Naiv

[803] Naiv. (Schöne Künste)

Es ist schweer den Begriff dieses Worts festzusezen, das so vielfältig nur willkührlich gebraucht wird; das einmal etwas lächerliches, ein andermal etwas rührendes und liebenswürdiges ausdrükt. Es scheinet überhaupt, daß das Naive eine besondere Art des natürlich Einfältigen sey, und daß dieses alsdenn naiv genennt werde, wenn es gegen das Verfeinerte und Ueberlegte, das einmal schon wie zur Regel angenommen worden, merklich absticht. Ein Mensch der fern von der größern gesellschaftlichen Welt erzogen worden, der von den feineren Lebensregeln, von der raffinirten, aber zur Gewohnheit gewordenen Höflichkeit und dem ganzen Ceremonialgesez der feineren Welt nichts weiß, der nur auf sich selbst, und nicht auf das, was andere von ihm denken mögen, acht hat; ein solcher Mensch wird in den meisten Gesellschaften etwas lächerlich scheinen, nach ihrem Urtheilen ins Grobe fallen, aber naiv genennt werden. Doch mit eben dieser Benennung werden auch viele Gedanken, Empfindungen und andere Aeusserungen einer Sevigne belegt, die zwar immer in der großen Welt gelebt hat, und der das ganze Gesezbuch der galanten Welt bis auf den geringsten Artikel bekannt war, die aber sich gar ofte den richtigen Vorstellungen und natürlich edeln Empfindungen ihres eigenen Charakters überlassen hat, welche nichts von dem Modegepräg dessen, was bey ähnlichen Veranlassungen die feinere Welt zu äussern pflegte, an sich hatten.

Von welcher Seite her man das Naive untersucht, so zeiget sich, daß es seinen Ursprung in einer mit richtigem Gefühl begabten, von Kunst, Verstellung,[803] Zwang und Eitelkeit unverdorbenen Seele habe. Die Einfalt und Offenherzigkeit im Denken, Handeln und Reden, die mit der Natur übereinstimmt, und auf welche nichts willkührliches, oder gelerntes von außenher den geringsten Einflus hat, in so fern sie gegen das feinere, überlegtere, mit aller Vorsichtigkeit das Gebräuchliche nicht zu beleidigen, abgepaßte, absticht, scheinet das Wesen des Naiven auszumachen. Es äußert sich in Gedanken, im Ausdruk, in Empfindungen, in Sitten, Manieren und Handlungen.

In Gedanken, oder der Art sich eine Sache vorzustellen, scheinet mir folgendes bis zum Erhabenen naiv. Adrast kommt mit den Müttern der von Theben erschlagenen Jünglinge zum Thesus, ruft ihn um Hülfe gegen den Creon an, der nicht erlauben will, daß die Erschlagenen begraben werden. Theseus, anstatt dem Adrast seine Bitte sogleich zu gewähren, oder abzuschlagen, macht sehr viel Worte ihm zu beweisen, daß er sich in diesen Krieg gar nicht hätte einlassen sollen. Hierauf giebt ihm Adrast diese naive Antwort.

»Ich bin nicht zu dir gekommen, als zu einem Richter meiner Thaten, sondern, als zu einem Arzt meines Uebels. Ich suche keinen Rächer meiner Vergehungen, sondern einen Freund, der mich aus der Verlegenheit ziehe. Willst du mir meine billige Bitte versagen, so muß ich mirs gefallen lassen; denn zwingen kann ich dich nicht. Kommet also ihr unglüklichen Mütter, und kehret zurüke; werfet diese unnüze Zeichen, wodurch Supplicanten sich ankündigen, weg, und rufet den Himmel zum Zeugen an, daß eure Bitte von einem König verworfen worden, der unser Blutsverwandter ist.«1

Dies ist gerade zu, was der richtigste natürliche Verstand, und die Einfalt der Empfindung in diesem Fall eingaben. Diese äußert Adrast, ohne die vorsichtige Bedenklichkeit, daß er den Theseus dadurch beleidigen könnte; ohne die, feinern Köpfen gewöhnliche Vorsicht, sich bey dem, den man um Hülfe anspricht einzuschmeicheln, legt er das Ungereimte in dem Betragen des Theseus an den Tag, gerade so wie er es empfindet; ohne zu bedenken, daß vielleicht Theseus viel Umstände mache, um seine Hülfe dadurch mehr gelten zu machen, nihmt er es, als für eine unwiederrufliche Weigerung an, und geht davon.

