Nervenfieber

[264] Nervenfieber sind menschliche Krankheitszustände, welche vorwaltendes Ergriffensein des Nervensystems und wirkliche allgemeine Lebensschwäche ohne gleichzeitige Säfteentmischung auszeichnet. Selten entwickeln sie sich selbständig, sondern meist aus andern Krankheiten, namentlich andern Fiebern und kommen auch nur selten einfach und rein, weit häufiger dagegen mit Entzündungen, Katarrhen, Rheumatismen, hitzigen Hautausschlägen, Verdauungsstörungen und andern Krankheitszuständen zusammengesetzt vor. Ihr Verlauf ist bald rascher, bald langsamer, kann ansteckend sein und nicht, und unterscheidet sich wesentlich durch seinen Charakter, je nachdem erhöhte oder verminderte Reizbarkeit des Nervensystems, d.h. ein Zustand von allgemeiner Aufregung oder im Gegentheil von Unempfindlichkeit und Stumpfheit, damit verbunden ist. Entwickelt sich das Nervenfieber selbständig, so gehen oft sogenannte Vorboten mehre Tage, aber auch mehre Wochen der Krankheit selbst voraus und bestehen in allgemeiner Verstimmung, Abneigung wider die gewöhnlichen Geschäfte und Vergnügungen, reizbarer Gemüthsstimmung, unruhigem, schlechtem Schlaf, Mangel an Appetit und gestörter Verdauung. Der Übergang anderer Krankheiten in Nervenfieber verräth sich zunächst durch den Eintritt großer Muthlosigkeit und Mattigkeit, Irrereden, Sinken des Pulses und Trockenwerden der Zunge. Die Krankheit selbst beginnt mit Frösteln und bald darauf folgender Hitze, wobei der Puls zwar gewöhnlich sehr häufig, klein und schwach ist, indeß mitunter auch hart und voll wird und im Ganzen eine auffallende Veränderlichkeit zeigt. Die Haut wird trocken, heiß und gespannt oder auch welk und kalt, der Kopf wird zunehmend angegriffen, es stellen sich Augenschmerzen, Schwindel, Ohrensausen und ein dem Kranken sonst nicht eigner Zustand von Aufregung ein. Alle seine Bewegungen, Reden und Einbildungen sind unstät, übereilt und hastig; er will auch wol gar nicht krank sein, das Bett verlassen und an seine Geschäfte gehen. Trotz dieser großen Lebendigkeit spricht sich jedoch große Schwäche in allen Bewegungen des Kranken und eine außergewöhnliche Unbehülflichkeit aus. Gleichzeitig verändert sich sein ganzes Aussehen, das Gesicht erhält eine erdfahle, schmuzige, an Wangen und Lippen mehr bleiche Färbung und einen fremdartigen Ausdruck, die Augen verlieren ihren Glanz, die Sinne des Gesichts und Gehörs zeigen sich geschärft und geben zu allerhand Täuschungen Veranlassung, das Irrereden wird anhaltender. Dabei ist der Durst fast unlöschbar, die Eßlust gänzlich verschwunden, der Stuhlgang hart und trocken, unter übeln Umständen auch wol Durchfall und unwillkürliche Ausleerung vorhanden. Sämmtliche hier keineswegs erschöpfte Krankheitserscheinungen haben übrigens viel Widersprechendes. Wendet die Krankheit sich zur Genesung, was sich gewöhnlich zwischen dem 14. Tage entscheidet, so pflegt der Kranke zum ersten Male wieder ruhig und dann ziemlich lange zu schlafen und zeigt nach dem Erwachen einen freiern, natürlichen Blick, mehr Selbstbewußtsein, eine richtigere Erkenntniß seines Zustandes und seiner Umgebungen. Zugleich erfolgen in manchen Fällen kritische Ausscheidungen durch die Haut, die Harnblase und den Mastdarm, der Durst läßt nach, die Eßlust kehrt wieder, nur die Kräfte ersetzen sich langsam. Nicht selten geht das Nervenfieber auch in andere Krankheiten über oder hinterläßt mehr oder weniger schwer oder gar nicht heilbare Übel, z.B. allgemeine Schwäche mit Übergang in Abzehrung, Gesichts-, Gedächtniß-und Verstandesschwäche, wirkliche Seelenstörungen, wie Melancholie, Blödsinn u. dgl., Schwerhörigkeit, Krämpfe u.s.w. Im Falle eines tödtlichen Ausgangs, der leider ziemlich oft eintritt, erfolgt der Tod entweder unter Convulsionen oder unter Zufällen von Schlagfluß, Lungenlähmung oder nach dem Vorausgange von Erscheinungen, die sonst nur dem Faulfieber zukommen, durch allgemeine Erschöpfung. – Das durch verminderte Empfindlichkeit oder beinahe gänzliche Unempfindlichkeit gegen Eindrücke aller Art und durch vorwaltende Betäubung sich charakterisirende, langsamer