Strafgesetzgebung

[77] Strafgesetzgebung, europäische, der Inbegriff der Rechtsordnungen der Kulturstaaten Europas, insoweit sie das Wesen und die Arten des Unrechts, der deliktischen, verbrecherischen Handlung, bestimmen und an das Unrecht die eigenartige öffentlich-rechtliche Rechtsfolge der Strafe anknüpfen. In den meisten Einzelheiten trägt das Strafrecht nationalen Charakter; doch sind gewisse Grundzüge mehr oder minder übereinstimmend, weil sie den gemeinsamen Kulturanschauungen entsprechen. Man kann insoweit von europäischem Strafrechtsprechen. Dieses hat auch außer Europa weitreichenden Einfluß. So stehen die Vereinigten Staaten von Nordamerika in ihrem Strafrecht dem englischen sehr nahe; Brasilien stand früher unter dem Einfluß des portugiesischen, jetzt, wie Uruguay, des italienischen Vorbildes; Venezuela, Chile und die meisten andern süd- und mittelamerikanischen Republiken folgen Spanien nach; Japan, Ägypten, der Kongostaat, Haïti lehnen sich an das Muster Frankreichs an (der neue japanische Entwurf steht jedoch mehr unter italienischem und deutschem Einfluß).

I. Als gemeinsame Grundsätze der europäischen S. sind die folgenden von besonderer Wichtigkeit: 1) Keine Strafe ohne Strafgesetz. Darin liegt einmal die Alleinherrschaft des Gesetzesrechts unter Ausschluß des Gewohnheitsrechts. Zweitens wird dadurch die Analogie verboten, insofern sie zu einer Vermehrung der mit Strafe belegten Fälle führt. Drittens wird die rückwirkende Kraft der S. ausgeschlossen; jedoch werden hiervon meistens Ausnahmen zugunsten des Verbrechers gemacht. Viertens liegt in dem Grundsatz der Ausschluß absolut unbestimmter Strafen, wie sie sich bisweilen noch in russischen Strafgesetzen finden.

2) Kein Verbrechen ohne Angriff auf ein Rechtsgut. Dieser Grundsatz wird verletzt, wenn eine Handlung lediglich wegen ihrer sittlichen Verwerflichkeit unter Strafe gestellt wird. Denn das würde eine Verwechselung von Recht und Moral in sich schließen.

3) Keine Strafe ohne Schuld. Dieses Prinzip bedeutet zunächst, daß die Strafe nicht bloß an das Vorliegen eines äußern Erfolges geknüpft, sondern daß auch eine subjektive Beziehung des Täters zu dem von ihm verursachten Erfolg verlangt wird. In den meisten Fällen wird Vorsatz (s. Dolus) erfordert, bei einigen wenigen Straftaten genügt auch Fahrlässigkeit. Sodann bedeutet es zweitens, daß der Täter schuldfähig oder zurechnungsfähig sein muß. Ausnahmslos wird heute überall anerkannt, daß gegen Geisteskranke keine Strafe verhängt werden kann. Ausnahmslos wird ferner, wenn auch in wechselnden Formen, dem jugendlichen Alter Berücksichtigung geschenkt. Drittens ergibt sich als Konsequenz der Willenshaftung, daß auch dem Versuch (s. d.) eines Verbrechens etc. Beachtung zu schenken ist, den eine reine Erfolgshaftung nicht strafen würde; endlich, daß jeder als strafwürdig erscheint, der schuldhaft und schuldfähig zu dem im Gesetz beschriebenen äußern Verbrechenserfolg mitgewirkt hat. Daraus ergibt sich dann die durchgehends in der europäischen S. erfolgende Berücksichtigung der Teilnahmeformen.