Das Naive im Ausdruk besteht in Worten, die geradezu die Gedanken, oder die Gesinnungen der Unschuld ausdrüken, aber durch spizfündige, oder schalkhafte Anwendung einen nachtheiligen Sinn haben können, an den die redende Person aus Unschuld, oder Unwissenheit nicht gedacht hat. Die Schalkhaftigkeit findet darin etwas Ungesittetes oder Grobes, wo blos Unschuld und edle Einfalt ist.

Empfindungen und deren Aeußerung in Sitten und Manieren sind naiv, wenn sie der unverdorbenen Natur gemäß, und obgleich der feineren Verdorbenheit des gangbaren Betragens zuwieder, ohne Rükhaltung, ohne künstliche Verstekung, oder Einkleidung, aus der Fülle des Herzens herausquellen. Beyspiele davon findet man überall in Bodmers epischen Gedichten aus der patriarchischen Welt; in den Epopöen des Homers, und in den Idyllen des Theokritus und unsers Geßners. Es hat auch in zeichnenden Künsten, im Tanz, in den Gebehrden und Stellungen der Schauspiehler statt. Nichts ist unschuldsvoller, naiver und gegen unsere künstliche Manieren abstechender, als die verschiedenen Stellungen und Gebehrden, die Raphael der Psyche in den Vorstellungen ihrer Geschicht im farnesischen Pallaste gegeben hat.

Das Naive macht keine geringe Classe des ästhetischen Stoffs aus; es ist nicht nur angenehm, sondern kann bis zum Entzüken rühren. Deswegen sind blos in dieser Absicht die Werke des Geschmaks, darin durchaus naive Empfindungen und Sitten vorkommen, höchst schäzbar; weil sie den Geschmak an der edlen Einfalt einer durchaus guten und liebenswürdigen Natur unterhalten, und verstärken.

Das Naive in den Gedanken thut da, wo man überzeugen, entschuldigen, oder wiederlegen will, die größte Würkung; denn es führet das Gefühl der Wahrheit unmittelbar mit sich. In der Elektra des Sophokles wird diese unglükliche Tochter des Agamemnons von der Clytemnestra beschuldiget, sie suche durch ihre Klagen ihrer Mutter Reden und Handlungen verhaßt zu machen. Hierauf giebt Elektra diese höchst naive Antwort, die keiner Gegenrede Raum läßt. »Diese Reden kommen von dir, nicht von mir her, du thust die Werke, die ich blos nenne2 Sehr naiv und eben dadurch überzeugend ist auch folgendes; wiewol das Weitschweifende dieser Stelle, vielleicht zu tadeln wäre. Pseudolus giebt seinem verliebten jungen Herren, [804] den er durch sein vieles Fragen verdrießlich gemacht hat, folgende Antwort:


Si ex te tacente fieri possem certior

Here, quæ miseriæ te tam misere macerant

Duorum laberi ego hominum parsissem lubens,

Mei te rogandi et tui respondendi mihi.

Nunc quoniam id fieri non potest, necessitas

Me subigit ut te rogitem.3


Der Redner, dem es gelinget den wahren Ton der Einfalt und des naiven Denkens zu treffen, kann versichert seyn, daß er überzeuget. Dieser Ton ist vornehmlich in der äsopischen Fabel nothwendig, wo der Dichter ofte die Person eines einfältigen und leichtgläubigen Menschen annehmen muß, um seinen Leser treuherzig zu machen.

Es giebt auch eine schalkhafte angenommene Naivität die in der spottenden Satyre ungemein gute Würkung thut, das Lächerliche andrer recht ans Licht zu bringen. Swifft ist darin der größte Meister, und Liscov hat mit der verstellten naiven Einfalt, mit welcher er die Philippi und Sivers beurtheilet, diese Helden höchst lächerlich gemacht. In der Comödie kann dieses zur Demüthigung der Narren von sehr großer Würkung seyn. Denn was ist empfindlicher, als von der Einfalt selbst lächerlich gemacht zu werden?

