Hannover [1]

[222] Hannover, Königreich im nordwestl. Deutschland, umschließt das Großherzogthum Oldenburg u. wird durch dasselbe in einen Vorsprung von dem preuß. Westfalen in einen östl. u. westl. Theil geschieden, die nur durch einen schmalen Streifen zusammenhängen; ein 3. südl. Theil ist ganz von fremdem Gebiete umgeben, deßgleichen einige Enclaven. H. gränzt an die Nordsee, Hamburg, Holstein u. Lauenburg, Mecklenburg-Schwerin, Preußen, Braunschweig, Waldeck, Lippe, Oldenburg, Bremen, Kurhessen u. die Niederlande, ist 700 QM. groß, 1820000 E. (darunter 218000 Katholiken), hat also ungefähr 2600 E. auf die Geviertmeile. Im Südosten des Landes erhebt sich die Gebirgsinsel des Harzes, an den sich einzelne Gebirgs- und Höhenzüge in westl. Richtung anlehnen. Der größte Theil des Bodens ist Tiefland, Gheest-, Haide-, Marschboden od. Torfmoor. Hauptflüsse sind die Elbe (mit Jetze, Ilmenau, Seve, Este, Luhe, Oste, Medem), Weser (mit Aller, Wimme, Geeste, Hunte), die Ems (mit der Hase, Leda, Vechta). Bemerkenswerthe Kanäle sind der Auricher-, der Bremer- u. der Ems-Kanal (zwischen Lingen u. Meppen). An Teichen u. kleinen Seen ist H. sehr reich; von einiger Bedeutung sind das Steinhudermeer, der Dümmer-, Bodenteicher- und Seeburgersee. Ackerbau u. Viehzucht sind die Haupterwerbsquellen; H. hat guten Flachs, schöne [222] Pferde u. in den Marschgegenden treffliches Rindvieh, Schafe (Haidschnucken und veredelte); der sehr wichtige Bergbau im Harze liefert Silber (jährlich gegen 50000 Mark), viel Blei u. Eisen, auch Kupfer, Schwefel, Vitriol, Alaun, Stein- und Braunkohlen; Salzwerke gibt es 14. Die Industrie ist von geringer Bedeutung, auch der Handel nicht der günstigen Lage an dem Meere und 3 schiffbaren Flüssen entsprechend. Das Königreich H. hat am Bundestage im Plenum 4 Stimmen, im engeren Rathe 1; die Krone ist erblich im Mannsstamme; König ist Georg V., geb. 2. Mai 1819. Eingetheilt ist H. in die 6 Landdrosteien: Hannover, Hildesheim, Lüneburg, Stade, Osnabrück u. Aurich, u. die Berghauptmannschaft Klausthal. Die Katholiken haben einen Bischofssitz in Hildesheim. Die Ständeversammlung besteht aus 2 Kammern. In der 1. Kammer sitzen die königl. Prinzen, die Häupter der 5 mediatisirten fürstl. und gräfl. Häuser, der Erblandmarschall, 4 vom Könige ernannte Mitglieder, darunter 2 Minister, der von der Kammer ernannte Commissarius für das Schulden- u. Rechnungswesen, 33 Abgeordnete der größeren Grundbesitzer, 10 Abgeordnete des Gewerbs- u. Handelsstandes; 10 Abgeordnete der Kirche und Schule, 4 Abgeordnete vom Stande der Rechtsgelehrten. Von den gewählten Mitgliedern wird jedes 3. Jahr die Hälfte durch Neuwahlen ergänzt. Die 2. Kammer besteht aus 2 Ministern, aus dem von der Kammer erwählten Commissarius für das Schulden- und Rechnungswesen, aus 38 Abgeordneten der Städte und Flecken, aus 44 Abgeordneten der Landgemeinden. Außerdem bestehen besondere Landtage für die Provinziallandschaften, für das Fürstenthum Kalenberg, Göttingen, Grubenhagen; für das Fürstenthum Lüneburg; – die Grafschaften Hoya u. Diepholz; – die Herzogthümer Bremen und Verden; – das Fürstenthum Osnabrück; – das Fürstenthum Hildesheim u. die Stadt Goslar; – das Fürstenthum Ostfriesland und das Harlingerland. Für das Gerichtswesen besteht ein Oberappellationsgericht zu Celle; Mittelinstanzen sind die Obergerichte, unter denen die Stadt- u. Amtsgerichte stehen. Für den öffentl. Unterricht sorgen: die Landesuniversität Göttingen, 15 Gymnasien, 13 Progymnasien, 21 höhere Gewerbschulen, zahlreiche Elementarschulen, deren Lehrer in 6 Schullehrerseminarien gebildet werden. Das Budget vom Etatsjahr 1853–54 betrug an Ausgaben 8332718 Thlr. gegenüber v. 8005099 Thlr. Einnahmen. Die