Literatur

[754] Literatur ist der Inbegriff aller in Sprach- und Schriftdocumenten niedergelegten Bestrebungen und Erzeugnisse des menschlichen Geistes. Ost verwechselt man den Ausdruck Literatur, insofern man sich dabei besonders auf die Werke der Wissenschaft und Gelehrsamkeit bezieht, mit Wissenschaften und mit Gelehrsamkeit, nimmt ihn auch wol, da Gelehrsamkeit vorzüglich aus Büchern gewonnen wird, gleichbedeutend mit Bücherwesen überhaupt. Daher nennt man Literator einen Solchen, welcher sich mit der Kunde des Bücherwesens befaßt oder sich eine Menge von Kenntnissen, die sich darauf beziehen, angeeignet hat. Literatus dagegen wird ein Solcher genannt, der sich vorzugsweise mit den Wissenschaften als solchen, d.h. ihrem innern Wesen nach, beschäftigt, und diese Beschäftigung sowie die daraus hervorgehenden Erzeugnisse nennt man literarische. In ganz äußerlicher Auffassung braucht man wol auch Literatur für die Aufzeichnung der über die einzelnen Wissenschaften vorhandenen Schriften. Dies ist aber, wenn es in einer gewissen, nach Entstehungszeit oder Fächern geordneten Weise geschieht, nur der äußerliche Anfang der Literaturgeschichte. Die Literaturgeschichte ist aber, ihrem wahren Begriffe nach, keineswegs eine bloße Büchergeschichte, sondern sie soll vielmehr als geistige für's Geistige geordnete Anleitung dienen, als Wegweiser und Leuchte für wissenschaftliches Streben. Sie soll also nicht blos das Mittel sein, sich in dem weiten Gebiete der Literatur über einzelne Zweige derselben zurecht zu finden, sondern tiefer den Entwickelungsgang eines jeden dieser Zweige, wie er mit dem allgemeinen Gebiete zusammenhängt und welche Stelle er darin einnimmt, darstellen. Sie soll also eigentlich die Anfänge aller Wissenschaften und deren Entwickelung mit allen Hemmungen und Verirrungen bis zur gegenwärtigen Ausbildung durchführen. – In Bezug auf die Zeitfolge unterscheidet man eine alte, mittlere und neuere Literatur und Geschichte derselben; in Bezug auf die Völker eine griech., röm., engl., ital., franz., deutsche u.s.w.; in Bezug auf die einzelnen Fächer aber eine theologische, medicinische u.s.w. Da man unter Literatur meist Wissenschaft versteht und diese der Kunst entgegensetzt, so stellt man auch die Literaturgeschichte der Kunstgeschichte entgegen, zog ehedem aber die Geschichte der Poesie mit zu jener, weil die ihr eigenthümlichen Werke durch Sprache und Schrift mitgetheilt werden, und sprach so von einer schönen Literatur im Gegensatze der sogenannten positiven Wissenschaften. Die Poesie ist aber ein Theil der Kunst und eigentlich nur ihre Theorie, sowie die der Kunst im Allgemeinen, die man früher belles lettres (schöne Wissenschaften) nannte, kann als Wissenschaft der Literaturgeschichte einverleibt werden. Bezeichnet man aber die Poesie als schöne Literatur einer Nation, so gehört dann dazu der ganze Kreis sogenannter Humanitätsstudien (s. Human), insofern sie sich durch Schönheit der Darstellung auszeichnen und in der Muttersprache abgefaßt sind, wonach man sie auch classische (s. Classe) nennt. In neuerer Zeit hat man diese jedoch unter dem ungleich passendern Namen der Nationalliteratur zusammengefaßt.

Die Literaturgeschichte muß also ihrem Begriffe nach, daß sie nämlich nur die in Schriftwerken niedergelegte Cultur darstellt, von der allgemeinen Culturgeschichte, sowie von der Geschichte der Religion und Kunst, als Zweigen derselben, unterschieden werden. Man theilt sie gemeiniglich in allgemeine und besondere ein. Die allgemeine stellt den Gang dar, welchen die in Schriftwerken sich kund gebende Forschung des Geistes nach Erkenntniß der Wahrheit durch alle Zeiten, Völker und in allen Theilen menschlichen Wissens genommen hat. Die besondere beschäftigt sich mit dem in einzelnen Zeitaltern, unter einzelnen Völkern und für einzelne Wissenschaften Geleisteten; noch specieller gefaßt: mit der Darstellung des Lebens, der Geistesart und Thätigkeit der Individuen, welche wirkten (Biographie), der Schriften, durch die sie wirkten (Bibliographie), und der äußern Einrichtungen und Anstalten, durch welche ihre Erzeugnisse befördert wurden (die Geschichte gelehrter Bildungsanstalten, Schulen und Universitäten, gelehrter Vereine, Bibliotheken u.s.w.). Ihre natürlichste Eintheilung ist die in alte, mittlere und neuere, von denen sich die erste mit dem 6. Jahrh., in dem sich die Wissenschaften in die Stille der Klöster vor dem lauten Tumulte der Staatsumwälzungen flüchteten, schließt und die mittlere beginnt, welche, ohne die Stütze der in ersterer gediehenen Wissenschaft, sich selbständig auszubilden genöthigt ist; die letztere aber, welche seit 1450 ungefähr ihren Anfang nimmt, gedeiht grade durch die Wiederaufnahme der alten Literatur in ihrer Entwickelung. Das Alterthum hat die Literaturgeschichte noch nicht als einen besondern Zweig der historischen Wissenschaft angesehen und daher auch noch nicht selbständig und in systematischer Ordnung behandelt, weshalb wir nur einzelne Notizen und Bruchstücke, als Vorarbeiten dazu in dessen einzelnen Schriftstellern besitzen. Ebenso ist es im Mittelalter beschaffen, wo nur Chroniken und Mittheilungen der Dichter einiges dazu Nöthige enthalten. Den ersten sehr unvollkommenen Versuch dazu machte Polydorius Vergilius aus Urbino in seinem Werke: »De inventoribus rerum« (von den Erfindern der Dinge), Venedig 1499, 4. Der eigentliche Urheber der Gelehrtengeschichte ist der berühmte Conr. Gesner, geb. 1516, gest. 1565, dessen »Biblilotheca universalis« (allgemeine Büchersammlung), 3 Bde., Zür. 1545–55 Fol., noch immer als ein sehr vollkommenes Werk dieser Art betrachtet werden kann. Morhof, 1688, Joh. Andr. Fabricius, durch seinen »Abriß einer allgemeinen Historia der Gelehrsamkeit«, der Franzose Goguet, der Italiener Denina, die Engländer Ferguson und Home und die Deutschen Iselin und Herder haben sich früher große Verdienste darum erworben. In der neuesten Zeit, seit Herder, haben die Deutschen theils durch Forschungsfleiß, theils durch allseitigen Umblick, mit welchem sie alle Völker und Jahrhunderte in diesem Gebiete umfassen, [754] allen übrigen Völkern den Rang darin abgelaufen. I. G. Eichhorn's »Literärgeschichte« (3 Bde.; neue Aufl., Gött. 1812–14) und Ludw. Wachler's »Handbuch der Geschichte der Literatur« (4 Bde.; 3. Aufl., Lpz. 1833) stehen als unerreichte Muster da.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1838., S. 754-755.
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