Recitativ. (Musik)
Es giebt eine Art des leidenschaftlichen Vortrages der Rede, die zwischen dem eigentlichen Gesang, und der gemeinen Declamation das Mittel hält; sie geschieht wie der Gesang in bestimmten zu einer Tonleiter gehörigen Tönen, aber ohne genaue Beobachtung alles Metrischen und Rhythmischen des eigentlichen Gesanges. Diese so vorgetragene Rede wird ein Recitativ genannt. Die Alten unterscheideten diese drey Gattungen des Vortrages so, daß sie dem Gesang abgesezte Töne zuschrieben, der Declamation aneinanderhangende, das Recitativ aber mitten zwischen beyde sezten. Martianus Capella nennt diese drey Arten genus vocis - continuum, divisum, medium, und er thut hinzu, die lezte Art, nämlich das Recitativ, sey die, die man zum Vortrag der Gedichte brauche. Diesemnach hätten die Alten, ihre Gedichte nach Art unsers Recitatives vorgetragen; und man kann hieraus erklären, warum in den alten Zeiten das Studium der Dichtkunst von der Musik unzertrennlich gewesen. Die bloße Declamation wurd bey den Alten auch notirt, aber blos durch Accente, nicht durch musicalische Töne. [942] Dieses sagt Bryennius, den Wallis herausgegeben hat, mit klaren Worten.
Von der bloßen Declamation unterscheidet sich das Recitativ dadurch, daß es seine Töne aus einer Tonleiter der Musik nihmt, und eine den Regeln der Harmonie unterworfene Modulation beobachtet, und also in Noten kann gesezt und von einem die volle Harmonie anschlagenden Baße begleitet werden. Von dem eigentlichen Gesang unterscheidet es sich vornehmlich durch folgende Kennzeichen. Erstlich bindet er sich nicht so genau, als der Gesang, an die Bewegung. In derselben Taktart sind ganze Takte und einzele Zeiten nicht überall von gleicher Dauer, und nicht selten wird eine Viertelnote geschwinder, als eine andere verlassen; dahingegen die genaueste Einförmigkeit der Bewegung, so lange der Takt derselbe bleibet, in dem eigentlichen Gesange nothwendig ist. Zweytens hat das Recitativ keinen so genau bestimmten Rhythmus. Seine größern und kleinern Einschnitte sind keiner andern Regel unterworfen, als der, den die Rede selbst beobachtet hat. Daher entstehet drittens auch der Unterschied, daß das Recitativ keine eigentliche melodische Gedanken, keine würkliche Melodie hat, wenn gleich jeder einzele Ton eben so singend, als in dem wahren Gesang vorgetragen würde. Viertens bindet sich das Recitativ nicht an die Regelmäßigkeit der Modulation in andere Töne, die dem eigentlichen Gesang vorgeschrieben ist. Endlich unterscheidet sich das Recitativ von dem wahren Gesang dadurch, daß nirgend, auch nicht einmal bey vollkommenen Cadenzen, ein Ton merklich länger, als in der Declamation geschehen würde, ausgehalten wird. Es giebt zwar Arien und Lieder, die dieses mit dem Recitativ gemein haben, daß ihre ganze Dauer ohngefehr eben die Zeit wegnihmt, die eine gute Declamation erfodern würde; aber man wird doch etwa einzele Sylben darin antreffen, wo der Ton länger und singend ausgehalten wird. Ueberhaupt werden in dem Vortrag des Recitativs die Töne zwar rein nach der Tonleiter, aber doch etwas kürzer abgestoßen, als im Gesang, vorgetragen.
Das Recitativ kommt in Oratorien, Cantaten und in der Oper vor. Es unterscheidet sich von der Arie, dem Lied und andern zum förmlichen Gesang dienenden Texte dadurch, daß es nicht lyrisch ist. Der Vers ist frey, bald kurz, bald lang, ohne ein in der Folge sich gleichbleibendes Metrum. Dieses scheinet zwar nur seinen äußerlichen Charakter zu bestimmen; aber er hat eben die besondere Art des Gesanges veranlasset.
Indessen ist freylich auch der Inhalt des Recitatives von dem Stoff der Arien und Lieder verschieden. Zwar immer leidenschaftlich, aber nicht in dem gleichen, oder stäten Fluß desselben Tones, sondern mehr abgewechselt, mehr unterbrochen und abgesezt. Man muß sich den leidenschaftlichen Ausdruk in der Arie wie einen langsam oder schnell, sanft oder rauschend, aber gleichförmig fortfließenden Strohm vorstellen, dessen Gang die Musik natürlich abbildet: das Recitativ hingegen kann man sich wie einen Bach vorstellen, der bald stille fortfließt, bald zwischen Steinen durchrauscht, bald über Klippen herabstürzt. In eben demselben Recitativ kommen bisweilen ruhige, blos erzählende Stellen vor; den Augenblik darauf aber heftige und höchstpathetische Stellen. Diese Ungleichheit hat in der Arie nicht statt.
Indessen sollte der völlig gleichgültige Ton im Recitativ gänzlich vermieden werden; weil es ungereimt ist, ganz gleichgültige Sachen in singenden Tönen vorzutragen. Ich habe mich bereits im Artikel ⇒ Oper weitläuftiger hierüber erkläret, und dort angemerkt, daß kalte Berathschlagungen, und solche Scenen, wo man ohne allen Affekt spricht, gar nicht musicalisch sollten vorgetragen werden. Es ist so gar schon wiedrig, wenn eine völlig kaltsinnige Rede in Versen vorgetragen wird. Und eben deswegen habe ich dort den Vorschlag gethan, zu der Oper, wo durchaus alles musicalisch seyn soll, eine ihr eigene und durchaus leidenschaftliche Behandlung des Stoffs zu wählen, damit das Recitativ nirgend unschiklich werde. Denn welcher Mensch kann sich des Lachens enthalten, wenn, wie in der Opera Cato, die Aufschrift eines Briefes, (Il senato à Catone) singend und mit Harmonie begleitet, gelesen wird? Dergleichen abgeschmaktes Zeug kommt aber nur in zu viel Recitativen vor.
