Moralstatistik

[131] Moralstatistik, derjenige Teil der Statistik, der sich mit den aus freier, sittlicher Entschließung hervorgehenden Handlungen der menschlichen Gesellschaft befaßt. Könnten alle diese Handlungen genau verzeichnet und im Zusammenhalt mit den sie bedingenden Beweggründen beurteilt werden, so würde die M. ein getreues Bild der Sittlichkeit einer Gesellschaft liefern und einen Vergleich zwischen Ländern und Zeiten gestatten. Das ist aber nicht der Fall; denn die wirklichen Beweggründe sind für Dritte nicht erforschbar, und man muß sich mit dem keineswegs immer zuverlässigen Rückschluß aus äußern Erscheinungen und Handlungen auf diese begnügen. Aber auch diese Erscheinungen und Handlungen liegen nicht immer offen zutage, und bei vielen von ihnen ist nicht festzustellen, ob sie wirklich aus freien Entschließungen hervorgegangen oder ob sie als Wirkungen andrer Ursachen zu betrachten sind (Selbstmord oder Ermordung durch Dritte, z. B. bei Vergiftungsfällen, oder unglücklicher Zufall, z. B. Fall ins Wasser etc.). Die M. beschränkt sich demgemäß auf solche Erscheinungen, die an die Öffentlichkeit treten; auf die Einzelfälle geht sie, wie überhaupt die Statistik, nur so weit ein, als dies für eine richtige Gruppierung erforderlich ist. Die Sittenzustände werden nun nicht allein durch die schlechten, sondern auch durch die sittlich guten Handlungen gekennzeichnet. Die M. hätte sich darum mit beiden zu befassen; da aber die statistische Erfassung der sittlich guten Handlungen nur selten möglich ist, weil das sittlich Gute sich mehr der Öffentlichkeit entzieht und, wenn auch dies nicht der Fall, oft schwer als solches zu erkennen ist (z. B. Wohltätigkeit aus Ehrgeiz, aus Berechnung, aus Furcht oder aus reiner Menschenliebe), so befaßt sich die M. vorwiegend mit den unsittlichen Handlungen, und die positive Sittlichkeitsstatistik (Entwickelung des Sparkassenwesens, gemeinnütziger Anstalten und Vereine, Gestaltung des geistigen und religiösen Lebens) dient im wesentlichen nur als eine mit Vorsicht zu behandelnde Ergänzung der Unsittlichkeitsstatistik. In den Bereich der letztern gehören zunächst die nach den Landesgesetzen strafbaren Handlungen, deren statistische Ermittelung mit Rücksicht auf Zahl, Art der strafbaren Handlungen, die vor Gericht anhängig wurden, Alter, Geschlecht, Stand der Angeschuldigten und der Verurteilten, verhängte Strafen etc., Aufgabe der Kriminalstatistik (s. d. und Kriminalität) ist, dann aber auch die Statistik von Handlungen, die zwar als unsittlich angesehen werden, aber nicht strafbar sind oder nicht bestraft werden können (Selbstmord). Außer dem Selbstmord gehört hierher insbes. die auf geschlechtliche Verhältnisse sich beziehende Statistik, wie die der Ehescheidungen, der Prostitution, des Findelwesens und der unehelichen Geburten. Die Zahlen, zu denen die Massenbeobachtung auf diesem Gebiet führt, weisen allerdings gewisse Regelmäßigkeiten auf. Das gilt namentlich von den unehelichen Geburten. Es trafen z. B. uneheliche Geburten auf 100 Geborne im Gebiete des Deutschen Reiches 1841–50 durchschnittlich 10,8, 1851–60: 11,5, 1861–70: 11,5, 1871–80: 8,9, 1881–90: 9,3, 1891–1900: 9,1, 1901: 8,6, 1902: 8,5, 1903: 8,3. Diese 8,3 Proz. des Deutschen Reiches im J. 1903 setzen sich aber aus verschiedenen Zahlen zusammen; so trafen im selben Jahr in Bayern auf 100 Geburten 12,5 uneheliche, in Sachsen 12,5, in Württemberg 8,9, in Baden 7,3, in Preußen 7, in Oldenburg 4,8; am wenigsten uneheliche Geburten hatte Schaumburg-Lippe mit nur 2,9 Proz. Zu ähnlichen Ergebnissen führte die M. auch in andern Ländern. Auch die Selbstmordstatistik, dann die Statistik der Verehelichungen, der Ehescheidungen etc. weisen Zahlen auf, deren Schwankungen als verhältnismäßig klein erscheinen. Bereits Süßmilch (»Göttliche Ordnung in den Veränderungen des Menschengeschlechts«, Berl. 1742, 4. Aufl. 1775) hatte solche Regelmäßigkeiten beobachtet und als Ergebnis einer göttlichen Ordnung erklärt. QuételetSur l'homme«, Brüssel 1835) faßte diese Regelmäßigkeiten als etwas Naturgesetzliches auf, eine Anschauung, die unter andern Buckle, dann auch früher Ad. Wagner (»Die Gesetzmäßigkeit in den scheinbar willkürlichen menschlichen Handlungen«, Hamb. 1864) teilten. Diese führt folgerichtig zur Verleugnung der Willensfreiheit und der Verantwortlichkeit des einzelnen für seine Handlungen, denn das »Budget der Schafotte und Gefängnisse« (Quételet) müßte naturnotwendig erfüllt werden. Nun lassen aber gerade die oben mitgeteilten Zahlen über die unehelichen Geburten eine bemerkenswerte Erscheinung wahrnehmen. Lexis macht darauf aufmerksam, daß, was z. B. die obige Reihe von 18 Zahlen (uneheliche Geburten 1871–88) anlangt, die mittlere Abweichung vom Mittel weit größer sei, als bei einem analogen Glückspiel in 18 Serien von je 1,759,331 Versuchen (der jährlichen Durchschnittszahl der Geburten) zu erwarten wäre. Vergleicht man die Durchschnittszahlen der unehelichen Geburten 1871 bis 1888 sowie die von 1890–1900 mit den frühern, so findet man, daß die relative Häufigkeit derselben abnahm, als durch die Gesetzgebung die Niederlassung und Eheschließung erleichtert wurden. In Bayern namentlich brachte die Gesetzgebung von 1868 eine durchschlagende Wirkung hervor, wie die folgenden Prozentzahlen der unehelichen Geburten beweisen:

