Armenwesen

[259] Armenwesen. Die Armuth ist so alt als ein anderes großes Uebel des menschlichen Geschlechtes, der Krieg, und begleitet uns durch die ganze Geschichte der Vergangenheit, wie sie der weitreisende Wanderer von Lappland bis zum Kaffern- und Hottentottenland, von Portugal bis China oder Chili trifft. Der Zustand der Armuth und ihre Bedeutung bei einem Volke ist jedoch nach dem Maße seiner Cultur ein sehr verschiedener. Bei den klassischen Völkern, den Griechen und Römern, gab es einen rechtlichen, zahlreichen, sich fortpflanzenden Stand der Armuth, die Sklaven, die als Eigenthum ihrer Herren kein anderes Eigenthum haben konnten, als was ihnen diese zu schenken so gnädig waren. Gegen Trägheit, Flucht, gegen Verschwörung und Aufstand dieser Gattung der Armen half die Peitsche, Geißel, das Beil, das Kreuz, die massenhafte Niedermetzelung. Bürgerliche Arme fehlten indessen neben den Sklaven nirgends, und sie waren in allen den beinahe unzähligen Staaten und Städten Griechenlands als eine große Gefahr für die Sicherheit des Staates angesehen; so lange kriegerische Tüchtigkeit vorhanden war und es die Weltlage erlaubte, entledigte man sich der armen Bürger in Eroberungskriegen, indem der besiegte Gegner einen Theil seines Landes abtreten mußte, so daß den Armen von Staatswegen ein Eigenthum angewiesen wurde; diese Colonialpolitik wurde von Athen, Carthago und Rom am vollkommensten und von jeder dieser Städte auf eigenthümliche Weise ausgebildet. Wie aber in Folge des Glückes bei den höheren und niederen Volksklassen Uebermuth und Luxus einriß, mit der alten Sitte auch die alte Kraft schwand und namentlich die Liebe zur Arbeit eine seltene Sache wurde, hörte zum Theil auch die Möglichkeit der Eroberungen auf, und wenn sie noch fortgesetzt wurden, so wanderte der arme, verdorbene Bürger nicht aus, weil er als »freier« Bürger sich zu vornehm dünkte, um gleich einem Sklaven (oder einem seiner wackeren Vorfahren) die Erde zu bauen (vergl. die 4te Clausel zu dem grachischen Ackergesetze), er wollte »Staatsunterstützung«, ließ sich wirklich vom Staate beschenken, von den reichen Ehrgeizigen bestechen, gemeinen und vornehmen Ehrgeizigen zu Aufständen und Ungesetzlichkeiten verleiten, richtete damit die Staatsverfassung zu Grunde und durch die moralische Fäulniß die Existenz des Staates selbst. Bei den andern heidnischen Culturvölkern des Alterthums, von denen sich Indier und Chinesen bis in unsere Zeit herein erhalten haben, bei denen sich die bürgerliche Freiheit nie ausbildete, war und ist gegen die Ueberhandnahme der Armen durch den Gang der Naturereignisse gesorgt; mißlingt in China oder Indien die Reisärnte einmal vollständig, so verhungern einige Millionen Arme und damit ist der Ueberhandnahme der armen Bevölkerung für manches Jahr vorgebeugt. Anders war die Armuth bei den Hebräern gestellt; der arme Jude war kein Sklave des Reichen, war Sohn Abrahams wie der Reiche und aller Verheißungen theilhaftig, hatte den Sabath wie jener und alle Feste nicht minder; das Gesetz sorgte für den Schuldner, daß er nicht erdrückt werden konnte, gab dem [259] Armen einen kleinen Antheil an den Aernten, und zu diesem allen kam die natürliche Mäßigkeit dieses Volksstammes, die Gunst des Klimas, so daß die Israeliten in Palästina trotz der dichten