Wenn ich nun in diesem Artikel dem Tonsezer meine Gedanken über die Behandlung des Recitatives vortragen werde, so schließe ich ausdrüklich solche, die gar nichts leidenschaftliches an sich haben, aus; denn warum sollte man dem Künstler Vorschläge thun, wie er etwas ungereimtes machen könne? Ich seze zum voraus, daß jedes Recitativ und jede [943] einzele Stelle darin so beschaffen sey, daß der, welcher spricht, natürlicher Weise im Affekt spreche. Darum werde ich auch nicht nöthig haben, wie Hr. Scheibe1 einen Unterschied zwischen dem blos recitirten und declamirten Recitativ zu machen; weil ich das erstere ganz verwerfe. Behauptet es indessen in der Oper, und in der Cantate seinen Plaz, so mag der Dichter sehen, wie er es verantwortet, und der Tonsezer, wie er es behandeln will. Denn hierüber Regeln zu geben, wäre nach meinen Begriffen eben so viel, als einen Dichter zu unterrichten, was für eine Versart er zu wählen habe, um ein Zeitungsblatt in eine Ode zu verwandeln.
Niemand bilde sich ein, daß der Dichter nur die schwächesten und gleichgültigsten Stellen seines Werks dem Recitativ vorbehalte, den stärksten Ausbruch der Leidenschaften aber in Arien, oder andern Gesängen anbringe. Denn gar ofte geschieht das Gegentheil, und muß natürlicher Weise geschehen. Die sehr lebhaften Leidenschaften, Zorn, Verzweiflung, Schmerz, auch Freud und Bewundrung, können, wenn sie auf einen hohen Grad gestiegen sind, selten in Arien natürlich ausgedrukt werden. Denn der Ausdruk solcher Leidenschaften wird alsdenn insgemein ungleich und abgebrochen, welches schlechterdings dem fließenden Wesen des ordentlichen Gesangs zuwieder ist. Man stelle sich vor, Hr. Ramler hätte gegen sein eigenes Gefühl einem Tonsezer zu gefallen, folgende Stelle eines Recitatives, in einem lyrischen Sylbenmaaß gesezt:
Unschuldiger! Gerechter! hauche doch
Die matt' gequälte Seele von dir! ––
Wehe! Wehe!
Nicht Ketten, Bande nicht, ich sehe
Gespizte Keile –– Jesus reicht die Hände dar
Die theuren Hände, deren Arbeit Wolthun war.
Wie würde doch daraus eine Arie gemacht worden seyn? Es ist wol nicht nöthig, daß ich zeige, wie ungereimt es wäre, eine solche höchstpathetische Stelle, nach Art einer Arie zu sezen. Hieraus aber stehet man deutlich, wie der höchste Grad des Leidenschaftlichen sich gar oft zum Recitativ viel besser, als zur Arie schikt. Wir sehen es deutlich an mancher Ode, nach lyrischen Versarten der Alten, an die sich gewiß kein Tonsezer wagen wird, es sey denn, daß er sie abwechselnd, bald als ein Recitativ bald als Arioso, bald als Arie behandeln könne.
Es ist meine Absicht gar nicht hier dem Dichter zu zeigen, wie er das Recitativ behandeln soll. Die Muster, die Ramler gegeben, sagen ihm schon mehr, wenn er Gefühl hat, als ich ihm sagen könnte.
Ich will hier nur noch einen besondern Punkt berühren. Ich kann mich nicht enthalten zu gestehen, daß die bisweilen in Recitativen vorkommende Einschaltungen fremder Reden und Sprüche, die der Tonsezer allemal als Arioso vorträgt, nach meiner Empfindung etwas anstößiges haben. Ich habe an einem andern Ort2 den lyrisch erzählenden Ton des Recitatives in der Ramlerischen Paßion als ein Muster empfohlen. Ich wußte in der That kein schöneres Recitativ zu finden, als gleich das, womit dieses Oratorium anfängt. Was kann pathetischer und für den Tonsezer zum Recitativ erwünschter seyn, als dieses.
–– Bester aller Menschenkinder!
Du zagst? du zitterst? gleich dem Sünder
Auf den sein Todesurtheil fällt!
Ach seht! er sinkt, belastet mit den Missethaten
Von einer ganzen Welt.
Sein Herz in Arbeit fliegt aus seiner Höhle
Sein Schweiß fließt purpurroth die Schläf' herab.
Er ruft: Betrübt ist meine Seele
Bis in den Tod. u.s.f.
Graun, hat nach dem allgemeinen Gebrauch, der zur Regel geworden ist, die Worte: Betrübt ist meine Seele u.s.w. die der Dichter einer fremden Person in den Mund legt, als ein Arioso vorgetragen, und man wird schweerlich, wenn man es für sich betrachtet, etwas schöneres in dieser Art aufzuweisen haben, als dieses Arioso: und dennoch ist es mir immer anstößig gewesen, und bleibt es, so oft ich diese Paßion höre. Es ist mir nicht möglich mich darein zu finden, daß dieselbe recitirende Person, bald in ihrem eigenen, bald in fremden Namen singe. Und doch sehe ich auf der andern Seite nicht, warum eben dieses Dramatische bey dem epischen Dichter mir nicht mißfällt? Wenn mich also mein Gefühl hierüber nicht täuscht; so möchte ich sagen, es gehe an in eines andern Namen, und mit seinen Worten zu sprechen; aber nicht zu singen. Allein, ich getraue mir nicht mein Gefühl hierüber zur Regel anzugeben. Im würklichen Drama, da die Worte: Betrübt u.s.f. von der Person selbst, [944] gesungen würden, wär alles, wie der Tonsezer es gemacht hat, vollkommen. Oder wenn es so stünde:
Sein Schweiß fließt purpurroth,
Die Schläf' herab: Betrübt ist seine Seele
Bis in den Tod.
So könnte doch, dünkt mich, das Arioso, so wie Graun es gesezt hat, beybehalten werden. So gar die Folge dieser eingeschalteten Rede könnte hier der Dichter in seinem eigenen Namen sagen. Nur in dem einzigen Vers
Nimm weg, nimm weg den bittern Kelch von meinem Munde. ––
müßte seinem stehen. Doch ich will, wie gesagt, hierüber nichts entscheiden: ich sage nur, daß mein Gefühl sich an solche Stellen nie hat gewöhnen können.
