Liedertafeln

[366] Liedertafeln (Liederkränze, Gesangvereine), gesellige Vereine musikkundiger Männer, die sich an bestimmten Abenden versammeln, um zu ihrem Vergnügen vier- od. mehrstimmige Gesänge kunstmäßig aufzuführen. Die L. sind eine Schöpfung der neuern Zeit. Zwar bestand schon 1673 zu Greiffenberg in Hinterpommern ein Männerverein aus 16 Mitgliedern, die in freundschaftlichen Zusammenkünften Lieder sangen, die sie selbst dichteten u. componirten (vgl. Greiffenberg, Psalter- u. Harfenlust wider allerlei Unlust etc., Altstettin 1673–75, 4 Bde., Fol.), nur hatte man bei diesem[366] u. andern ähnlichen Vereinen mehr das Ernste u. Fromme zum Zweck, während bei den jetzigen das Lebensfrohe vorherrscht. Die erste eigentliche L. entstand um 1809 in Berlin unter Zelter, welchem ebendaselbst eine zweite unter Bernhard Klein folgte; nach der Schlacht bei Leipzig vermehrten sich die L-n schnell u. seit 1818 wurden sie ganz allgemein. Frankfurt a. O. bildete nach dem Berliner einen Männerverein u. darauf Leipzig eine durch ganz eigenthümliche Einrichtung ausgezeichnete L., wovon dann die Dessauer u. Göttinger L. ausging. Von da an verbreiteten sich, namentlich im 5. Jahrzehnt des jetzigen Jahrh., die L. sehr rasch über ganz Deutschland, u. Männergesangvereine finden sich jetzt außer den Städten auch in Flecken u. Dörfern. Die Gesangvereine von ganzen Provinzen traten zusammen u. vereinigten sich zu Musik- u. Gesangfesten, oft von mehreren Tagen in einer Stadt der Provinz. Nach feierlichem Einzug der Vereine war gewöhnlich der erste Tag des Festes zu Oratorien od. doch zu Aufführungen größerer religiöser u. ernster Musik bestimmt, u. fanden dieselben gewöhnlich in einer Kirche statt. Die darauffolgenden Tage waren mehr für Concertmusik, für das Lied od. beiteren Gesang bestimmt u. fanden oft im Freien statt. Auch der Wettgesang kam in Anwendung, wobei einzelne Vereine sich vor gewählten Preisrichtern hören ließen u. nach Umständen die ausgesetzten Preise, in Fahnen, Pokalen u. Medaillen bestehend, davon trugen. In Preußen machten sich Hientsch u. Schärtlich in Potsdam um Gründung u. Ausbreitung der Gesangvereine verdient. Durch sie entstanden die schlesischen u. märkischen Vereine. Kutschau u. Breitenstein gründeten den Thüringer Sängerbund, welcher 24 Städte außer Flecken u. Dörfern umfaßt u. nach den Gesangfesten in Weißenfels 1833 u. auf Burg Gleichen 1842 entstand u. später in Jena u. auf der Wartburg seine Feste feierte, woran 1200 Sänger Theil nahmen. Neben demselben der Sängerbund an der Saale, dessen Mittelpunkt Naumburg ist. Am Rhein wurde 1844 namentlich der Kölner Männergesangverein gegründet. In Württemberg u. den übrigen süddeutschen Ländern sind die Liederfeste üblich. Mehrere L. aus verschiedenen Orten verabreden in der guten Jahreszeit einen Sammelplatz u. vergnügen sich mit gemeinschaftlichem Gesang u. geselligem Zusammensein. Ein allgemeines Deutsches Gesangsfest fand 1845 in Würzburg statt, wo außer Hannover, Ostpreußen u. Mecklenburg alle deutschen Staaten vertreten waren; gegen 700 Sänger wirkten hierbei mit. In den Nordseeländern u. den Herzogthümern Schleswig u. Holstein entstanden bes. seit 1840 L. fast in allen Städten, ihre Blüthe war 1845–46, aber das Jahr 1848 hemmte ihren Fortgang, als die Jugend der Herzogthümer zu den Waffen griff. Die großen Musikfeste des Norddeutschen Musikfestvereins waren 1839 in Lübeck, 1840 in Schwerin, 1841 in Hamburg, 1843 in Rostock; der Norddeutsche Sängerbund feierte die Sängertage an der Unterelbe 1840 im Holz bei Neukloster, unweit Buxtehude, u. 1841 im Hedendorfer Holze; das Sängerfest beider Elbgestade 1840 in Stade, 1841 in Altona, 1842 in Glückstadt, 1843 in Stade, 1844 in Lübeck (wo sich der Bund förmlich organisirte), 1845 in Itzehoe, 1846 in Harburg u. 1847 in Lübeck, welches sich als das zweite allgemeine Deutsche Sängerfest dem ersten 1845 in Würzburg gehaltenen anreihete. Auf 1848 war Kiel als Festort bestimmt, doch unterblieb das Fest wegen polizeilichen Verbotes, u. der Bund schlief unter den folgenden Stürmen ein. Auch sonstige Sängerfeste wurden in Holstein u. Schleswig gefeiert, so 1843 in Tönning u. Plön, 1844 in Schleswig, 1845 in Eckernförde; das Niederelbische Sängerfest 1843 u. 1844 in Ritzebüttel, 1845 in Wilster, 1846 in Marne. Bes. für Anregung u. Erwärmung des deutschen Elements in den Niederlanden wirken der Niederländischniederrheinische Gesangverein in Cleve, 1845 gestiftet, der seine Feste z.B. 1846 in Aachen, u. der Deutsch-flämische Verein in Köln, welcher seine Feste in Cleve, Köln, Gent u. Arnheim 1845, 1846 u. 1847 feierte, die zahlreich von Sängern von deutscher, sowie flämischer u. niederländischer Zunge besucht waren. Auch in der Schweiz gibt es ein eidgenössisches Sängerfest, welches z.B. 1854 in Winterhur gehalten wurde. Das Liedertafelwesen haben die Deutschen auch mit nach Nordamerika hinübergenommen u. dort bes. in den östlichen Staaten der Union, wie in New York, Philadelphia, Baltimore, Liederkränze u. Männerchöre gestiftet, Sängerfeste, so zu Pfingsten 1849 in Philadelphia, 1851 in Baltimore, 1852 in New York ganz in der Weise der alten Heimath gefeiert. Vgl. O. Elben, Der volksthümliche deutsche Männergesang, Tüb. 1855.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 10. Altenburg 1860, S. 366-367.
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