Ich begnüge mich hier mit diesen wenigen Anmerkungen über das Naive, um das Vergnügen zu haben, hier einen Aufsaz über diese Materie einzurüken, den mir einer unsrer ersten Köpfe vor vielen Jahren zu diesem Behuf zugeschikt hat. Der izt berühmte Verfasser, schrieb ihn zu einer Zeit, da er noch jung war; aber man wird ohne Mühe darin das sich entwikelnde Genie antreffen, welches gegenwärtig sich in seinem vollen Glanze zeiget. Hier ist er Wort für Wort.

Ich wundere mich nicht daß der Brief über die Naivete im 3ten Theil des Cours des Belles - Lettres des Abts Batteux ihnen so wenig als das, was Bouhours vom Naiven sagt, ein Genüge gethan hat. Alles was Herr Batteux über diese Materie geschrieben hat, dienet vortreflich sie noch verworrener zu machen, als sie dem Leser vorher hat seyn können. Statt bestimmter Begriffe werden wir mit Bildern, Gleichnissen und Gegensäzen abgefertiget; und wenn wir eine Erklärung verlangen, so antwortet man uns: die Naivität bestehet in der Kürze – in einer solchen Anordnung der Worte, Glieder und Perioden, die dem Endzwek des Redenden gemäß ist. Nach der lezten Erklärung sehe ich nicht warum die Reden eines Parlamentsadvocaten nicht eben so naiv seyn mögen, als die Briefe der Sevigne oder der schönen Zilia. Ich will mich die Schwierigkeit, die von der Zärtlichkeit dieser Materie entsteht, nicht abhalten lassen, einen Versuch zu machen sie genauer zu behandeln, und die Quelle und eigentliche Beschaffenheit des Naiven aufzusuchen. Es wird alsdenn leicht seyn, das Naive des Ausdruks zu bestimmen, wenn wir erst ausgemacht haben, was die Naivete der Gedanken ist. Ich werde aber mit meiner Untersuchung weit oben anfangen müssen.

Die Rede soll eigentlich ein getreuer Ausdruk unsrer Empfindungen und Gedanken seyn. Die ersten Menschen haben bey ihren Reden keinen andern Zwek haben können, als einander ihre Gedanken bekannt zu machen, und wenn sie und ihre Kinder die angeschafne Unschuld bewahret hätten, so wäre die Rede nach ihrer wahren Bestimmung ein offenherziges Bild dessen, was in eines jeden Herzen vorgegangen wäre, und ein Mittel gewesen, Freundschaft und Zärtlichkeit unter den Menschen zu unterhalten. Jedermann weiß, daß die Sprache von den izigen Menschen meistentheils gebraucht wird, andern zu sagen, was sie nicht denken noch empfinden, so daß die Rede demnach sehr selten ein Zeichen ihrer Gedanken ist. Diese große Veränderung, muß unstreitig die Folge einer wichtigen Veränderung im Innwendigen der Menschen seyn. Diese müssen Empfindungen, Gedanken und Absichten haben, welche sie einander nicht zeigen dürfen. In der That ist die menschliche Natur von ihrer Bestimmung und schönen Anlage so stark abgewichen, daß in dem Innern des Menschen, an die Stelle der liebenswürdigsten Neigungen, anstatt der Unschuld, Gerechtigkeit, Mäßigkeit, Menschenliebe – Boßheit, Unbilligkeit, Unmäßigkeit, Neid und Haß getreten; und im Aeusserlichen die Einfalt dem Gezwungenen, die Offenherzigkeit der Verstellung, die Zärtlichkeit der kaltsinnigen Höflichkeit hat weichen müssen. So bald die Menschen von einander betrogen worden, muste sich ein allgemeines Mißtrauen unter ihnen zeigen. Weil sie aber doch in Gesellschaft zu leben sich gemüßiget sahen, so erfanden sie allerley Mittel sich einander zu verbergen,[805] sich in Acht zu nehmen einander auszuforschen u.s.f. Und weil man anstatt der herzlichen und brüderlichen Zuneigung, die eigentlich unter den Menschen herrschen sollte, etwas anders haben mußte, das ihr von außen ähnlich sehen, im Grund aber ganz das Gegentheil seyn möchte; so erfand man die Höflichkeit, das Ceremoniel, und alles was dazu gehört. Seit der Zeit ist die Rede der Menschen insgemein weitläuftig, sinnleer, doppelsinnig, unbestimmt, gekräuselt, steif und affektirt worden. Eine Gesellschaft kann etliche Stunden mit aller ersinnlichen Artigkeit und mit beständiger Bewegung der Lippen nichts reden – Todfeinde können einander vertraulich und liebreich unterhalten – einer kann mit großem Wortgepräng von der Frömmigkeit, oder andern Tugenden reden, die er doch nie selbst empfunden hat; man kann izo aus den äusserlichen Zeichen der Freude oder Traurigkeit, der Freundschaft oder des Hasses, mit schlechter Zuversicht auf die wahre Gemüthsverfassung einer Person schliessen; denn man hat den Affekten selbst eine Sprache vorgeschrieben, von der die Natur nichts weiß.