4) Ein gemeinsamer Grundzug der S. ist schließlich auch darin zu finden, daß unter den Strafmitteln überall die Freiheitsstrafe die Hauptrolle spielt. Daraus folgt die Notwendigkeit, nach den verschiedenen Arten von Straftaten auch verschiedene Arten von Freiheitsstrafen zu trennen, z. B. im deutschen Recht Hast, Gefängnis und Zuchthaus (wozu noch Festungshaft als sogen. custodia honesta tritt), oder in Italien arresto, detenzione, reclusione und ergastolo. Einen qualitativen Unterschied kann nur der wirkliche Vollzug schaffen; am wichtigsten wird dabei das Fehlen oder Vorhandensein eines Arbeitszwanges erscheinen. Die Todesstrafen haben ihre frühere zentrale Bedeutung verloren. Die Tendenz nach ihrer gänzlichen Beseitigung ist in den neuern gesetzgeberischen Arbeiten unverkennbar.[77]

II. Wenden wir uns nach der Betonung des Gemeinschaftlichen in del S. dem Besondern und Trennenden zu, so werden wir die einzelnen Rechte in Gruppen zusammenstellen können, die untereinander engere Berührungspunkte zeigen. Da das Recht eine Kulturerscheinung ist, so erscheint es als ganz natürlich, wenn wir die nähere kulturelle, sprachliche und ethnische Verwandtschaft auch in der S. widergespiegelt finden. Nach den drei indogermanischen Hauptzweigen werden wir in Europa A. eine romanische, B. eine germanische und C. eine slawische Gruppe unterscheiden. Die letztere steht aber vorwiegend unter germanischem Einfluß. In den beiden andern lassen sich weitere Untergruppen herausheben: in jener der französische, der italienische und der spanische; in dieser der englische, der deutsche und der skandinavische Rechtskreis. Im großen und ganzen lassen die germanischen Rechte dem richterlichen Ermessen in der Strafauswahl viel mehr Spielraum als die romanischen. Zwar hier wie dort treffen wir in der Regel auf relativ bestimmte Strafandrohungen (s. Strafrecht IV, 3), aber die Weite der Strafrahmen in den germanischen Rechten ist ungleich größer. Auf romanischem Boden ist eine so freie Stellung des Richters unerhört, wie etwa die des englischen, der bei manslaughter (Totschlag) nach seinem Ermessen lebenswierige oder zeitige Strafknechtschaft, Gefängnis mit oder ohne harte Arbeit oder auch nur Geldstrafe verhängen kann. In Holland kann der Richter bei jedem Verbrechen bis auf einen Tag heruntergehen. Das norwegische Strafgesetzbuch vom 1. Jan. 1905 stellt mehrfach sogar die Straflosigkeit ins richterliche Ermessen.

A. 1) In Frankreich gilt noch der Code pénal von 1810, der nur 1832 und 1863 größere Veränderungen erfahren hat. Er hat zuerst die vielfach auch in die Rechte der andern Gruppen übernommene Dreiteilung der Straftaten in Verbrechen, Vergehen und Übertretungen (crimes, délits, contraventions) aufgebracht, die inzwischen aus dem italienischen und spanischen Rechtskreis wieder verschwunden ist. Der Versuch wird charakterisiert durch den Anfang der Ausführung (commencement d'exécution – Vorbild vieler späterer Bestimmungen, auch des preußischen und deutschen Rechts) und gleich der Vollendung bestraft, desgleichen die sechs Fälle der Teilnahme gleich der Täterschaft. Die Definition des Anstifters ist ebenfalls Vorbild unter andern des deutschen Rechts geworden. Die Hehlerei wird als Teilnahmeform aufgefaßt. Frankreich stehen am nächsten Belgien (1867, ein wesentlich verbesserter Code pénal), Luxemburg (1879), Monaco (1874); sodann einige Schweizer Kantone, wie Genf (1874), unter denen Neuchâtel (1891) beachtenswert ist; endlich gehören hierher Rumänien (1864, geändert 1874 und 1894) und die Türkei (1858). 2) Italien hat seit 1889 ein sehr gründlich vorbereitetes und wertvolles neues Strafgesetzbuch. Hervorzuheben sind die Normen für die Strafzumessung nach dem Motiv, die Rücksicht auf geminderte Zurechnungsfähigkeit, die Scheidung des Versuchs in beendeten und unbeendeten (dies auch dem spanischen Rechtskreis eigentümlich). Die ältere italienische S. hat auf Spanien (1822) sehr stark und teilweise auf Portugal (1852), besonders aber auf San Marino (1865) und Tessin (1873) eingewirkt. 3) Spanien hat ein interessantes und hochstehendes Strafgesetzbuch (1871), für das eine höchst künstliche Strafzumessungsarithmetik besteht. Hierher gehört Portugal, das indes zum Teil durch Frankreich beeinflußt ist; so ist z. B. die französische Drei- statt der spanischen Zweiteilung der Straftaten rezipiert.

