[881] Charakter (griech.), ursprünglich ein eingegrabenes oder eingeprägtes Zeichen (Kennzeichen), dann im allgemeinen das bleibende Gepräge, die dauernde, in allen einzelnen Äußerungsformen und Wirkungen hervortretende Eigentümlichkeit eines Dinges, die dasselbe von andern unterscheidet. So spricht man von dem C. einer Landschaft, eines Gebäudes, eines Stoffes (gleichbedeutend mit der »Natur« desselben). Im besondern dient das Wort aber zur Bezeichnung der Eigenart eines wollenden Wesens, wie sie in seinen Handlungen hervortritt. Wie das Verhalten eines Naturkörpers einerseits durch die wechselnden äußern Umstände, in denen er sich jeweilig befindet, anderseits durch die dauernde eigne Natur desselben bedingt ist, so läßt sich auch erwarten, daß auf die Handlungen eines Menschen neben den wechselnden Veranlassungen auch das innere Wesen (die Individualität) des Handelnden einen Einfluß ausübt; in diesem wie in jenem Falle wird dieser Einfluß durch eine gewisse, in allen einzelnen Betätigungen hervortretende Gleichförmigkeit sich verraten. Während aber alle Naturkörper einer und derselben Art unter denselben Umständen regelmäßig auch dieselben Wirkungen ausüben, ist das Verhalten verschiedener menschlicher Individuen sowohl als auch desselben Individuums in derselben Lage nicht immer dasselbe, es haben also jene einen generellen und konstanten, diese einen individuellen und veränderlichen C. So sehr daher auch sowohl allgemeine Gründe als die Erfahrung gegen die Ansicht des Indeterminismus (s.d.) sprechen, so ist doch die Forderung des Determinismus (s.d.), daß bei Kenntnis der gegebenen äußern Umstände und des Charakters eines Menschen sich sein Verhalten im voraus müsse angeben lassen (gerade sowie etwa der Chemiker durch seine Kenntnis der Natur der Stoffe befähigt ist, die Wirkungen derselben für jeden bestimmten Fall vorauszusagen), nur in sehr beschränktem Umfange praktisch zu erfüllen. Der Grund liegt darin, daß das Seelenwesen eines Menschen (im Unterschied von dem Wesen eines chemischen Atoms) ein sich Entwickelndes ist, in dem alle vergangenen Erlebnisse Spuren zurücklassen; der C. eines Menschen ist das Ergebnis aus seiner ganzen Vergangenheit in Verbindung mit gewissen, die Grundlage der Entwickelung bildenden angebornen Anlagen (Naturell, Temperament, s.d.). Beim Kinde spricht man daher zwar von einem Naturell (bez. Temperament), aber noch nicht von einem C., der sich erst noch bilden wird und erst im reisen Alter naturgemäß zu einem gewissen Abschluß in seiner Entwickelung gelangt, so daß weiterhin im allgemeinen nur ausnahmsweise (infolge tief. erregender Erlebnisse oder krankhafter Störungen) Änderungen desselben stattfinden. Nicht jeder natürlich entstandene C. entspricht nun aber den Anforderungen, die man an einen vollkommenen (idealen) C. stellt; daher ist die Charakterbildung eine der wichtigsten Aufgaben der Erziehung, insbes. der Selbsterziehung. Von einem vollendeten C. wird vor allen Dingen eine gewisse Einheitlichkeit und Geschlossenheit verlangt; der entwickelte Mensch soll eine ausgeprägte Persönlichkeit zeigen, in deren einzelnen Handlungen uns eine gewisse Folgerichtigkeit, ein auf bestimmte Ziele beharrlich gerichtetes Wollen entgegentritt, er darf nicht, dem Zuge des Augenblicks folgend, heute so, morgen so sich entscheiden, sondern das Gesetz der eignen Natur muß mächtiger in ihm sein als der Antrieb der äußern Umstände. In vielen Fällen wird mit dem Worte C. speziell der ideal-vollkommene C. gemeint (z. B. in dem Ausdruck: C. besitzen), in demselben Sinne bezeichnet die Sprache den Mangel jedes den einzelnen Willensäußerungen zu Grunde liegenden und sie beherrschenden Prinzips als Charakterlosigkeit, während man von Widersprüchen im C. eines Menschen redet, wenn sich mehrere, miteinander unvereinbare Prinzipien dieser Art nachweisen lassen. Der charaktervolle Mensch braucht sich übrigens des Gesetzes seiner eignen Natur (seines Charakters also) nicht unbedingt bewußt zu sein; je nachdem er dies ist (also nach einem klar erkannten und konsequent festgehaltenen Prinzip handell) oder nicht, kann man von einem reflektierenden oder von einem naiven C. reden; die Homerischen Helden bilden Beispiele der letztern, die meisten Helden Schillers Beispiele der erstern Art. Auch ist zu betonen, daß ein (in formaler Hinsicht) vollkommener C. deswegen nicht notwendig ein sittlicher sein muß, während wahre Sittlichkeit ohne C. nicht denkbar ist. Der C. bildet sozusagen die Form, die je nach der Beschaffenheit des den Willen leitenden Prinzips ebensogut mit einem sittlichen wie mit einem unsittlichen Inhalt erfüllt werden kann; und die Herrschaft, die der Wollende über sein Wollen besitzt, die innere Konsequenz und Folgerichtigkeit, die dem ausgebildeten C. innewohnt, kann auch dann noch ein (ästhetisches) Interesse, ja, wenn sie in seltenem Grad auftritt, Bewunderung einflößen, wenn die verfolgten Zwecke (wie bei Richard III., Karl Moor u. a.) von dem sittlichen Urteil verworfen werden. Der von Kant und Schopenhauer gemachte Unterschied zwischen einem empirischen und einem intelligibeln C., von denen der erstere dem Menschen in seiner zeitlichen Erscheinung, der andre demselben als einem übersinnlichen Wesen zukomme, beruht gänzlich auf metaphysischen Voraussetzungen, und die besonders von Schopenhauer betonte Unveränderlichkeit des wahren (intelligibeln) Charakters bei allen (nur die Erscheinungsform betreffenden) Umbildungen des empirischen bedeutet eine Leugnung aller sittlichen Entwickelung. Vgl. Baumann, Über Willens- und Charakterbildung (Berl. 1897). Im ästhetischen Sinn ist C. soviel wie Stil (s.d.); im Drama, Epos, Roman heißen die Personen, weil sie Träger eines Charakters sind oder sein sollen, Charaktere.