Liberalismus

[738] Liberalismus ist ursprünglich ein lat. Wort und bezeichnet eine solche Gesinnung und ein solches Benehmen, wie einem freien Manne angemessen und anständig ist. Es ist entgegengesetzt dem Servilismus, gleichfalls ein ursprünglich lat. Wort, welches Gesinnung und Benehmen eines Unfreien, eines Sklaven bezeichnet. Die alten Völker hegten mehr oder weniger die Überzeugung, daß der Mensch in ähnlicher Weise von der Natur zum Freien oder zum Sklaven geboren sei, wie er von Geburt auch Mann oder Weib sei, und glaubten demgemäß, daß auch die Gesinnung des Freien gänzlich verschieden von der des Sklaven sei, eben sowie ihre Bestimmung, indem der Freie (der Herr) zum Befehlen, Anordnen und zum seiner würdigen Genusse der Güter des Lebens berufen sei, während der Sklave seinen Zweck erfülle, sobald er die Kunst des Gehorchens vollkommen auszuüben verstehe, d.h. ein möglichst vollkommenes Werkzeug zu Allem abgäbe, wozu sein Herr sich seiner bedienen wolle. Aus dieser Grundansicht ging dann wieder die Meinung hervor, daß es gewisse Beschäftigungen gäbe, welche vorzugsweise einem freien Menschen gemäß, (liberal) seien, und zu dieser rechneten sie Alles, was eine Thätigkeit des denkenden und empfindenden Menschen nur um seiner selbst willen als geistiges Wesen ist. Wissenschaften und Künste waren hiernach vorzugsweise liberal und wurden daher auch als artes liberales zusammengefaßt. Unterschiede hiervon wurden dann die nur einem Sklaven zukommenden Thätigkeiten, welche im Allgemeinen alle diejenigen waren, deren Zweck nicht in den eigenen Geist fiel, also jede Art von Diensten und Arbeiten, welche um der leiblichen Wohlfahrt, oder um eines Lohnes willen Anderen geleistet wurden. Bei den ältesten Völkerschaften finden wir dieser Ansicht gemäß die Kasteneintheilung, nach welcher die freien Stände (die Priester- und Kriegerkaste) eine Stellung in der Gesellschaft einnahmen, die sie aller Sorge um die irdische Wohlfahrt überhob, während diese um so schwerer auf den unteren Kasten lastete, die als ihre angeborene und höchste Pflicht nichts Anderes als die Arbeit für die oberen Kasten kannten. Bei den Griechen und Römern war das [738] Verhältniß zwischen Herr und Sklave ganz nach demselben Principe geordnet, wie denn auch die oben angegebene Grundansicht von dem größten griech. Philosophen Aristoteles als eine philosophische Wahrheit aufgestellt wurde. Hier war nur der Unterschied, daß die Sklaven nicht als eine Kaste des Volkes, sondern als gar nicht zum Volke gehörig betrachtet wurden. Die Griechen und die Römer hatten an sich selbst das Bewußtsein, daß sie die einzigen durch die Natur zur Freiheit berufenen Menschenstämme seien, und verachteten alle übrigen Völker, welche sie unter dem Namen der Barbaren zusammenfaßten, als solche, welche von Natur Sklaven seien, daher auch in ihren eigenen Ländern keine Republiken (die nach ihrer Ansicht einzig des freien Mannes würdige Staatsverfassung) hätten, sondern Despotien, so daß sie auch in ihrem Vaterlande nicht anders denn als Sklaven zu existiren vermöchten. Hiernach konnte denn auch kein Grieche oder Römer auf den Gedanken kommen, daß einem Barbaren ein Unrecht angethan würde, wenn man ihn zum Sklaven machte, vielmehr that man ihm noch Gutes, indem man ihn einem zur Herrschaft geborenen Herrn gab, während er früher als ein Knecht nur von andern Knechten beherrscht wurde. Der freie Grieche und Römer hielt daher auch jedes Geschäft, welches einer Arbeit um der leiblichen Wohlfahrt willen ähnlich sah, für seiner unwerth, verachtete er doch sogar den Lehrer, der um einen Ehrensold Andern Unterricht ertheilte. Es gab sogar in den griech. Freistaaten Gesetze, welche Jeden, der mit einem Handwerke oder mit Handel selbst sich beschäftigen würde, mit der Beraubung des Bürgerrechtes bedrohten. Aus diesem Umstand ist denn zu erklären, warum diese Völker, welche besonders in spätern Zeiten so unsäglich viele durch den ungeheuren Luxus der Zeit herbeigeführte Bedürfnisse hatten, so einer unzählbaren Menge von Sklaven bedurften. Diese betrieben alle Handwerke, Ackerbau, Handel und selbst die Künste, welche auf irgend eine Art mit den leiblichen künstlich gesteigerten Bedürfnissen in Zusammenhang