So viel sey von der Poesie des Recitatives gesagt. Rousseau hat sehr richtig angemerkt, daß nur die Sprachen, die schon an sich im gemeinen Vortrag einen guten musikalischen Accent, oder etwas singendes haben, sich zum Recitativ schiken. Darin übertrift freylich die Italiänische meist alle andern heutigen europäischen Sprachen. Aber auch weniger singende Sprachen können von recht guten Dichtern, wenn nur der Inhalt leidenschaftlich genug ist, so behandelt werden, daß sie genug von dem musikalischen Accent haben: Klopstok und Ramler haben uns durch Beyspiehle hievon überzeuget. Wer die englische Sprache nur aus einigen kalten gesellschaftlichen Gesprächen kennte, würde sich nicht einfallen lassen, daß man darin Verse schreiben könnte, die den besten aus der Aeneis an Wolklang gleich kommen: und doch hat Pope dergleichen gemacht. Also kommt es nur auf den Dichter an, auch in einer etwas unmusikalischen Sprache, sehr musikalisch zu schreiben.
Aber es ist Zeit, daß wir auf die Bearbeitung des Recitatives kommen, die dem Tonsezer eigen ist. Um aber hierüber etwas nüzliches zu sagen, ist es nothwendig, daß wir zuerst die Eigenschaften eines vollkommen gesezten Recitatives, so gut es uns möglich ist, anzeigen.
1. Das Recitativ hat keinen gleichförmigen melodischen Rhythmus, sondern beobachtet blos die Einschnitte und Abschnitte des Textes, ohne sich um das melodische Ebenmaaß derselben zu bekümmern. In Deutschland und in Italien wird es immer in 4/4 Takt gesezt. Im französischen Recitativ kommen allerley Taktarten nach einander vor, daher sie sehr schweer zu accompagniren, und noch schweerer zu fassen sind.
2. Es hat keinen Hauptton, noch die regelmäßige Modulation der ordentlichen Tonstüke; noch muß es, wie diese, wieder im Hauptton schließen; sondern der Tonsezer giebt jedem folgenden Redesaz, der einen andern Ton erfodert, seinen Ton, er stehe mit dem vorhergehenden in Verwandschaft, oder nicht; er bekümmert sich nicht darum, wie lang oder kurz dieser Ton daure, sondern richtet sich darin lediglich nach dem Dichter. Schnelle Abweichungen in andere Töne haben besonders da statt, wo ein in ruhigem oder gar fröhlichen Ton redender plözlich durch einen, der in heftiger Leidenschaft ist, unterbrochen wird; welches in Opern ofte geschieht.
3. Weil das Recitativ nicht eigentlich gesungen, sondern nur mit musikalischen Tönen declamirt wird, so muß es keine melismatische Verziehrungen haben.
4. Jede Sylbe des Textes muß nur durch einen einzigen Ton ausgedrükt werden: wenigstens muß, wenn irgend noch ein andrer zu besserm Ausdruk daran geschleift wird, dieses so geschehen, daß die deutliche Aussprach der Sylbe dadurch nicht leidet.
5. Alle grammatische Accente müssen dem Sylbenmaaße des Dichters zufolge auf gute, die Sylben ohne Accente auf die schlechten Takttheile fallen.
6. Die Bewegung muß mit dem besten Vortrag übereinkommen; so daß die Worte, auf denen man im Lesen sich gern etwas verweilet, mit langen, die Stellen aber, über die man im Lesen wegeilet, mit geschwinden Noten besezt werden.
7. Eben so muß das Steigen und Fallen der Stimme sich nach der zunehmenden, oder abnehmenden Empfindung richten, sowol auf einzelen Sylben, als auf einer Folge von mehrern Sylben.
8. Pausen sollen nirgend gesezt werden, als wo im Text würkliche Einschnitte, oder Abschnitte der Säze vorkommen.
9. Bey dem völligen Schluß einer Tonart, auf welche eine andere ganz abstechende kommt, soll die Recitativstimme, wo nicht schon die Periode der Rede die Cadenz fodert, auch keine machen. Das Recitativ kann die Cadenz, wenn die Oberstimme bereits schweiget, dem Baß überlassen.
[945] 10. Die besondern Arten der Cadenzen, wodurch Fragen, heftige Ausrufungen, streng befehlende Säze sich auszeichnen, müssen eben nicht auf die lezten Sylben des Sazes, sondern gerade auf das Hauptwort, auf dessen Sinn diese Figuren der Rede beruhen, gemacht werden.
11. Die Harmonie soll sich genau nach dem Ausdruk des Textes richten, leicht und consonirend bey geseztem, und fröhlichen; klagend und zärtlich dissonirend bey traurigem und zärtlichen Inhalt; beunruhigend und schneidend dissonirend bey sehr finsterem, bey heftigem und stürmischen Ausdruk seyn. Doch versteht es sich von selbst, daß auch die wiedrigsten Dissonanzen, nach den Regeln der Harmonie sich müssen vertheidigen lassen. Besonders ist hier auf die Mannigfaltigkeit der harmonischen Cadenzen, wodurch man in andere Töne geht, Rüksicht zu nehmen; weil diese das meiste zum Ausdruk beytragen.
12. Auch das Piano und Forte mit ihren Schattirungen sollen nach Inhalt des Textes wol beobachtet werden.
13. Zärtliche, besonders sanft klagende und traurige Säze, auch sehr feyerlich Pathetische, die durch einen oder mehrere Redesäze in gleichem Ton der Declamation fortgehen, müssen sowol der Abwechslung halber, als weil es sich da sonst gut schiket, Arioso gesezt werden.
14. Als eine Schattirung zwischen dem ungleichen gemeinen recitativischen Gang, und dem Arioso, kann man, wo es sich wegen des eine Zeitlang anhaltenden gleichförmigen Ganges der Declamation schiket, dem recitirenden Sänger die genau taktmäßige Bewegung vorschreiben.
15. Endlich wird an Stellen, wo die Rede voll Affekt, aber sehr abgebrochen, und mit einzelen Worten, ohne ordentliche Redesäze fortrükt, das sogenannte Accompagnement angebracht, da die Instrumente währendem Pausiren des Redenden, die Empfindung schildern.
