Materie

[2] Materie (v. lat. Materia), 1) Stoff im Gegensatz zur Form. So unterscheidet man in der Ästhetik u. Rhetorik die M., den Stoff, Inhalt eines Kunst- od. Schriftwerkes von der Form, der Gestaltung, der künstlerischen od. rednerischen Behandlung; in der Logik die M. eines Urtheils, eines Schlusses, d.h. die in ihm vorkommenden Begriffe von der Form ihrer Verknüpfung. Damit hängt der Gebrauch des Wortes 2) in der Metaphysik u. Physik zusammen, insofern diese die Frage zu beantworten suchen, welche Stoffe den Dingen in ihren veränderlichen Gestaltungen zu Grunde liegen. So haben schon die ältesten griechischen Naturphilosophen, ohne gerade das Wort M. anzuwenden, bald eins, bald mehre der sogenannten Elemente (Wasser, Luft, Feuer, Erde) entweder mit od. ohne Berufung auf ein als Kraft wirkendes Princip als die Stoffe bezeichnet, aus welchen die Dinge entstehen; eine bestimmte Bedeutung gab dem Begriff der M. (unter der Bezeichnung Hyle) Aristoteles, indem er sie für das, was die Möglichkeit der Dinge enthält (Esse potentia), im Gegensatz zur Form (Eidos, Morphe) als dem, was die Dinge wirklich sind (Esse actu), für das allgemeine Substrat des Werdens u. somit für eins der Realprincipien erklärte, auf welche er die natürliche Entstehung u. die künstliche Hervorbringung der Dinge zurückführen zu müssen glaubte. An diesen aristotelischen Begriff der M. schließen sich die näheren Unterscheidungen an, durch welche die Scholastiker ihn auf die mannigfaltigen Abstufungen u. Verknüpfungen des Entstehens u. Vergehens der Dinge aus einander u. in einander anwendbar zu machen suchten, indem sie z.B. unterschieden zwischen M. proxima u. remota, M. totalis u. partialis, M. necessaria u. indifferens od. contingens, je nachdem ein Ding aus einem gewissen Stoffe unmittelbar od. mittelbar, vollständig od. nur zum Theile entsteht, an ihn wesentlich gebunden ist od. nicht. Ebenso unterschied man eine Materia ex qua (aus welcher), M. in qua (an welcher), M. circa quam (in Beziehung auf welche etwas entsteht od. ist) etc. Eine Beschränkung dieser jetzt aus dem wissenschaftlichen Sprachgebrauch fast gänzlich verschwundenen Bedeutung liegt 3) darin, daß man unter M. (im Gegensatze zu Seele, Geist) das körperlich Ausgedehnte versteht, namentlich seitdem Cartesius die strenge Unterscheidung zwischen körperlichen (ausgedehnten) u. geistigen (vorstellenden od. denkenden) Substanzen[1] aufgestellt hatte. Die wesentlichen Merkmale der M. sind dann Ausdehnung, Undurchdringlichkeit, Beweglichkeit. Die Lehrmeinung, daß alle Thatsachen u. Veränderungen der Natur u. des Bewußtseins lediglich aus der Existenz, den Bewegungen u. den wechselnden Verknüpfungen der kleinsten nicht weiter theilbaren materiellen Massen (s. Atome) erklärt werden können, u. daß zu diesem Zwecke innerhalb u. außerhalb der gegebenen Erscheinungswelt immaterielle Wesen u. Kräfte nicht angenommen werden dürfen, nennt man Materialismus, der seiner Consequenz nach in der Physiologie die Existenz von den materiellen Bestandtheilen des lebendigen Körpers unabhängiger Kräfte, in der Psychologie die Existenz der Seele als des immateriellen Trägers des geistigen Lebens, in seiner allgemeinen Weltansicht die Existenz einer höchsten in materiellen, die Welt nach einem weisen, gerechten u. gütigen Plane schaffenden u. regierenden Intelligenz leugnen muß. Während der Materialismus des griechischen Alterthums bei Leukippos u. Demokritos (s. b.) noch ganz unbefangen auftrat, ist er in neuerer Zeit, namentlich in der französischen Philosophie des 18. Jahrh., vielfach in einen bewußten Gegensatz zu ethischen u. religiösen Interessen getreten. Der Materialismus der französischen Encyklopädisten, wie ihn La Mettrie, das Systême de la nature u.a. hinstellten, war zunächst eine bloße Negation des Spiritualismus (s.d.), ohne die Prätension, über die Vorgänge des geistigen Lebens einen positiven Aufschluß zu geben. Der Kantsche Kriticismus beschränkte sich auf die Anerkennung der Einheit des Selbstbewußtseins, ohne von da aus den Schluß auf die substanzielle Einheit u. Realität der Seele für zulässig zu erklären, in ähnlicher Weise, wie früher Locke den Beweis, daß die M. nicht denken könne, zum