Tabelle

Umgekehrt berechnet sich für die Zahl der Eheschließungen, die auf 1000 Einwohner entfallen, für die Jahre 1841–85 ein Bestreben zur Erhöhung, wenngleich diese Zahl im übrigen naturgemäß eine gewisse Grenze nicht überschreiten kann. Freilich läßt sich nicht immer die dauernde ab- oder aufsteigende Bewegung einer statistischen Zahl so zweifellos auf eine bestimmte Ursache zurückführen. So haben seit einigen Jahrzehnten die Selbstmorde in allen Ländern (außer Norwegen) zugenommen. In Preußen z. B. betrug die Zahl derselben 1869–72 durchschnittlich jährlich 2956, von 1873–76: 3274, 1881–93: 5853; dann trat ein gewisser Stillstand ein, dem wieder ein Anwachsen der Selbstmorde folgt. 1902 betrug die Zahl der Selbstmörder 7217, 1903: 7470 oder 0,21 vom Tausend Lebender. Im Deutschen Reich betrug sie im Jahresdurchschnitt 1881–93: 9994, 1894–98: 10.876. Im J. 1901: 11,836 (0,21 auf 1000), 1902: 12,339 (0,21 auf 1000), 1903: 12,730 (0,22 auf 1000). Man wird nicht irregehen, wenn man zur Erklärung des Anwachsens der Zahl der Selbstmorde namentlich im Beginn der 1880er Jahre und wieder in den letzten Jahren auf die Verwickelung, Aufregung, größere Schwierigkeit des modernen Lebens hinweist, wenn damit auch der genauere ursachliche Zusammenhang noch nicht erklärt ist. Jedenfalls finden wir so starke Schwankungen in den Tatsachen der M. und in ganz unregelmäßigen Perioden, daß dieselben keineswegs auf einer sogen. Gesetzmäßigkeit im naturwissenschaftlichen Sinne beruhen können, sondern vielmehr als Folgen gewisser, meist deutlich nachweisbarer sozialer oder gesetzgeberischer Vorgänge[131] erscheinen, während z. B. für die wenig schwankende Relativzahl der Totgebornen (Verhältnis der Totgeburten zur Zahl aller Geburten) im Deutschen Reich ein naturgesetzlicher Kausalzusammenhang angenommen werden muß. Ebenso wie auf den oben vorgeführten Gebieten kann die M. auch auf andern Gebieten dartun, daß die Menschen tatsächlich, wenn sie nicht gerade als krank anzusehen sind, nach Beweggründen handeln, daß die Willensrichtung nicht eine notwendig gegebene ist, sondern sich ändern kann, z. B. bei einer Änderung der Strafgesetzgebung oder der Gesetzgebung überhaupt. So hat in Frankreich seit Wiedereinführung der Ehescheidung durch Gesetz vom 27. Juli 1884 die Zahl der Separationen von Tisch und Bett rasch ab-, die der Scheidung aber anfangs von Jahr zu Jahr zugenommen. Die Zahl der Separationen betrug 1871–75 durchschnittlich im Jahr 2004, 1876–80: 2559, dagegen 1885: 2122, 1886: 2206, 1887: 1896; die Zahl der Ehescheidungen aber betrug 1885: 1960, 1886: 2705, 1887: 4685, 1888: 4548. Die M. kann wohl zeigen, daß äußere Umstände (Naturumgebung, gesellschaftliche Verhältnisse) einen großen Einfluß auf Entschließungen und Handlungen ausüben, doch vermag sie eine zwingende Notwendigkeit für solche Handlungen weder für den einzelnen noch eine solche für die Masse nachzuweisen. Das ist auch in der neuern Zeit allgemein als Tatsache anerkannt worden. Vgl. hierüber insbes. Drobisch, Die moralische Statistik und die menschliche Willensfreiheit (Leipz. 1867); v. Öttingen, Die M. in ihrer Bedeutung für eine Sozialethik (3. Aufl., Erlang. 1882); Knapp, Die neuern Ansichten über M. (Jena 1871); Lexis, Moralstatistik, im »Handwörterbuch der Staatswissenschaften«, Bd. 5 (2. Aufl., das. 1900), und Abhandlungen zur Theorie der Bevölkerungs- und Moralstatistik (das. 1903).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 14. Leipzig 1908, S. 131-132.
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