Dieses sind, wie mich dünkt die Eigenschaften eines vollkommenen Recitatives. Anstatt einer wortreichen und vielleicht unnüzen Anleitung, wie der Tonsezer jede dieser Eigenschaften in das Recitativ zulegen habe, wird es wol nüzlicher seyn, wenn ich gute und schlechte Beyspiehle anführe, und einige Anmerkungen darüber beybringe. Einer meiner Freunde, der mit der Theorie der Musik ein feines Gefühl des guten Gesanges verbindet, und dem ich diesen Aufsaz mitgetheilt habe, hat die Gefälligkeit gehabt, folgende Beyspiehle zur Erläuterung der obigen Anmerkungen aufzusuchen, und noch mit einigen Anmerkungen zu begleiten. Ich habe nicht nöthig die Weitläuftigkeit dieses Artikels zu entschuldigen; der Mangel an guter Anweisung zum Recitativ rechtfertiget mich hinlänglich.3
Zur Erläuterung der ersten und achten Regel, dienet das Beyspiehl I.
Hier siehet man zur Erläuterung der ersten Regel Einschnitte von verschiedener Länge und Kürze, so wie es der Text erfoderte. Zugleich aber hat man ein Beyspiehl, wie gegen die achte Regel gefehlt wird; denn bey dem Worte Götter + ist ein förmlicher Einschnitt in der Melodie und Harmonie, der erst bey dem Worte Menschen hätte fühlbar gemacht werden sollen.
Eben dieses gilt von dem Beyspiehl II. Auf dem Worte Herz wird mit dem G mollaccord eine harmonische Ruhe bewürkt, da doch der Sinn der Worte noch nicht vollendet ist. In beyden Stellen, die hier getadelt werden, sind auch die Pausen unschiklich angebracht. Hier muß noch zur Ergänzung der achten Regel angemerkt werden, daß kein Leitton noch eine Dissonanz eher resolviren muß, als bis ein völliger Sinn der Worte zu End ist. Wäre der Saz aber lang, oder fände man des Ausdruks wegen nöthig, die Harmonie oft abzuwechseln; so müßte bey jeder Resolution des Leittones oder der Dissonanz, sogleich ein anderer Leitton, oder eine neue Dissonanz eintreten, damit die Erwartung auch in der Harmonie unterhalten werde, wie in folgendem Recitativ III. von Graun.
Hier sind alle Accorde durch Leittöne und Dissonanzen in einander geschlungen, außer bey dem einzigen Wort dolor +, wo aber das Recitativ keine Pause hat, sondern fortgeht; daher man erst am Ende desselben in Ruhe gesezt wird. Solche Veränderungen [946] der Harmonie mitten in der Rede müssen allemal auf ein Hauptwort treffen, nicht auf ein Nebenwort, wie hier:
Bey der zweyten Regel ist über die Worte: er stehe mit der vorhergehenden in Verwandschaft oder nicht, etwas zu erinnern. Ueberhaupt hat die Regel ihre Richtigkeit: Nur die Art von einem Ton zum andern überzugehen, muß nach den Regeln der harmonischen Sezkunst geschehen. Denn ofte kann ein Redesaz auch 2, 3, und mehrere Töne haben, wie das obige Recitativ von Graun; flößen aber da die Töne nicht natürlich in einander, so würd es Schwulst und Unsinn. Auch wenn der Affekt nicht sehr heftig, noch ängstlich ist, bleibt man gern in einem gewissen Geleise, ohne von einem entlegenen Ton zu einem andern entlegenen überzugehen. Bey kurzen Redesäzen ist dieses noch mehr nothwendig, wenn gleich der Affekt heftig ist; weil die Kürze solcher Säze schon an sich etwas heftiges ausdrücket, welches, wenn man es noch durch plözliche Uebergänge zu entlegenen Tönen vermehren wollte, leicht übertrieben, und undeutlich werden könnte. Dieses erhellet aus folgendem Beyspiehle IV.
Die Bewegung ist hier viel zu heftig, als daß man die plözlichen Abänderungen der Harmonie wol verstehen könne; zumal da in die Recitativstimme solche wunderliche Intervalle gelegt sind, und die Deklamation so verkehrt ist. Graun ist in solchen kurzen heftigen Redesäzen in Ansehung der harmonischen Uebergänge sehr leicht, er deklamirt aber richtig, dadurch wird der Ausdruk in solchen Fällen deutlich, weil man blos auf den Sänger Acht giebt. S. V.
Nach der dritten und vierten Regel sind also folgende und ähnliche Säze, die Hr. Scheibe in seiner Abhandlung4 für gut hält, verwerflich. S. VI. Ein Sänger von Gefühl unterläßt nicht, hie und da, wo der Affekt Schönheit verträgt, Schwebungen und Ziehungen, auch Vorschläge, (schweerlich Triller) anzubringen, die aber sehr einfältig auf dem Papier aussehen, und die kein Sänger, der nicht von Geburt und Profeßion ein Sänger ist, gut herausbringen kann. Für mittelmäßige Sänger thut die bloße Deklamation, da eine Note zu jeder Sylbe gesezt wird, bessere Würkung. Exempel von guten Meistern, wo zwey Töne auf eine Sylbe sielen, sind höchst rar. Graun hat ein einzigesmal in seinem Tod Jesu gesezt.
Ein gefühlvoller Sänger singt:
und dann entsteht der wahre Ton des Mitleids. Man kann bey dieser Stelle Graun nicht wohl beschuldigen, daß er blos habe mahlen wollen; seine Hauptabsicht scheinet dabey gewesen zu seyn, dem Sänger einen äußerst mitleidigen Ton in den Mund zu legen, und daher ist diese Stelle in dem Recitativ Gethsemane etc. auch so ungemein rührend.