Bey solchen Menschen würden wir die Naivete, welche eine Eigenschaft der schönen Natur ist, vergeblich suchen. Lassen sie uns in die glüklichen Wohnungen des ersten Paares, oder auch in die einfältigen und freyen Zeiten der frommen Patriarchen zurükgehen, dort werden wir sie mit der Unschuld gepaart finden. Wir werden sie in den Herzen und in der Sprache solcher Menschen finden, die, ihrer Bestimmung gemäß, eine heilige Liebe gegen ihren göttlichen Wohlthäter, und eine allgemeine Zuneigung gegen ihre Mitgeschöpfe tragen, die einen unverderbten Geschmak am Schönen und Guten haben, und alle ihre sanften und harmonischen Begierden nach demselben richten. In solchen Herzen kann kein Mißtrauen, keine Verstellung Plaz haben; alle ihre Handlungen und Reden haben etwas offenherziges und ungekünsteltes. Sie dürfen ihre Gedanken Gott zeigen, warum nicht den Menschen? Sie haben nicht nöthig ihre Affekten zu hinterhalten, denn sie sind gut; ihre Worte müssen ihr Herz ausdrüken, oder ihre Augen und Gesichtszüge würden ihren Lippen wiedersprechen. Die Reden solcher Leute sind aufrichtig, wahr, kurz und kräftig, wie ihr Innwendiges unschuldig und edel ist; sie sind herzrührend, weil sie vom Herzen kommen. Sie wissen nichts von Moden und Manieren, nichts von allen den Einschränkungen, dem Zwang welchen das Mißtrauen der Aufführung, ja den Gebehrden der verderbten Menschen anlegt, nichts von der falschen Schaam, über Dinge zu erröthen, die an sich gut unschuldig sind. Und dieses ist dann, meiner Meynung nach, das Naive in den Sitten, der Denkart und den Reden der Menschen. Je näher einer diesem Stand der schönen Natur ist, desto mehr hat er von dieser liebenswürdigen Naivität.

Ich glaube daß ich es kühnlich für eine allgemeine Erfahrung ausgeben darf, daß diese Naivete allemal mit einer gewissen äußerlichen, sichtbaren Anmuth verknüpft ist, die man nicht definiren aber vermittelst eines feinen Geschmaks ganz klar empfinden kann. In der poetischen Sprache könnte man von diesem je ne sai quoi sagen, es sey der Wiederschein eines schönen Herzens. Ohne Zweifel hat diese Anmuth ihren Grund, sowol in der ersten Anlage des Körpers, als auch in der Uebung in edlen und harmonischen Gemüthsbewegungen, welche eine große Kraft haben, einem sonst nicht schönen Gesicht eine Lieblichkeit zu geben, die weit über den leblosen Glanz der Farben, oder über die Regelmäßigkeit der Züge an einem geistlosen Bilde geht. Sie sehen hieraus, mein Herr, wo die Naivete vornehmlich statt hat, nehmlich bey ganz unschuldigen und kunstlosen Sitten, da die Tugend mehr vom Instinkt, als von deutlichen Ueberlegungen getrieben wird, und in Reden, Affekten und Thaten welchen man solchen Leuten beylegt. Diese Eigenschaft ist von einer schönen Seele unzertrennlich; sie ist daher auch von einer groben bäurischen Einfalt, die man vielmehr Dummheit heißen sollte, so sehr unterschieden, als von der Affectation; so wie die Reinlichkeit gleichweit von Pracht und Unsauberkeit absteht. Die Schäferspiele des Hrn. Gottscheds können deswegen keinen Anspruch auf die Naivete machen, obgleich seine Greten und Hansen die Sprache des gemeinsten Pöbels reden.