B. 1) Das englische Recht beruht nur zum kleinen Teil auf Gesetzen (statute law), im übrigen auf Gewohnheitsrecht und Gerichtsgebrauch, der mit Präjudizienkultus und Analogie arbeitet (common law). Es ist in den Lehren des allgemeinen Teils stark rückständig und hat sehr formalen Charakter. Ganz auffällig ist die Nichtbeachtung des modernen Schuldbegriffs in der Lehre von Mord und Totschlag. Das englische Recht trennt sich hierdurch innerlich von der Gruppe und steht eigentlich im Gegensatze zu sämtlichen Gruppen. 2) Das deutsche Strafgesetzbuch (1871) steht nach preußischem Vorbild unter französischem Einfluß. Doch sind Versuch und Beihilfe milder strafbar als die vollendete Tat, bei Realkonkurrenz tritt nicht Absorption, sondern gemäßigte Kumulation ein, Notwehr ist allgemein anerkannt etc. Im besondern Teil ist unter anderm Mord nicht lediglich Qualifikation des Totschlags, sondern beide Begriffe stehen in einem sich ausschließenden Verhältnis. So hat die deutsche S. doch im ganzen echt germanischen Charakter. Sie ist Vorbild gewesen für Ungarn (1878), den kroatischen (1879) und österreichischen Entwurf (1891), während die geltende österreichische S. von 1852 nur Revision der von 1803 ist, somit dem Geiste nach der josephinischen Zeit angehört und als veraltet bezeichnet werden muß. Die deutsche S. hat auch auf die meisten Schweizer Kantone (z. B. Zürich, 1871) bestimmend eingewirkt, die deutsche Wissenschaft und neuere Reformbewegung auf den verdienstlichen Schweizer Entwurf 1896. Große Selbständigkeit zeigen die ebenfalls hierher gehörigen Niederlande (1881), denen es gelungen ist, die französische Fremdherrschaft in der S. abzuschütteln. Ältere deutsche S. ist im Südosten Europas nachgebildet worden, Bayern in Griechenland (1834), Preußen in Serbien (1860). 3) Enger zusammen gehören Dänemark (1866), Island (1869), Schweden (1864), Finnland (1889). Überall herrscht die Zweiteilung der strafbaren Handlungen. Außerordentliche Bedeutung für die Weiterentwickelung und Reform der S. hat das norwegische Strafgesetzbuch vom 1. Jan. 1905.

C. In Rußland gilt seit 1903 ein neues Strafgesetzbuch, das unter Berücksichtigung der hauptsächlichsten europäischen S. ausgearbeitet wurde. Vgl. »Die S. der Gegenwart in rechtsvergleichender Darstellung«, herausgegeben im Auftrag der internationalen Kriminalistischen Vereinigung von v. Liszt, bisher Bd. 1: Das Strafrecht der Staaten Europas, hrsg. von Liszt (Berl. 1894) und Bd. 2: Das Strafrecht der außereuropäischen Staaten, hrsg. von Crusen (das. 1899, mit Nachtrag zum 1. Bd.); »Annuaire de législation étrangère«, herausgegeben von der Société de législation comparée in Paris (bisher 34 Jahrgänge); »Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts« (hrsg. auf Anregung des deutschen Reichsjustizamtes, Berl. 1905 ff.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 77-78.
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