Zu Beyspiehlen der Fehler gegen die fünfte und siebende Regel kann folgendes dienen. S. VII. Gleich der Anfang sollte heißen:
Die lezten Worte des ersten Redesazes sind falsch deklamirt; sie sollten entweder
oder auch so:
gesezt seyn. In dem darauf folgenden Redesaz sollten die Worte: Wangen, Streichen, Rüken, Schlägen, auf das erste oder dritte Viertel des Takts fallen. Da das Wort ihren nur ein Nebenwort ist, und hier wieder die Absicht des Poeten das größte Taktgewicht hat, welches noch dazu das erstemal durch höhere und nachdrüklichere Töne, als das Hauptwort Streichen hat, vermehrt wird; so wird [947] dadurch der Sinn dieses Sazes ganz verstellt. Ueber der ersten Sylbe des Worts Schlägen, sollte o statt fis stehen, nämlich also:
dadurch erhielte dieses Wort den Nachdruk, der ihm zukömmt, und der unnatürliche Sprung der verminderten Quarte zu der lezten kurzen Sylbe dieses Worts wäre vermieden. Im dritten Saz stehn die Worte er und Mund auf einem unrechten Taktviertel. Dann giebt die natürliche Deklamation den Ton des Endfalls dieses Sazes an; statt
sollte stehen:
Auf folgende Art wäre der ganze Saz mit Beybehaltung derselben Harmonie in ein besseres Geschik gebracht. S. VIII.
Das Anfangswort des lezten Sazes wird wegen des Nachdruks, der auf die erste kurze Sylbe desselben gelegt ist, und der durch den Sprung von der vorhergegangenen tiefen Note entsteht, ungemein verstellt. Man beruft sich bey solchen Stellen insgemein auf den Vortrag guter Sänger, die statt
also:
singen; aber warum schreibt man nicht lieber so? Das Wort Missetbäter steht auf einen unrechten Taktviertel, welches durch die unnatürliche Pause, nach dem Worte gerechnet, entstanden ist. Das Wort fleht sollte, ob es gleich kurz ist, eine höhere Note haben, und nicht das Beywort er. Eben dieses gilt von der Präposition für, und der ersten Sylbe von hinauf, da das Hauptwort Gott weder Taktgewicht noch nachdrükliche Höhe hat. Der Tonsezer hat, wie man sieht, ängstlich gesucht, in der Singstimme etwas Flehendes hineinzubringen. Dieses gilt hier, so viel wie nichts: hier soll nicht mehr, nicht weniger als vorher geflehet werden, sondern mit Nachdruk deklamiret werden, was der Mund der Väter gesprochen hat. Der ganze Saz könnte mit einer geringen Veränderung der Harmonie ohngefähr so verbessert werden, wie bey IX. oder wie bey X.
Der Anfang des Sazes: Zur Schlachtbank etc. ist nach dem, was vorhergegangen ist, ganz und gar unsingbar: nicht wegen des Sprunges der übermäßigen Quarte d gis, den ein etwas geübter Sänger recht gut treffen kann; sondern wegen der vorhergegangenen plözlichen Abänderung der Harmonie in zwey abgelegene Töne. Der Sänger schließt dem vorhergehenden Saz in G moll; indem er nun diesen Accord in der Begleitung erwartet, wird er kaum berühret, und gleich darauf ein Accord angeschlagen, dessen Grundaccord E dur, und von G moll sehr entlegen ist. Dieses verursachet, daß er von dem folgenden Saz weder das erste d noch das zweyte gis treffen kann.
Das Baßrecitativ in dem Graunischen Tod Jesu, das sich mit den Worten anfängt: Auf einmal fällt der aufgehaltne Schmerz, kann fürnehmlich über die fünfte und siebente Regel zum Muster dienen, das vollkommen ist.
Die sechste Regel hat Graun sehr genau beobachtet. S. XI.
Viele Singcomponisten wollen, daß im Recitativ niemals mehr als zwey, höchstens drey Sechzehntheile auf einander folgen sollen. Man findet dieses in den Telemannischen und Scheibischen Recitativen genau beobachtet. In den tragischen Cantaten ist eher gegen den Accent der Sprache, und das natürliche Taktgewicht, als gegen diese Regel gefehlet. Man sehe gleich das erste Recitativ: Zwar hier mein Theseus glänzt kein stiller Sommertag. u.s.w. S. XII. Das unnatürliche Taktgewicht auf der lezten Sylbe von kretischen, wäre folgendergestalt (S. XIII) vermieden, und dem Sänger angezeiget worden, daß er über die Worte, die von keiner sonderlichen Bedeutung sind, wegeilen solle.
Wenn es wahr ist, daß man dem Vortrag des Sängers vieles in Recitativen überlassen muß, so ist es doch auch eben so wahr, daß es wiedersinnig ist, wenn der Tonsezer nicht alles, was in seinem Vermögen steht, anwendet, dem Sänger den Vortrag eines jeden Sazes zu bezeichnen. Der Sänger fühlt doch wohl nicht mehr, als der Componist.
Welche schöne Exempel von Graun kommen mir bey der siebenten Regel vor! Das erste ist aus der Cantate Apollo amante di Dafne. Apollo ruft, als er die Verwandlung gewahr wird. S. XIV. [948] Die erste Bestürzung ist in hohen Tönen ausgedrükt. Danach sinkt die Stimme, und steigt mit der Harmonie immer um einen Grad höher, bis zu der lezten Ausrufung, O dispietata! In solchen steigenden Fällen sind die Transpositionen
von ungemein guter Würkung. Graun bedient sich ihrer hauptsächlich bey dem Ausdruk des Erstaunens, und der zunehmenden Freude sehr oft. S. XV.
Transpositionen, wie bey XVI. in steigenden Affekten sind traurig, und klagend; doch ist die erste und lezte heftiger, als die mittelste.
Es versteht sich, daß die Singstimme zugleich mit der Harmonie steigen und fallen müsse, wenn die Transpositionen ihre Würkung thun sollen. So ist von der mittelsten Transposition bey XVII ein gutes Exempel von Graun: auch das folgende aus der Oper Demofonte: S. XVIII.