Staatsschuld betrug 36522887 Thlr. 12 Ngr. 3 Pfg. mit einer jährl. Verzinsung zu 1017510 Thlr. 3 Ngr. 2 Pfg., das umlaufende Papiergeld 200000 Thlr. Das Heer: 23687 Mann aller Waffengattungen, das Bundescontingent 13054 Mann; letzteres bildet den Hauptbestandtheil des 10. Armeecorps. – Geschichte. H. entstand aus Heinrichs des Löwen Alloden Braunschweig und Lüneburg, die ihm nach seiner Aechtung von dem Herzogthum Sachsen allein gelassen wurden; fortwährende Theilungen verdarben wieder, was einzelne Erwerbungen genutzt hatten und ließen das braunschweig. Haus zu keiner Macht gelangen. Die braunschw.-lüneburg. Linie (das Haus Hannover) stammt von Herzog Wilhelm (gest. 1592); sie besaß anfangs nur den südl. Theil von Lüneburg 8 Celle), erhielt aber bis 1689 Hoya, Diepholz, Grubenhagen, Kalenberg, Göttingen, den nördl. Theil von Lüneburg, Lauenburg und Osnabrück (wo ein protest. Prinz u. ein kathol. Bischof alternirte). Ernst August führte 1680 die Primogenitur ein u. erhielt für seine Dienste gegen Türken u. Franzosen von Kaiser Leopold I. die Kurwürde. Sein Sohn Georg Ludwig, der von mütterl. Seite mit den Stuarts verwandt war, wurde 1714 König von England als Georg I., eroberte von Schweden die Herzogthümer Bremen u. Verden; von 1714 bis 1837 waren nun die Könige von England zugleich Kurfürsten von H. Dieses litt viel im 7jähr. Kriege, hob sich aber im langen Frieden wieder, bis die franz. Kriege neues Unheil brachten. Georg III. hatte zwar mit der franz. Republik für H. einen Separatfrieden geschlossen, Napoleon anerkannte ihn aber nicht und ließ H. 1803 durch Mortier besetzen u. das [223] hannöv. Heer auflösen, das den Kern der deutschen Legion bildete, welche im engl. Dienste vor Kopenhagen, in Sicilien, Spanien und den Niederlanden mit Auszeichnung focht. Preußen erhielt H. 1806 gegen Anspach, Bayreuth, Cleve und Neuenburg, verlor es aber 1807 schon wieder, wo es Napoleon zu Westfalen schlug od. theilweise mit Frankreich vereinigte. Nach der Schlacht von Leipzig wurde das Land geräumt, auf dem Wienercongreß zum Königreiche erhoben u. durch Ostfriesland, Harlingerland, Hildesheim, Goslar, Arenberg-Meppen, die niedere Grafschaft Lingen, Bentheim und einen Theil des Eichsfelds vergrößert, trat aber Lauenburg an Dänemark ab. Der frühere Zustand wurde beinahe wieder gänzlich hergestellt u. das Land von dem Herzog von Cambridge als Vicekönig regiert. Unruhen in Göttingen und Osterode 1830 wurden ohne Blutvergießen unterdrückt; in den folgenden Jahren eine neue Verfassung ausgearbeitet, die 1833 von dem Könige anerkannt wurde. Den 20. Juni 1837 gelangte der Herzog Ernst August von Cumberland auf den Thron, der die Verfassung durch Patent vom 5. Juli aufhob, woraus der bekannte Verfassungsstreit entstand, der 1840 durch die ständische Annahme der von dem Könige vorgelegten Verfassung beendigt wurde (vergl. Ernst August). Die Jahre 1848 und 49 bewegten auch H., trieben die Verhältnisse aber nicht wie anderswo aus den Fugen; doch ist wegen der Verfassung vom 5. Sept. 1848 eine Spannung zurückgeblieben, indem noch nicht entschieden ist, ob einige ihrer Paragraphen bleiben werden. Den 7. Septbr. 1851 schloß H. den Vertrag zur Vereinigung des sog. Steuervereins mit dem Zollverein ab, wodurch dieser an die Nordsee vordrang, aber auch der Hoffnung entsagte, das Prinzip der Schutzzölle für die deutsche Industrie ausgibig durchzuführen. Ernst August I. st. 18. Nov. 1851 und hatte seinen erblindeten Sohn Georg V. zum Nachfolger. (Havemann, Geschichte der Lande Braunschweig und Lüneburg; Lüneb. 1838.)

Quelle:
Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1855, Band 3, S. 222-224.
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