Nothluge

[137] Nothluge, eine aus Noth gesagte Unwahrheit, um Unzuträglichkeiten, Unglück od. Verbrechen zu verhüten; also z.B. Todtkranken u. deren Angehörigen, od. Gemüths- u. Geisteskranken, od. vorwitzig Fragenden, od. solchen Personen gegenüber, welche im Begriff sind ein Verbrechen zu begehen u. dgl. Das Urtheil der Moralisten über die N. ist von jeher verschieden gewesen: die strengeren, wie schon Augustinus, dann Kant, Fichte, Flatt, Hirscher, H. Krause, Böhme u. And., haben die N. als unsittlich u. also unerlaubt durchaus verworfen, weil durch die unwahre Aussage des Einen dem Andern die Möglichkeit benommen werde, die Wahrheit zu erfahren od. nach der Wahrheit zu handeln; wer sich durch das Aussagen der Wahrheit nicht einer fremden Sünde theilhaftig machen wolle, solle sich möglich so einrichten, daß er nicht wohl in den Fall kommen könne, durch verfängliche Fragen zum Unwahrreden gedrängt zu werden, od. soll schweigen, od. im äußersten Falle widerstehen. Milder urtheilen über diesen Punkt Reinhard, Schwarz, de Wette, Marheineke, Rothe, Harleß, Schleiermacher u.a.; man macht nämlich den Rigoristen gegenüber geltend, daß es mit Schweigen u. Widerstand nicht immer abgethan sei, sondern daß man wohl reden müsse, u. wo dies in angegebenen Fällen verlangt werde, könne weder Vernunft noch Gesetz fordern, daß die Aussagen dann unbedingt der Wahrheit entsprächen, sondern das Wie der Aussage dem Gewissen überlassen bleiben müsse; daß überhaupt nicht jede Unwahrheit eine Lüge sei; daß auch gar nicht jeder Mensch das Recht habe, von Jedem u. in jedem Falle Wahrheit zu verlangen; daß die Aussage der Wahrheit zur Unterstützung eines Verbrechens nicht verlangt werden könne, sondern daß dagegen das Recht jedartiger Nothwehr gelte. Auf jeden Fall aber verwahren sich auch die milderen Beurtheiler gegen die Art der N., wie sie im gemeinen Leben so oft vorkommt, wo die Noth so häufig ungebührlich auf Ersparung von Scham, Furcht vor Verlust eines irdischen Gutes od. einer verdienten Strafe etc. ausgedehnt wird. Im Allgemeinen aber ist nicht zu vergessen, daß, wenn Einer durch eine unwahre Aussage etwas Böses hindern od. Gutes fördern will, nur die That u. nicht der Erfolg in seiner Hand steht, u. daß er vielleicht durch seine unwahre Aussage noch Schlimmeres bewirken kann, als durch die Aussage der Wahrheit; vgl. Collision der Pflichten; Kant, Uber ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen; Chr. Fr. Böhme, Die Moralität der N., Neust. 1828; H. Krause, Über die Wahrhaftigkeit, Verl. 1844.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 12. Altenburg 1861, S. 137.
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