Tibet (Geographie)

[133] Tibet (Geographie), chinesisch Ghangdschian jul, d. h. das Schneeland; denn 8–10,000 F. erhebt es sich über das Meer, und nie[133] durfte sich die Sonne rühmen die Schneedecken seiner Berge geschmolzen zu haben. Gleich dem Eisriesen Boer umschlingt das himmelhohe Himalayagebirge mit seinen schneeweißen Armen süd- und südwestlich T's helvetisches Tafelrund. Stolz erhebt sich hier die höchste bekannte Bergspitze der Erde, der Dhawalagiri (25,183 pariser F.), über die Wolken. Als höchste Stufe zwischen dem indischen Tieflande und Hochasien zieht sich im Norden der Mustag und Kentaissé hin. Europa's Alpen mit allen ihren Schauern von Gletschern und Lawinen schrumpfen zusammen zu frostigen Kindern vor T's Eisgiganten; ganz Helvetien gleicht nur einer Idylle, nur einem Großmuttermährchen von Gefahren im Angesicht dieser asiatischen Eistragödie. Mit Lebensgefahr nur dringt man in sein Inneres. Von den bengalischen Grenzen, durch Butans Schlüchte muß man immer aufwärts klimmen, wo schmale, unsichere Pfade an schauderhaften Abgründen hinziehen, wo das donnernde Getöse stürzender Cataracten das Ohr betäubt und schwankende Hügelrücken, aus Baumzweigen und Balken von Fels zu Fels geflochten, Aug' und Stirn schwindeln machen. In den Schnee- und Eisregionen verdoppeln sich die Gefahren, und zu den Lawinen gesellen sich noch die herabstürzenden Felsenblöcke. Mitten unter Grausen und Sturm wird aber das Große geboren: darum ist T. auch die Wiege von allen Hauptströmen Asiens. Am Berge Gangutri, aus dem 91,000 F. hohen St. Georgs Gletscher, entwindet sich dem granitenen Kinderbett' der Ganges, hier noch ein scherzendes Kind, doch schon mit dem heiligen Scheine geschmückt, gewoben von den ersten Strahlen der Sonne. Aus der Umarmung zweier Flüsse, des Li und des Schaujuk, geht stolz im Nordwesten der Sind, der Indus der Alten hervor und wälzt seine Fluthen durch Afghanistan in das arabische Meer. Nur durch eine Bergkette ist er von den Quellen des Tzang Tsiu getrennt, welcher den Wui Tsiu und Jaro Zangbo aufnimmt und in Birma als Irawaddi erscheint. Auch die übrigen hinterindischen Ströme, der Mekhong, Menam und Saluän, sowie[134] der chinesische Janksekiang, entspringen in T. Diesen Flüssen reiht sich in den angebauten Gegenden die künstliche Bewässerung an. welche durch hohle Bäume geleitet wird; ringsum laufen Dämme von Erde, um das zu schnelle Ablaufen des Wassers zu verhindern. In manchen Gegenden haben die Einwohner selbst die Abhänge hoher Berge terrassenförmig angebaut und das Wasser bis auf die obersten Absätze geleitet. Damit im Winter die fruchtbare Erde nicht von den Winden weggeführt werde, begießen sie die Felder mit Wasser, so daß sie beim Eintritt der strengen Kälte ganz mit Eis bedeckt werden. Ueberhaupt reiht sich trotz T's hoher Lage am Fuße neben Steppen auch ein reicher Blüthenkranz von Thälern, in denen Reis, Getreide, Obst, Südfrüchte, Rhabarber genugsam reisen, wenn auch die asiatische Sonnenscheibe nur als blasse, ohnmächtige Mondlaterne über den nordisch hergezauberten Eispalast magisch hinschwimmt. Gold, Silber, Quecksilber, Kupfer, Eisen, Blei, Marmor, Magnete, alle Mineral- und Metallgeister brüten emsig auf den vergrabenen Schätzen; aus dem Sand der Flüsse wäscht man Goldkörner, aus dem Schlamm der warmen Seen Borax. Aber der Nationalreichthum des Tibetaners fußt gänzlich auf dem Thierreiche, das sich auch nirgend abnormer, phantastischer und erfreulicher bewährt. Wilde Pferde (Gurkas) jagen in großen Heerden auf den sandigen Steppen umher; man schießt sie als Wild und bratet das wohlschmeckende Fleisch. Gezähmte Schafe mit 40 Pfund schweren Fettschwänzen liefern herrliche Felle, von denen die der Lämmer hier so geschätzt sind wie bei den Kirgisen und im asiat. Rußland; und Caschmirziegen liefern die feinste Wolle zu köstlichen Shawls und den saftigsten Braten, den leider die Eingeborenen nur selten und die Geistlichen nie genießen dürfen. Der