mindesten für sehr schwierig erklärt hatte. In der Schellingschen u. Hegelschen Philosophie waren dort Natur u. Geist Manifestationen, Pole, hier Momente des Entwickelungsprocesses des Absoluten, so daß die Frage nach ihrer substanziellen Identität od. Verschiedenheit kaum noch ein besonderes Gewicht hatte. Im letzten Decennium dagegen ist der Materialismus sowohl von Seiten der Philosophie, als der Naturforschung wieder sehr lebhaft vertheidigt worden. Gestützt auf die Fortschritte der Physiologie u. namentlich auf die Thatsachen, welche die Entwickelung u. Äußerungen geistiger Thätigkeiten als mit bedingt zeigen von den Functionen des Nervensystems, vorzugsweise seines Centralorgans, des Gehirns, hat man mit dem Satze: daß es kein von dem körperlichen Organismus verschiedenes, reelles Princip des geistigen Lebens gäbe, die positive Behauptung verbunden, das, was sich im Bewußtsein nicht blos als sinnliche Empfindung, sondern auch als Begriff, Gedanke, Gefühl, sittlicher Wille etc. ankündigt, sei lediglich der Ausdruck gewisser Nerven- u. Gehirnfunctionen; es werde, wie die leiblichen Zustände, erzeugt durch Stoffzufuhr u. verändert durch Stoffwechsel; Gedanken, Begehrungen, Entschließungen seien Functionen des Gehirns, wie die Galle Function der Leber etc. Vgl. Moleschott, Physiologie der Nahrungsmittel, Darmst. 1850, 2. Aufl. 1853; Derselbe, Lehre der Nahrungsmittel für das Volk, Erl. 1850, 2. Aufl. 1853; Derselbe, Physiologie des Stoffwechsels in Pflanzen u. Thieren, ebd. 1851; K. Vogt, Physiologische Briefe für Gebildete, Stuttg. 1847; Ders., Köhlerglaube u. Wissenschaft, 4. Aufl. Gießen 1855; L. von Büchner, Kraft u. Stoff, 4. Aufl. Frankf. 1856; Ders., Natur u. Geist, ebd. 1857, Bd. 1. Dagegen vgl. Frauenstädt, Der Materialismus, seine Wahrheit u. sein Irrthum (eine Erwiderung auf Büchners Kraft u. Stoff), Lpz. 1856; Carnier, Der heutige Materialismus vom sittlichen, rechtlichen u. socialen Standpunkte, Würzb. 1859; J. H. Fichte, Zur Seelenfrage, Lpz. 1859. Trotz der Zuversichtlichkeit, welche die neuesten Vertheidiger des Materialismus an den Tag gelegt haben, ist es ihnen nicht gelungen, nachzuweisen, welche bestimmten Begriffe, Gefühle, Überlegungen, Reflexionen, Willensarten die Folge der verschiedenen Ernährung, Reizung u. Veränderung bestimmter Theile des Nervensystems od. des Gehirns seien. Die obigen allgemeinen Behauptungen sind aber so lange ohne allen wissenschaftlichen Werth, als sie nicht durch individuelle Nachweisungen dieser Art bewährt sind. Außerdem liegt der ganzen Lehre die Erschleichung zu Grunde, vermöge deren den Functionen des Nervensystems od. einzelner seiner Theile, welche Organe dem geistigen Leben dienende Apparate sind, die Dignität einer Ursache des letzteren beigelegt wird, eine Verwechselung, auf welche namentlich J. von Liebig in der 4. Aufl. seiner Chemischen Briefe (Lpz. 1859) hingewiesen hat. Gesetzt endlich, das, was wir leibliches u. geistiges Leben nennen, weise in seinen letzten Gründen auf gewisse gleichartige Formen u. Arten des Geschehens zurück, so sind doch die in den Erscheinungen des leiblichen Organismus u. des geistigen Bewußtseins thatsächlich vorliegenden Phänomen so heterogen, daß gerade über diese Verschiedenartigkeit die etwa anzunehmende Gleichartigkeit der allgemeinsten Formen des Geschehens keinen Aufschluß geben kann, u. eine Theorie, welche diesen concreten Erscheinungen mit den allgemeinsten Voraussetzungen über das Sein u. Geschehen in Verbindung zu setzen unternehmen wollte, würde durchaus näher bestimmter Erklärungsgründe bedürfen, als solche, welche der an sich selbst gleich räthselhafte Begriff der Materie u. des Geistes darbietet. Wegen der Beschränkung des Materialismus auf das sinnlich Wahrnehmbare braucht man 4) dieses Wort auch häufig, um eine Gesinnung u. Denkungsart als materialistisch zu bezeichnen, welche ausschließend od. vorzugsweise auf dasjenige Werth legt, was auf die Sinne angenehm einwirkt od. überhaupt die auf äußerlichen Genuß gerichteten Begierden befriedigt; 5) in der Medicin so v.w. Eiter.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 11. Altenburg 1860, S. 1-2.
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