standen. Es gab Römer, welche ein Heer von 20,000 Sklaven in Dienst hatten. – Mit dem Christenthum mußte sich die Grundansicht über das Verhältniß zwischen Freien und Unfreien gänzlich umgestalten. Das Christenthum setzt nämlich alle Menschen ohne Unterschied der Geburt, des Vaterlandes, des Vermögens, der bürgerlichen Stellung in ein unmittelbares Verhältniß zu Gott, demgemäß sie alle in der höchsten und letzten Bedeutung einander völlig gleich sind. Wie hoch und vornehm oder niedrig und gering der Mensch auf Erden auch sein mag, so bestimmt sich sein Werth nicht darnach, sondern nach der Reinheit seines Herzens und nach der Gnade Gottes. Die äußern Lebensverhältnisse sind ein nichtiger Schein, welcher verschwindet, so wie der Mensch sich Gott nahet. Hiernach ist denn auch die bürgerliche Freiheit oder Knechtschaft ein bloßer Schein und es gibt eine Freiheit und Knechtschaft in höherer Bedeutung, welche allein Wahrheit hat: die Freiheit der Gottseligkeit und die Knechtschaft der Sündhaftigkeit. Durch das Erlösungswerk ist jedem Menschen die Möglichkeit gegeben, indem er der ihm durch Christus gebotenen göttlichen Gnade sein Herz öffnet, zur wahren Freiheit zu gelangen, mag er auch arm und niedrig im Leben dastehen, sowie auch Reichthum und Ehre anderer Menschen den Sünder nicht von der wahren Knechtschaft zu befreien vermögen. Durch diese christliche Grundansicht wurde auf das Bestimmteste die Gesinnung des Menschen an seinem äußerlichen durch die Zufälligkeit der Geburt bestimmten Dasein unterschieden, und allmälig hat sich das christliche Princip auch im bürgerlichen Leben immer größere Geltung verschafft, insofern man immer mehr dahin gekommen ist, die geistige Würde des Menschen und den aus ihr erwachsenden Anspruch auf wahre Freiheit überall anzuerkennen und durch die Gesetzgebungen jene gegen jede Anmaßung durch Geburt den Einzelnen zu Theil gewordene Gewalt in Schutz zu nehmen. Liberalismus ist nur die Gesinnung des freien Mannes, derselbe mag übrigens in Verhältnissen leben, in welchen er will, der Adel des Geistes, welcher sich seines göttlichen Ursprungs bewußt ist und eifrig darnach strebt, diesem seinen Ursprunge sich würdig zu bezeigen; der jede geistige Gemeinheit, Sünde und Laster von sich abhält, um der Ehre anderer Menschen und, was ihm noch weit höher steht, der Gnade Gottes würdig zu sein. Dagegen kann nun auch ein vornehmer und hochgestellter Mensch servil sein, d.h. eine niederträchtige, gemeine, keine Sünde scheuende Seele haben, welche nichts um der ewigen Interessen des Geistes, sondern Alles um der Luft des Leibes, um irdischer Vortheile willen unternimmt. In neuester Zeit hat sich in ganz Europa ein Kampf entzündet, ursprünglich zwischen der Partei, welche die bestehenden Rechtsverhältnisse der geistigen Würde des Menschen nicht überall angemessen fand und darum auf Umgestaltung derselben antrug, und der Partei, welche um der Vortheile willen, welche das Bestehende ihm darbot, diese aufrecht zu erhalten bestimmt war. Die erstgenannte Partei war so ursprünglich allerdings die des Liberalismus; bald aber haben sich diese ehrende Bezeichnung ihrer Gesinnung alle Diejenigen angemaßt, denen es aus welchem Grunde immer um Umsturz eines Bestehenden zu thun war; und alle Die, welche Jenen entgegenstrebten, auch da, wo offenbar göttliches wie menschliches Recht ihnen zur Seite stand, hat man mit dem Ekelnamen der Servilen zu verdächtigen gestrebt. In das Wort Liberalismus ist durch solchen Misbrauch eine es verunehrende Nebenbedeutung gekommen, indem man sich wol auch zu Bezeichnung der unbesonnenen, um irdischer und gemeiner Vortheile willen unternommener Bestrebungen zur Aufhebung der bestehenden Ordnung in den Staaten seiner bedient hat. – Liberalismus ist nicht zu verwechseln mit Liberalität, welches zwar ursprünglich das echt lat. Wort für die edle und des freien Mannes würdige Gesinnung ist, aber jetzt nur noch in der Nebenbedeutung der äußerlichen Kundthuung solcher Gesinnung in Worten und Werken gebraucht, am häufigsten aber gleichbedeutend mit edler Freigebigkeit genommen wird.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1838., S. 738-739.
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