Die Transpositionen bey XIX, die das entgegengesezte der vorhergehenden sind, sind sehr gut zu sinkenden und traurigen Affekten zu gebrauchen: die im zweyten Beyspiehle sind noch trauriger, als die im ersten. So hat Scheibe in seiner Ariadne auf Naxos, da wo sie mit Schauer und Entsezen von der Untreue ihres Theseus spricht, bey folgenden Worten: Ich die ich ihn den ausgestrekten etc. S. XX. die wahre Harmonie, und die nach und nach heruntersinkenden Töne in der Singstimme wohl gewählt, und den rechten Ausdruk getroffen, wenn er nur etwas richtiger deklamirt hätte. Hingegen bey folgender Stelle (S. XXI), wo die Stimme sich bey den Worten, o Verräther! hätte erheben, und recht sehr heftig werden sollen, ist es gerad umgekehrt. Auch die Harmonie, womit das o Verräther anfängt, ist viel zu weich an diesem Orte.
Graun wußte sich in solchen Contrasten besser zu helfen. S. XXII. Nach dem d im Baß, im zweyten Takt erwartet man den b E Mollaccord. An dessen statt hört man den rauhen Dominantenaccord von C, und wird noch mehr erschüttert, wenn Rodelinde bey den Worten Grimoaldo crudel ihre Stimme aufs höchste erhebt, da sie vorher in tiefern Tönen seufzte.
In der Oper Demofonte glaubt Timante, daß sein Vater, der ihn verheyrathen will, von seiner geliebten Dircea, mit der er schon heimlich verheyrathet ist, spreche, und ist darüber voller Freuden; am Ende des Gesprächs hört er einen ganz fremden Namen. Tausend quälende Vorstellungen überfallen ihn auf einmal. Der Vater verlangt Erklärung; er antwortet, wie bey XXIII zu sehen.
Nichts kann rührender seyn, als diese Folge von Tönen, und doch beruhen sie bis auf den lezten Takt, auf simple Quintenfortschreitungen der Harmonie, nämlich:
die man sonst nur zu gleichgültigen Säzen braucht. Ein großer Beweiß, daß bey kurzen Absäzen leicht auf einander folgende Harmonien weit bessere Würkung thun, als entlegene und in einander verwikelte.
Zur neunten Regel. Ganze Cadenzen in der Recitativstimme, mit denen eine ganze Periode geschlossen werden kann, sind folgende in Dur und Moll:
deren förmlicher Schluß durch folgende nachschlagende Baßcadenz bewürkt wird.
Man sehe N. XXIV*. Da aber nicht jede Periode eine Schlußperiode ist, sondern ofte mit der folgenden mehr oder weniger zusammenhängt, so hat der Tonsezer hierauf wohl Acht zu geben, damit er diese Schlußcadenz nur alsdenn anbringe, wenn der Redesaz förmlich schließt, oder der darauf folgende eine von der vorhergehenden ganz abgesonderte Empfindung schildert. Außerdem begnügt man sich an der bloßen Cadenz der Recitativstimme, und einer der darauf folgenden Pause, wozu die Begleitung entweder den bloßen Dreyklang, oder den Sextenaccord [949] anschlägt; oder man thut, als ob man schliessen wollte, und lässet nach dem Accord der Dominante die erste Verwechslung des Accordes der Tonica hören. So könnte das erste der gegebenen Exempel, wenn die Rede noch in derselben Empfindung fortströmte, ohngeachtet des Schlußes der Periode, die Begleitung haben, wie bey XXIV †. Dadurch bewürkt man den Schlußfall der Periode und zugleich die Erwartung einer folgenden.
In dem Beyspiel XXV sind die zwey förmlichen Schlußcadenzen nach dem ersten und dritten Saze völlig unschiklich angebracht. Da die Empfindung der Rede durchgängig gleich ist, so hätten diese Schlußcadenzen auch vermieden, und angezeigtermaaßen behandelt werden sollen. Nach den Worten: sie lagern sich, hat der Tonsezer einen eben so wesentlichen Fehler begangen, daß er in der Recitativstimme keine Pause gesezt hat. Ramlers erzählende Recitative sind nicht Erzählungen eines Evangelisten, der gesehen hat, sondern eines empfindungsvollen Christen, der sieht, und bey allem, was er sieht, stille steht und fühlt. Darum hätten in dem Recitativ die zwey Säze, die der Dichter aus guten Ursachen durch ein Punktum von einander getrennet hatte, nicht so, wie veni, vidi, vici ohne allen Absaz in einander geschlungen seyn sollen.
Ein besseres Beyspiel zur Erläuterung dieser Regel von den Cadenzen ist bey XXVI aus dem Tod Jesu von Graun. Nach den Worten dein Wille soll geschehn, ist, wie es der Absaz der Worte mit der folgenden Periode erfodert, eine förmliche Schlußcadenz angebracht. Die übrigen Schlüsse der Periode sind, da die Empfindung der Rede gleich bleibt, nur in der Recitativstimme allein fühlbar gemacht.
Außer den drey angezeigten Arten, den Endfall einer Periode, die keine förmliche Schlußperiode ist, zu behandeln, ist noch eine vierte, die zugleich von Ausdruk und sehr mannigfaltig ist. Diese besteht darin, daß man nach der Cadenz der Recitativstimme, in der Begleitung den Dominantenaccord anschlägt, und anstatt nach demselben den Accord der Tonica hören zu lassen, sogleich eine andere nach Beschaffenheit des Ausdruks mehr oder weniger entlegene Tonart antritt: Z. E. statt:
oder
schreitet man so fort, wie bey XXVII. oder in Moll statt:
oder
wie bey XXVIII.
Alle diese Cadenzen sind von leidenschaftlichem Ausdruk; doch schikt sich eine für der andern mehr oder weniger zu diesem oder jenem Ausdruk. So ist z.B.
heftig und geschikt zu steigenden Empfindungen; hingegen ist diese Cadenz
geschikter in sinkenden Leidenschaften. Matt und traurig ist diese:
wenn man nemlich statt des Sextenaccordes von b E, den C duraccord erwartet hat. Es würde zu weitläuftig seyn, von jeder angezeigten Fortschreitung Beyspiele zu geben. Die Werke guter Sangmeister, als Grauns, Händels, Hassens, sind voll davon. In Opern, wo Personen von verschiedenen Affekten mit einander recitiren, sind dergleichen Cadenzen unentbehrlich. Anfänger müssen darauf alle ihre Aufmerksamkeit wenden, und vornemlich dabey auf den Sinn der Worte, und auf die wechselseitige Empfindung der recitirenden Personen Acht haben.
