[560] Figūr (lat.), zunächst jede Zusammenstellung von gewissen Punkten, geraden und krummen Linien einer Ebene (ebene F.), dann überhaupt jedes geometrische Gebilde. Eine bloß aus Punkten, Geraden und Ebenen bestehende F. nennt man oft eine Konfiguration. In der Stilistik und Rhetorik versteht man unter Figuren gewisse Spiegelungen des subjektiven innern Stils (s. Stil), die den ästhetischen Apperzeptionsformen (s. Apperzeption) an die Seite gestellt werden können. Während aber bei diesen letztern das Charakteristische der Auffassungsweise darin besteht, daß zu einem gegebenen Vorstellungsinhalt andre Vorstellungen hinzugedacht werden, die ihn ästhetisch erweitern und bereichern, wird dort, wo wir von Figuren der Rede sprechen, nicht sowohl ein Vorstellungs-, als vielmehr ein Gefühlselement hinzugefügt. Hiermit ist bereits gesagt, daß die Figuren nicht, wie in der antiken Rhetorik, als äußerlicher Schmuck der Rede aufgefaßt werden dürfen, sondern daß sie von innen heraus begründet und als Widerschein bestimmter psychischer Prozesse angesehen werden müssen. An die Stelle der sehr zahlreichen, aber zumeist wertlosen antiken Klassifikationen der Figuren muß daher eine psychologische Einteilung treten, die leicht gewonnen wird, wenn man die von der modernen Psychologie durchgeführte Unterscheidung dreier Hauptrichtungen des Gefühls (s. Gefühl) beachtet. Lust und Unlust, in denen sich die Qualitätsrichtung des Gefühls äußert, sind allerdings hier, wo es sich um allgemeinste Formen des Gefühlslebens handelt, zur Erklärung der Tatsachen nicht dienlich, wohl aber die Gegensätze von Erregung und Hemmung einerseits und von Spannung und Lösung anderseits. Man kann die Figuren von diesem psychologischen Gesichtspunkt aus in zwei Hauptgruppen, nämlich in die Figuren der Erregung und in die Figuren der Spannung, zerlegen. Die Figuren der Erregung machen sich wiederum in vier verschiedenen Formen geltend: 1) in der Wahl übertreibender Ausdrücke, in der Hyperbel (s.d.), die vorwiegend dem sich erst entwickelnden Stil einer ungelenken Kunst (beispielsweise den mittelhochdeutschen Spielmannsgedichten) eigen ist, aber zur Bezeichnung starken Affekts auch in lebensvollen Gebilden reisen Stils erscheint; 2) in der Zusammenstellung von Ausdrücken mit sich steigernden Gefühlswerten, d. h. in der sogen. Klimax. Während die Musik anschwellende Erregung leicht eindringlich verkörpert, ist dieses der Poesie etwas schwerer; doch ist z. B. in Goethes »Mailied«, dem Gedicht »Rastlose Liebe« u. a. ein solches Crescendo leicht zu beobachten; 3) in der Wiederholung bestimmter Wörter, Satzteile oder Sätze. Wie in der Metrik, spielt die Wiederholung in der Stilistik eine bedeutende Rolle; sie knüpft entferntstehende Elemente zu einer Einheit zusammen und verstärkt hierdurch die Kraft des Affekts. Die namhaftesten Figuren der Wiederholung sind: Anaphora, Epiphora, Anadiplosis, Epanalepsis, Epizeuxis, Epanodos etc. (s. diese Artikel); 4) in gewissen Formen der Wort- und Satzverbindung: das Asyndeton (s.d.) dient hierzu besonders dann, wenn eine Reihe von Geschehnissen in ihrer eingreifenden Bedeutung wuchtig hervorgehoben werden soll (z. B. »Ich kam, ich sah, ich siegte«), während das Polysyndeton (s.d.), gleichfalls eine F. der Erregung, dann wirksam angewendet wird, wenn das Beharrende oder regelmäßig Wiederkehrende, mit andern Worten, wenn keine Geschehnisse, sondern Zustände und Eigenschaften, geschildert werden sollen (z. B.: »Und es wallet und siedet und brauset und zischt«). Einfacher sind die Figuren der zweiten Hauptform, die Figuren der Spannung; hierher gehört 1) das Abbrechen des Ausdrucks, die sogen. Aposiopesis (s.d.), deren sich der Redende bedient, wenn er sich aus irgendwelchen Gründen scheut, seinen Gedanken Worte zu verleihen, und 2) die rhetorische Frage (s. Frage), durch die der Redende einen Zweifel erweckt, den er in der Regel kurz darauf wieder beseitigt. In der Philosophie nennt man logische oder syllogistische Figuren die verschiedenen Gestalten, die der Schluß durch die verschiedene Stellung des Mittelbegriffs annimmt; s. Schluß.