Der Noah und manche andere Gedichte von demselben Verfasser sind von Beyspielen des Naiven voll. Der Charakter der Sunith in der Sündfluth, die Liebesgeschichte der Dina, die Kerenhavuch im Noah u.s.w. sind schöne Beweise wie liebenswürdig die ungeschmückte schöne Natur ist, ja wie reizend sie so gar durch die Wolke hindurchscheint, die eine Vergehung der Unvorsichtigkeit vor ihre Schönheit [806] ziehet. Ein jeder empfindlicher Leser wird eine zärtliche Gewogenheit gegen Sunith fühlen, da sie ihrer Mutter mit einer so edlen Offenherzigkeit ihre geheimsten Gedanken entdeket, und sich gar keine Mühe giebt, durch besonders ausgesuchte Worte ihre Neigung zu beschönigen oder zu deken, als ob sie sich heimlich bewußt wäre, daß sie verborgen bleiben sollte. Ja wie erhaben wird sie durch das aufrichtige Geständniß, das sie dem Dison von der Liebe, die sie zu ihm getragen, macht? Sie darf sich nicht scheuen einem Liebhaber, den sie eben izt unwürdig findt, ihre vorige Neigung zu ihm zu gestehen, weil sie sich auf die Stärke ihres Herzens verlassen kann, welches durch ein solches Geständniß von dem Haß gegen die Laster ihres Liebhabers nichts nachließ. Die Briefe einer Peruvianerin sind vornehmlich wegen ihrer Naivete unvergleichlich schön. Man glaubt die sanfte Stimme der Natur zu hören, wenn Zilia redet. Wir sehen in die innersten Gänge ihres zärtlichen Herzens, wir sind bey der Entwiklung ihrer Gedanken, wir nehmen alle ihre Empfindungen an. Wir weinen wie sie weint, und in der äußersten Bangigkeit ihres Schmerzens, glauben wir, wie sie, einen Anfang der Vernichtung zu fühlen. Unser Gedächtniß sagt uns, daß wir in der Liebe, in der Traurigkeit, in der Verwundrung oder Bestürzung, in einem angenehmen Hayn, u.s.w. wie sie empfunden haben; wir wundern uns nur, daß sie die zarten Empfindungen beschreiben kann, die wir für nahmenlos gehalten, weil wir sie nicht so lebhaft und mit so vieler Apperception fühlten, als sie. Dann eben diejenigen Personen, bey denen am meisten Naivete ist, haben für das Schöne und Freudige sowohl als für das Unangenehme die stärkste Empfindlichkeit; und weil sie wenig äusserliche Zerstreuungen, und viel innerlichen Frieden haben, so wendet sich die Schärfe ihres Geistes mehr auf sich selbst, sie gehen mehr mit ihren eigenen Gedanken um, sie hören ihre leisesten Regungen, und können in ihren Vorstellungen ungestörter und weiter fortgehen, als andre. Daher sind auch Personen von dieser Art allemal Original. Zwar ein jeder Mensch würde sich gar merklich, als Original vor den andern ausnehmen, wenn nicht Verstellung, Zwang, Nachahmung, Moden und dergleichen unter uns so gemein und in gewissem Maaß unvermeidlich wären. Wo nun keine Verstellung, keine Nachäffung, keine Furcht vor Mißdeutung, – ist, da kann es nicht fehlen, eine solche freye Seele muß in ihren Empfindungen und Urtheilen sehr viel eigenes äußern. Die Unwissenheit ist noch eine Beschaffenheit, die mit der Naivete mehr oder weniger verbunden ist. Diese Unwissenheit ist zum Theil glüklich, sie ist ein Mangel an häßlichen Auswüchsen, oder überflüßigen und der angebornen Schönheit hinderlichen Zierrathen – zum Theil ist sie eine Leerheit, die der Geist mit einigen Mißvergnügen in sich fühlet, und sich daher bestrebt, sie auszufüllen. Deswegen sind naive Personen allezeit neugierig, wie wir dieses an Miltons Eva, an Zilia, Sunith oder Dina sehen können.

