Orpheus

[381] Orpheus, Sohn der Muse Kalliope u. des Apollo (nach And. des Öagros), alter thracischer Barde in Pieria u. im Hebrosthale in Thracien. Sein Gesang zur siebensaitigen Leier bewegte Felsen u. Bäume, zähmte die wildesten Thiere u. bannte Ungewitter u. Stürme. Er war bei den Argonauten, die er in die Mysterien auf Samothrake weihte. Man nennt ihn auch den Stifter der Mysterien in Griechenland, Reiniger u. Mehrer der Götterlehre, Einführer einer reineren Lebensweise. Seine Gemahlin Eurydike starb an den Folgen eines Natterbisses. O. öffnete sich den Weg in die Unterwelt u. erweichte durch seinen Gesang die Proserpina, daß Eurydike Erlaubniß erhielt, mit ihm in die Oberwelt zurückzukehren, jedoch unter der Bedingung, daß O. nicht nach ihr zurückblickte, bevor er auf die Oberwelt gekommen wäre. Schon sah er das Tageslicht schimmern, da blickte er nach Eurydike zurück, u. sofort wurde sie ihm zum zweiten Male unwiderruflich entrissen. Thracische Weiber zerrissen ihn bei einer Bakchosfeier, weil er ihre Liebe verschmähte. Sein Haupt u. seine Leier führte der Hebros durch das Meer bis nach Lesbos. Sein Grab sollte in Pieria od. zu Libethra in Macedonien sein. Platon spricht von einer Unzahl von Schriften, welche ihm beigelegt wurden; in ihnen wird den herrschenden religiösen Vorstellungen eine höhere Deutung gegeben (allegorische Interpretation). Als Orphische Physik wird ausgegeben: Wasser war im Anfang; aus diesem wurde Schlamm; aus beiden wurde eine Schlange mit den Köpfen eines Stiers u. Löwen, zwischen denen das Gesicht eines Gottes war. Die Schlange hieß Herakles u. Chronos. Diese gebar ein ungeheures Ei; dieses brach in zwei Hälften, aus deren oberer der Himmel, aus der unteren die Erde wurde etc. Auch scheint O. unter dem Namen Adrastea eine allgemeine Nothwendigkeit gelehrt zu haben, deren Gesetzen sich Alles fügen müsse. Seine moralischen Vorschriften bezweckten Abschreckung u. Entwöhnung von Mord, von blutigen Thierspeisen u. von Menschenopfern, Abschaffung der Blutrache u. Einführung von Sühnungen reuiger Missethäter. Die Orphischen Mysterien waren denen auf Samothrake ähnlich u. verloren sich später in die Orgien des Dionysos-Zagreus in Thracien, u. Mißbrauch trieben mit den orphischen Institutionen seit der Zeit des Pisistrates die Orpheotelesten, Gaukler, welche mit angeblichen Schriften des O. u. Musäos umherzogen, ihre Dienste zu Reinigungen, Sühnungen u. Todtenopfern anboten u. denjenigen schreckliche Strafen der andern Welt androheten, welche sich von ihnen nicht sühnen lassen wollten. Gewiß ist, daß die echten Gesänge des O. schon das Alterthum nicht mehr kannte. Die Gedichte, welche noch jetzt den Namen des O. führen (Orphĭka) sind aus späterer Zeit (vgl. Onomakritos); sie sind, außer Fragmenten: γμνοι, griech. u. deutsch von Dietrich, Erl. 1822; Ἀργοναυτικά, ein episches Gedicht vom Zuge[381] der Argonauten, aus unbekannter, aber gewiß späterer Zeit, herausgeg. von I. G. Schneider, Jena 1803 (deutsch von Kütner, Mit. 1773, von Lobler, Basel 1784, von Voß mit Hesiodos, Heidelb. 1806); Λιϑικά, von den magischen Kräften der Steine, frühestens im 4. Jahrh. n. Chr. entstanden u. herausgeg. von Tyrwhitt, Lond. 1781. Gesammtausgaben: erste (ohne die Lithika), Flor. bei Junta 1500, Vened. bei Ald. 1517, in H. Stephanus Poet. graec. princ., 1616, von Eschenbach, Utr. 1689, von Gesner u. Hamberger, Lpz. 1764, von G. Hermann, ebd. 1805; eine Sammlung der zerstreuten Überreste der orphischen Dichter gab Lobeck im Aglaophamus, Königsb. 1829. Vgl. Tiedemann, Griechenlands erste Philosophen, od. Lehren u. Systeme des O., Lpz. 1780; Bode, O. poetarum graec. antiquissimus, Gött. 1824; Gerlach, De hymnis orph., ebd. 1797; Lenz, De fragm. orph., ebd. 1789.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 12. Altenburg 1861, S. 381-382.
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