verlaufende und gefährlichere Nervenfieber entsteht gewöhnlich ursprünglich, verräth sich ebenfalls zuweilen durch mehr oder weniger Vorboten oder tritt auch, wie namentlich der sogenannte ansteckende Typhus, plötzlich ein. Ist das Erstere der Fall, so macht sich zunächst eine auffallende Veränderung der Gemüthsstimmung bemerkbar, die sich durch Traurigkeit, Insichgekehrtsein, Gefühl des Schwerkrankseins, Todesfurcht oder auch völlige Gleichgültigkeit gegen Alles beurkundet. Außerdem klagt der Kranke über ein Gefühl von Zerschlagenheit im ganzen Körper und verfällt bald in einen Zustand fast ununterbrochener Betäubung. Er bekommt einen stieren oder auch leeren, nichtssagenden Blick, antwortet auf an ihn gerichtete Fragen erst nach langem Besinnen kurz, unverständlich und unrichtig oder auch gar nicht und kennt die ihn umgebenden Personen nur in seltenen, lichten Augenblicken. Sein ganzes Aussehen verfällt, das Gesicht wird gewissermaßen in die Länge gezogen, der Mund steht offen, die weitgeöffneten Nasenlöcher und Lippen bekommen ein rußiges, schmuziges Ansehen, es tritt große Neigung zu Durchfall, Auftreibung [264] des Unterleibes, Entstehung von Schwämmchen und zum Aufliegen ein. Nimmt auch die Krankheit den erwünschten, nicht allzu häufigen Ausgang zur Genesung, so zieht sich diese sehr in die Länge. Außerdem erfolgen mannichfache Nachkrankheiten oder der Tod, dieser zuweilen, nachdem der Kranke kurz vorher das Bewußtsein wieder erlangt hat, ja mit einer gewissen Sehergabe begabt worden zu sein scheint. Als eine besondere Form dieser letztern Art von Nervenfieber muß der ansteckende Typhus betrachtet werden, der in Kriegszeiten, wie überhaupt bei durch Theuerung, Mangel an der hinreichenden Menge von Nahrungsmitteln, allgemeine Nahrungslosigkeit, außerordentliche und eine große Menge Menschen gleichzeitig betreffende Drangsale, unter Begünstigung der davon abhängigen Trauer oder Muth- und Hoffnungslosigkeit einer ganzen Bevölkerung und vielleicht nach einer der Gesundheit ohnehin nachtheiligen Witterung ausbricht und bald zur weit verbreiteten, mörderischen Epidemie wird, die namentlich in belagerten Festungen, in schlecht versorgten, überfüllten Hospitälern, in ungesunden Gefängnissen u.s.w. große Verheerungen anrichtet und darum noch die besondern Benennungen Kriegspest, Hospitalpest, Hospitalfieber, Lagerfieber, Kerkerfieber u.s.w. erhalten hat. Dieses durch einen eignen Zustand von Betäubung und Umnebelung des Kopfs, Neigung zu fauliger Säftezersetzung und zuweilen durch das Erscheinen eines frieselartigen oder in blauröthlichen Flecken bestehenden Hautausschlages hauptsächlich sich charakterisirende, leicht tödtlich werdende Nervenfieber entwickelt auf der Höhe der Krankheit einen Ansteckungsstoff, der wesentlich zu seiner epidemischen Verbreitung beiträgt. – Das Nervenfieber verschont zwar weder Alter noch Geschlecht noch Körperconstitution, befällt aber doch vorzugsweise junge Leute von 16–30 Jahren, zumal wenn ihnen die sogenannte nervöse Constitution eigen ist. Entwickelt sich das Nervenfieber nicht schon durch bloße Steigerung der Anlage, so bedarf es wenigstens bei dem Vorhandensein derselben oft nur einer geringfügigen Gelegenheitsursache, wie z.B. eines Diätfehlers, einer Erkältung, einer heftigen Gemüthsbewegung u.s.w., um die Krankheit zum Ausbruche zu bringen. Entsteht sie aus andern Krankheiten, so tragen in der Regel Mangel an hinreichender Naturheilkraft, um die zur glücklichen Entscheidung der Krankheit nothwendigen kritischen Bestrebungen durchzuführen, Unvollkommenheit, Unregelmäßigkeit und Störung dieser, fehlerhafte, namentlich allzuschwächende Behandlung, Anwendung narkotischer Mittel im Übermaße u.s.w. die Schuld des Ausbruchs dieser stets gefährlichen Krankheit, da die Hemmung oder Erschöpfung der die edelsten Lebensverrichtungen bedingenden Nervenkraft die Grundursache derselben ist.

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Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 3. Leipzig 1839., S. 264-265.
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