Es ist nothwendig mit dem Naiven in Sitten und Gemüthsbewegungen verbunden, daß die Personen welche so glüklich sind, gleichsam unter den Flügeln der Natur zu leben, von einer großen Menge Sachen und Nahmen, welche leztere zum Theil nichts, zum Theil nichts gutes bezeichnen, gar nichts wissen. Ihre Sprache muß daher viel kürzer und eigentlicher seyn, als die unsrige. Sie wissen nichts von einer unzählbaren Menge überflüßiger Nothwendigkeiten, nichts von eben so vielen Wörtern die man erfinden mußte, böse Neigungen und Absichten zu masquiren, oder wenigstens das Ohr mit dem Laster zu versöhnen. Sie nennen die Dinge mit ihrem rechten Nahmen, ihre Reden haben mehr Kürze, ihre Säze mehr Rundung, und überhaupt ihre Gedanken ganz besondere Wendungen. Dieses ist die vornehmste Ursach, warum die Sprache der Naivete so einfältig, eigentlich und ausdrukend ist; so wie sie, als ein wahrhaftes Bild ihres schönen Herzens, nett bey allem Mangel an Schmuk, und edel bey aller Nachläßigkeit ist. Uebrigens würde man sich irren, wenn man dieser einfältigen Sprache alle Metaphern und Figuren nehmen wollte. Das Herz und die Affecten haben ihre eigne Figuren, und je naiver eine Person ist, desto lebhafter wird sie ihren Affect von sich geben, weil er gut ist, und sie sich nicht scheuen darf, ihn sehen zu lassen.

Woher kommt es, daß die moralische Naivete, einer Zilia z. E. oder der siegenden Sunith, uns so stark und bis zur Entzükung gefällt? Ohne Zweifel daher, weil nichts schöners ist, als die wahre Unschuld einer Seele, die sich immer entblößen darf, ohne beschämt zu werden. Ein solcher Anblick muß nothwendig unserem moralischen Sinn mehr Vergnügen [807] geben, als uns das Gefühl einer jeden andern Schönheit machen kann. Weil es aber viele Grade und Arten der Naivete giebt, so wollen wir diejenige, welche aus der wahren Unschuld entspringt, das Erhabene Naive nennen. Die übrigen Grade mögen nach ihrer größern oder kleinern Entfernung von der schönen Natur abgemessen werden. Denn es muß auch noch ein Raum für die muthwillige Galathea des Virgils und den alten rosenbekränzten Anakreon übrig seyn.

Die Minnegesänge aus dem XIII Jahrhundert sind reich an Beyspielen naiver Passionen und Ausdrükungen derselben. Die Sitten der damaligen Zeit müssen, nach allen Urkunden die uns von der Regierung des vortreflichen Schwäbischen Hauses übrig geblieben sind, von ihrer ehemaligen Rauhigkeit und Wildheit gerad so viel verlohren haben, daß sie bey ihrer Einfalt und Bescheidenheit, Artigkeit und eine gefällige ungekünstelte Wohlanständigkeit besizen konnten. Die meisten der Liebesgedichte werden von dem Geist der sittsamen und inbrünstigen Liebe beseelt. Diese Sänger kennen die Sprache der Empfindungen, wie es scheint aus Erfahrung. Eigene oft verwundersame Einfälle und neue anmuthige Wendungen findet man häufig bey ihnen. Ich glaube daß es Ihnen nicht unangenehm seyn werde, M. H. wenn ich ihnen einige Proben davon vorlege:


Vil süsse Minne du hast mich betwungen

Das ich muos singen der vil minneklichen

Nach der min Herze je hat da her gerungen

Du kan vil suesse dur min Ougen slichen

Al in min Herze lieplich unz ze gerunde

Wand ane Gott nieman erdenken konte

So lieplich lachen von so rotem Munde.