In Ansehung der männlichen und weiblichen Cadenzen ist noch anzumerken, daß da die erstere z. E.
durch den Vortrag einen Vorschlag vor der lezten Note erhält, als wenn sie so geschrieben wäre:
leztere hingegen, wenn sie auch, wie einige im Gebrauch haben, folgendergestalt geschrieben ist:
[950] dennoch also:
vorgetragen und auch besser so geschrieben wird; man sich hüten müsse, keiner männlichen Cadenz einen weiblichen Endfall zu geben, z. E.
weil sie durch den Vortrag, indem sie folgendergestalt
gesungen wird, höchst schleppend und wiedrig wird. Hiewieder wird häufig gefehlet. Selbst Graun ist einigemal in diesen Fehler gefallen; z.B.
Unter die besonderen Arten der Cadenzen, deren in der zehnten Regel Erwähnung geschieht, zeichnet sich die Frage durch etwas Eigenthümliches vor allen andern aus. Man ist lange über die Harmonie einig geworden, die man dieser Figur der Rede zur Begleitung giebt. Der Dominantenaccord hat schon an und für sich etwas, das ein Verlangen zu etwas, das folgen soll, erweket. Die Art, mit welcher man bey der Frage in diesen Accord tritt, nemlich:
und in Moll:
und mit welcher die Singstimme, anstatt in die Terz der Baßnote herunterzutreten, sich mit einmal in dessen Quinte erhebt, wie z.B.
und in Moll:
drükt den Ton der Frage vollkommen natürlich aus. Z. E. XXIX.
Die mehresten Tonsezer scheinen es sich zum Gesez gemacht zu haben, alle Redesäze, nach denen ein Fragzeichen steht, sie mögen nun eine eigentliche Frage seyn, oder nicht, oder das Hauptwort derselben mag am Anfange oder in der Mitte des Sazes stehen, durchgängig auf die angezeigte Art, die doch nur einzig und allein bey solchen Fragen, wo das Hauptwort und der eigentliche Frageton am Ende des Sazes befindlich ist, statt hat, zu behandeln, und alle Fragesäze ohne Unterschied einen männlichen oder weiblichen Schlußfall zu geben. Dadurch entstehen Ungereimtheiten, die auch ein Schüler fühlen, und dafür erkennen muß. Zu geschweigen, daß der grammatikalische Accent dadurch oft auf eine unrechte Sylbe fällt, so wird dem Fragesaz dadurch ein ganz anderer, ja bisweilen ganz entgegengesezter Sinn gegeben. Man sehe die drey Beyspiele über die nämlichen Worte XXX.
In dem ersten Saze, wo nach der gewöhnlichen Art der Fragaccent auf der lezten Sylbe, welche hier das Wort stirbt ist, fällt, entsteht in dem Sinn der Worte eine offenbare Gotteslästerung. Der zweyte Saz, in welchem das Wort Creuze zum Hauptwort gemacht ist, würde, ob er gleich weder einen männlichen noch weiblichen Schlußfall hat, vollkommen gut seyn, wenn der Frageton dieses Sazes nicht nothwendig auf dem Hauptwort Jesus fallen müßte. Daher ist die lezte Behandlung dieser Frage die beste, obgleich die ungewöhnlichste.
Nun wird man die Unschiklichkeit in den Fragsäzen XXXI und XXXII, und die Richtigkeit der Verbesserung leicht bemerken. In dem Beyspiehl XXXIII hat sich der Tonsezer durch das dem Saz nachstehende Fragzeichen verleiten lassen, eine musikalische Frage anzubringen, die nicht allein falsch accentuirt ist, sondern die überhaupt hier gar nicht statt findet, da eine Vermuthung mit dem Fürwörtlein ob noch keine deutliche Frag ist. Diese hätte eher bey den Worten: wer kann es wissen? statt gefunden.
In den tragischen Cantaten, aus denen diese Beyspiele genommen sind, haben fürnemlich alle [951] weibliche Fragen außer dem Fehler, daß sie allezeit auf die zwey lezten Sylben eines Sazes angebracht sind, überhaupt eine unnatürliche Schreibart in der Recitativ-stimme: z. E.
Der Hr. Verfasser führt davor in seiner Abhandlung Gründe an, die weder wichtig noch richtig sind, und denen man leicht die triftigsten Gegengründe entgegensezen könnte, wenn man zu befürchten hätte, daß diese Schreibart einreißen würde. Daß der Schlußfall der Frage nicht allein von zween, sondern, wenn die Worte es erfodern, von weit mehrern Sylben seyn könne und müsse, beweiset das Zeugniß eines großen Dichters, der zugleich ein vollkommener Deklamator ist. Ein Arioso, das sich mit der Frage endiget:
Oder soll der Landmann – –
– – – – – – dankbar
Dir das Erstlingsopfer weyhn?
und von dem Verfasser dieser Anmerkungen in Musik gesezt worden, konnte durch keinen andern Schlußfall den Poeten so vollkommen befriedigen, als durch folgenden.
Man bedient sich aber dieser Harmonie und Melodie nicht zu allen und jeden Fragen; sondern man braucht oft einen bloßen Sprung auf das Hauptwort in der Recitativstimme, bey vielerley Harmonien in der Begleitung. In dem Graunschen Tod Jesu findet sich gleich in dem ersten Recitativ folgende Stelle, (S. XXXIV.) die von ungemeinem Nachdruk ist, 1) weil man bey der Wiederholung der Frage zwey Hauptwörter vernimmt, die der Quartensprung nachdrüklich macht, nämlich Jesus und das; 2) weil der Schlußfall der ersten Frage auf einen Dominantenaccord geschieht, der, wie bekannt, etwas ungewisses ausdrükt, der zweyte Schlußfall hingegen auf den Accord einer Tonica angebracht ist, wodurch das Zweifelnde der Frage gleichsam zur Gewißheit wird; und 3) weil die Stimme bey der Wiederholung steigt und heftiger wird. Ohne dergleichen Verstärkungen des Ausdruks muß sich Niemand einfallen lassen, weder Fragen noch andere Redesäze im Recitativ unnöthiger Weise zu wiederholen.