Ochse Jak hat einwärts gebogene Hörner und einen kleinen Höcker, der, sowie der Rücken und Schwanz, mit langen, weichen, glänzenden Haaren besetzt ist, die zu Zeugen und Stricken gebraucht werden. Sein Schwanz gleicht einem weißen, dichten, seidenhaarigen[135] Pferdeschweife und dient, in Goldblech gefaßt, dem ganzen Orient als Fliegenwedel und den Damen des Serails als Fächer. Die Kühe (Dhé genannt) geben außerordentlich viel Milch und Butter, doch ist ihr Fleisch ungenießbar. Das Moschusthier lebt einsam und scheu auf dem hohen Gebirge und birgt in seinem Beutel den unschätzbaren Bisam. Das wunderbare Einhorn klettert über die Klippen; und das Purik, ein Thier, halb Schaf, halb Hund, und eine eigene Art wilder Hunde vervollständigen T's reiches Thierverzeichniß. – T. wurde ursprünglich von wilden Völkerstämmen bewohnt, welche noch lange Zeit unauslöschliche Spuren ihrer rohen Sitten beibehalten mußten. Mit den Einzelnen vermischten sich allmälig Kolonisten, die schon in uralten Epochen hier einwanderten; denn der Paß Octa Dhoora, der sich achtzehntehalbtausend F. über die Meeresfläche erhebt, ist so alt wie unsere Erdkugel, oder wie ihr Rückgrath, der Granit- und Gneiskoloß der Himalayakette. Bereits damals, wo unsere christliche Zeitrechnung beginnt, verpflanzten Mönche aus Hindostan die Lamaische Religion hierher und gründeten zahlreiche Klöster. Der Oberpriester, Dalai Lama (s. d.), wird, da in ihm Fo (s. d.) wohnt, göttlich verehrt, und ist zugleich seit der Mitte des 12. Jahrh. weltlicher Regent. Neben ihm stehen zwei chinesische Generale an der Spitze der Verwaltung; und ein zweiter Lama, der Bogdo Lama, genießt ebenfalls göttliche Ehren. Man zählt gegen 3000 Tempel und Klöster und auf 84,000 Priester. – Die Tibetaner, deren Anzahl sich kaum auf 12 Mill. belaufen dürfte, sind mongolischer Abstammung, haben schwarze Haare und Augen, welche letztere in spitzige, langgedehnte Winkel auslaufen, während die Augenwimpern kaum bemerkbar und auch die Augenbraunen äußerst schwach sind. Die Frauen, sowie auch die kleinen Mädchen, scheiteln das Haar in zwei langgeflochtene Zöpfe, die um so schöner gefunden werden, je künstlicher das Flechtwerk ist. Unverheirathete erwachsene Frauen fügen einen dritten Zopf hinzu. Alle tragen Halbstiefeln, Röcke von schwarzem[136] oder rothem Baumwollenstoff, oder von Seide in verschiedenen Farben und mit einem Rande von gestickten Blumen verziert. Die Finger schmücken sie mit Korallen in silberne Ringe gefaßt. Dabei führen sie einen oder zwei Rosenkränze, Korallen, Lasurstein, Muscheln oder Holzkügelchen bei sich. Um den Hals hängen sie eine kleine silberne Büchse mit dem Bildnisse ihres Schutzheiligen, und auf der Brust einen silbernen Ring, an dem kleine Kettchen herabhangen, womit der Shawl vorn befestigt wird. Die Hüte wohlhabender Frauen sind mit Perlen verziert, aus Holz verfertigt und scharlachroth lakirt. Jedes Frauenzimmer, welches sich vor einem Lama zeigen muß, bemalt sich das Gesicht mit den Theeblättern, welche in der Theekanne bleiben. Da im Durchschnitt die Tibetanerinnen von stärkerer Leibesbeschaffenheit sind als die Männer, so haben sie außer der häuslichen auch noch alle Feldarbeit zu besorgen. Daher geschieht es sehr oft, daß drei oder vier Brüder ein einziges Eheweib nehmen; denn die Vielmännerei, ist Polyandrie, ist gestattet. – T. grenzt im Westen und Norden an Turkestan und Turfan, nordöstlich an die Mongolei, im Osten und Südosten an China und südlich an Hinter- und Vorderindien. Sein Flächeninhalt beträgt nach den neuesten Angaben gegen 30,000 Quadrat M., und das ganze Land zerfällt in drei Theile: in das Gebiet des Dalai Lama mit der Hauptstadt Hlassa oder Barantola, in das des Bogdo Lama mit der Residenz Tischutumbu oder Djaschi Hlumbo, und die Provinz Butan mit der Hauptstadt Tassisudon.

P.

Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 10. [o.O.] 1838, S. 133-137.
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