Ich wolde ir gefangen sin gerne unverdrossen

So das si mich dort solde

In blanken Armen haben geschlossen.

Niemer könd ich min leit gerechen

An der truten bas

Ihr Mündel küst ich und wolde

Sprechen

Sich, diner Röte habe du das.


Ich bin also minne wise

Und ist mir so rehte lieb ein Wip

Das ich in dem Paradyse

Niht so gerne wisse minen Lip

Als da ich der guoten solde sehen

In ir Ougen minneklichen

Da möhte lieblich Wunder mir geschehen.


Ich wande ich iemer solde lachen.

Do ich dich Frouen lachen sah etc.


Ir vil liehten Ougen blig

Wirset hoher Froeiden vil

Ir gruos der git selde und ere

Ir schone dü leit den strik

Der Gedanke vahen will

Des git ir Gedanke lere

Mit zuht das irs nieman wissen sol

Swes gedenken gegen ir swinget

Minne den so gar betwinget

Das er git gevangen froeiden zol.


Ich gestehe ihnen mit einem jeden Leser, der die feinen Schönheiten der einfältigen Natur empfinden kann, daß die Fabeln und Erzählungen des Hrn. Gellert, die Sie so sehr lieben, größtentheils sehr naiv erzählt sind. Gar ofte entsteht diese Naivete aus den Gedanken selbst, und der aufrichtigen kunstlosen Ausbildung derselben; manchmal aber scheint sie blos in dem Ausdruk oder in der Wendung zu liegen, die aber nicht etwa so neu und sonderbar ist, wie bey den Minnesingern, sondern bloß in der genauen Nachahmung der gemeinen und manchmal pöbelhaften Art zu reden oder zu erzählen besteht, wie man aus der Erzählung vom Bauer und seinem Sohn, der Mißgeburt, vom betrübten Wittwer, und einigen andern siehet. Viele halten diese Fabeln und Erzählungen, vornehmlich um der vielen Fragen, Einwürfe, satyrischen Parenthesen, kleiner lustiger Anmerkungen etc. die in der Erzehlung mit eingeschoben werden, für sehr naiv. Ein jeder erinnert sich, daß er wizige und lustige Köpfe in seiner Bekanntschaft gehabt hat, die ohngefehr so auf diese Art erzählen. Man hält deswegen diese Art der Erzählung für sehr natürlich. Die Leser von gesunden Geschmak mögen entscheiden, ob der Verfasser der Erzählungen, die einfältige, ungeschmükte, leichte, aber edle Sprache der Erzählung nicht besser getroffen habe. Man kann übrigens mit Grunde sagen, daß ein guter Theil der Erzählung des Hrn. Gellerts von solchem Inhalt sind, daß sie dergleichen Zierrathen und Fransen sehr nöthig haben, und daß der allgemeine Beyfall zu allen Zeiten nothwendiger Weise auf seine Seite seyn muß.

[808] Mich deucht man könne die naive Schreibart gar füglich und im Gegensaz mit der gekünstelten und gezierten, mit jenem angenehmen Mädchen vergleichen, dessen natürliche Schönheiten und unerworbene Reizungen den Cherea beym Terenz so sehr entzünden.


Haud similis virgo est virginum nostrarum, quas matres student

Demissis humeris esse, vincto pectore, ut gracilæ sient

Si qua est habitior paulo, pugilem esse ajunt, deducunt cibum

Tametsi bona est natura, reddunt cultura junceas

–– –– Sed istæc nova figura oris

Color verus, corpus folidum et succiplenum.

1Eurip. ᾽Ικετιδες
2Soph. El. vs. 626. 627.
3V. Pseudol. Act. I. sc. 1
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774.
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