In eben dem Graunischen Recitativ ist die musikalische Frage auch bey folgendem Saz ganz recht vermieden:
weil in den Fragaccenten unter Fragen und Fragen ein Unterschied ist, indem es Fragen giebt, die in dem völligen Ton der Gewißheit ausgesprochen werden.
Endlich werden diejenigen Fragesäze, die zugleich Ausrufungen sind, am besten durch einen Sprung auf das Hauptwort ausgedrükt, wie in dem Graunschen Exempel: Dei! tu mi difendi? etc. welches bey Gelegenheit der zweyten Regel S. V. angeführt ist.
Ausrufungen und dergleichen heftige kurze Säze müssen allezeit mit einem Sprung auf die nachdrüklichste Sylbe des Ausrufungswortes geschehen, nicht auf die kürzeste, wie hier:
Die begleitende Harmonie muß den Ton der Leidenschaft angeben. In folgenden Beyspielen XXXV, die zur Erläuterung der eilften Regel dienen, kommen auch Ausrufungen von verschiedenem Charakter vor.
[952] Alle diese Beyspiehle sind von Graun, weil Niemand, als er, so durchgängig gewußt hat, jeden Ausdruk durch die begleitende Harmonie zu erheben, und weil Niemand, als er, bey dem richtigsten Gefühl die Harmonie so in seiner Gewalt hatte. Man darf seine Recitative nur gegen andere halten, um hievon überzeugt zu seyn.
Das Piano und Forte der zwölften Regel geht eigentlich nur den Sänger an, in so fern es ihm nicht vorgezeichnet ist, ob es gleich besser gethan wäre, daß solches sowol, als auch die Bewegung bey jeder Abänderung des Affekts, ihm deutlich vorgezeichnet würde, zumal in Kirchenrecitativen, wo man sich so wenig auf den Sänger verlassen kann. Statt eines f. sezt man oft im begleitenden Baß lauter Viertelnoten mit Viertelpausen, statt Zweyviertelnoten, und läßt dann den Baß, wenn der Affekt sanfter oder trauriger wird, mit einer langen Note, über welcher tenuto geschrieben wird, piano eintreten, welches an Ort und Stelle von ungemein guter Würkung ist.
Bey der dreyzehnten Regel ist noch anzumerken, daß das Arioso fürnehmlich auch alsdenn gut angebracht ist, wenn solche Säze bis auf einen gewissen Grad der Empfindung gestiegen sind, und daselbst verweilen. Oft kann eine einzige lange Note, zu welcher der Baß eine taktmäßige Bewegung annimmt, das ganze Arioso seyn; oft aber ist es auch länger. Beyspiele sind bey XXXVI zu sehen.
Ein Beyspiel der vierzehnten Regel ist das ganze Recitativ der Cornelia aus dem ersten Akt der Oper Cleopatra von Graun. Da diese Oper sehr rar geworden ist, und Beyspiele dieser Art selten sind, so wird es vielleicht einigen nicht unangenehm seyn, das Recitativ hier zu finden, da es nicht lang ist. Die Begleitung der Violinen und der Bratsche ist in dem obersten System zusammengezogen. S. XXXVII.
In Recitativen mit Accompagnement findet man hin und wieder Stükweise solche Stellen, wo der Sänger verbunden ist, im Takt zu singen, wie z.B. in den beyden Recitativen des Graunschen Oratoriums: Gethsemane! etc. und Es steigen Seraphim etc. welche zugleich als Muster des vollkommenen Accompagnements, dessen die lezte Regel von oben Erwähnung thut, dienen können.
Nichts kann abgeschmakter, und dem guten Geschmak und dem Endzwek des accompagnirten Recitatives so sehr zuwieder seyn, als Mahlereyen über Worte oder Säze, die mit der Hauptempfindung nichts gemein haben. Man schaudert vor Verdruß, wenn man in den Telemannischen Tod Jesu bey den allerrührendsten Stellen statt leidenschaftlicher Töne das Herz klopfen, den Schweiß die Schläf' herunterrollen, gespizte Keile einschlagen, die Väter hönen, und den Schmerz in des Helden Seele, wie eine Sinfonie, wüten hört. Selbst in Recitativen ohne Accompagnement war Telemann ein eiteler Mahler; man sehe z.B. wie ein Christ durch die rauhe Bahn gehen muß, und im Heulen fröhlich ist. S. XXXVIII.
Nach welchen Regeln der Harmonie mögen sich doch wohl solche Fortschreitungen entschuldigen lassen?
Keine andere Mahlereyen finden im Accompagnement statt, als die die Gemüthsbewegung der recitirenden Person ausdrüken. Diese muß der Tonsezer zu mahlen verstehen, wenn er durch seine Musik rühren will. Man halte in dem obenerwähnten lezten Accompagnement von Graun die Stellen: Zerreiße Land! etc. gegen das Telemannische über die nämlichen Worte. Da wo Graun uns durch die richtige Schilderung der heftigsten Gemüthsbewegung ins Innerste der Seelen dringt, zerreißt Telemann das Land, steigt in die Gräber und läßt die Väter in der Bratsche ans Licht steigen. Man hört blos den Tonsezer, und gerade da, wo man ihn am wenigsten hören will.
Ueberhaupt müssen alle Spielereyen mit Worten, die kurz nach einander wiederholet werden, indem man die Sylbe oder das Wort, das das erstemal höhere Töne hatte, zum zweytenmal unter tiefere Töne legt, dergleichen bey XXXIX zu sehen sind, vermieden werden.
Hr. Scheibe hält in seiner Abhandlung für gut, die Schlußcadenzen des Basses abwechselnd bey männlichen und weiblichen Cadenzen anzubringen. Dieses gehört mit zu den Spielereyen, deren eben Erwähnung geschehen.
1 | S. Dessen Abhandlung über das Recitativ in der Bibliothek der schönen Wissenschaften im XI u. XII Theile. |
2 | S. ⇒ Oratorium. |
3 | Die Beyspiehle sind Kürze halber auf besondere Blätter abgesezt, und durch römische Zahlen I. II. u.s.f. numerirt worden, und dadurch ist im Text jedes der auf den besondern Blättern stehenden Beyspiehle deutlich bezeichnet worden. |
4 | S. Bibliothek der schönen Wissenschaften im XII und XIII Theile. |
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