.; Bibelerklärung, 1744, 20 Bde., neue Aufl. 1768 bis 1774; Die Ströme nebst den Maximen von Lacombe von Kosegarten, Strals. 1817; Die heilige Liebe Gottes u. die unheilige Naturliebe, von Tersteegen, Solingen 1751. Ihre Autobiographie, herausgegeben Köln 1719, 3 Bde. (deutsch, Lpz. 1727; von Henriette von Montenglaut, Berl. 1826, 3 Bde.); ihre Werke deutsch, Regensb. 1836 f. Zu ihren namhaftern Anhängern gehörte [801] Poiret in Rhynsburg, Gottfried Arnold u. Tersteegen; ein Werk der deutschen Guyonisten war die Berleburger Bibel.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 7. Altenburg 1859, S. 801-802.
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