Bevölkerung im Lande bleiben und sich redlich nähren konnten. Dem alt en, im Lande verbliebenen Israeliten kommt in mancher Hinsicht der Mohammedaner unserer Zeit nahe. Der geringste und ärmste Moslem hat seinen Stolz und seine Lebensfreude als Gläubiger; der junge Kabyle z.B. im Dschurdschura erwirbt sich durch Arbeit das zum Bau und der Einrichtung einer Hütte Nothwendige, pflanzt Feigenbäume und Gerste, nimmt ein Weib, mehrt die Zahl der Gläubigen, lebt mit seiner Familie karg ohne sich darüber zu bekümmern, freut sich des Donners, Blitzes und Erdbebens, weil sie ihm die Macht seines Gottes verkündigen, und erwartet für sich und seine Kinder die ewigen Freuden des Paradieses; sein Glauben hilft ihm über alle Drangsale des Lebens hinweg und durchdringt sein Dunkel mit den hellsten Strahlen. – Das Christenthum hat die Armuth als eines der Erbübel des menschlichen Geschlechtes auch besonders berücksichtigt; »den Armen wird das Evangelium gepredigt.« Es mahnt den Armen einerseits an seine eigene Verschuldung, die wohlverdiente Strafe, an die Prüfungen des Lebens und die Belohnung für den, der sie besteht, andererseits aber versichert es ihn der Kindschaft Gottes, reicht ihm die hehren Gnadenmittel und verleiht ihm die Verheißung ewigen Glückes; zugleich aber ermahnt es den mit zeitlichen Gütern gesegneten Christen, daß der Arme sein Bruder ist, dem er mittheilen soll, und so wird der Arme erquickt nicht nur durch die Gabe, sondern mehr noch durch das Mitleiden des Reichen, die Bruderliebe desselben, und dadurch wird die Armuth wie jedes Uebel dem wahren Christen eine Quelle der Gnade, ein Mittel zur Vollkommenheit. Die Kirche hat darum von Anbeginn her die Pflege der Armen unter ihre Obhut genommen, und zwar auf die Weise, wie sie nach der Gestaltung der Staatsverhältnisse jedesmal am besten konnte. In der ältesten Zeit hat sie Almosen gesammelt und vertheilt, Sklaven losgekauft, im ganzen Umfange ihrer Gemeinschaft die gegenseitige Mildthätigkeit organisirt. Später wurde großes Gut als Stiftung in ihre Hand gelegt; dieses diente nicht allein zur Unterhaltung der Kirchendiener und zur Bestreitung der Kosten, welche der Cultus erfordert, in Gebäuden, Geräthen u.s.w., sondern vorgeschriebener Weise auch zur Unterstützung der Armuth; das Kirchengut war zugleich ein Armenfond, und Niemand bestreitet es, daß die Kirche in allen ihren verschiedenen Instituten immer eine Wohlthäterin der Armuth war. Zugleich bewirkte sie durch ihren veredelnden Einfluß auf die Gläubigen, daß eine Menge Stiftungen zum Besten der Armen gemacht wurden: Armenhäuser, Krankenhäuser, Pfleghäuser für Kranke, Herbergen u.s.w., Orden wie der barmherzigen Schwestern, so daß die jetzige Zeit noch von den Gaben der gläubigen Vorfahren zehrt und noch viel übler dastände, wenn sie derselben entbehren müßte. In unseren Tagen hat jedoch die Kirche jene Fülle von zeitlichen Gütern nicht mehr in ihrer Hand, der Staat hat größtentheils ihre Stelle eingenommen und sich damit die Pflicht überbunden, seinerseits für die Armuth zu sorgen. Er thut dies, indem er die Gemeinden verpflichtet, für ihre Armen zu sorgen, und wo deren Mittel nicht ausreichen, mit seiner Hilfe eintritt; dies geschieht durch Staatsunterstützung bei großen Unglücksfällen: Ueberschwemmungen, Erdbeben, Feuersbrünsten, Hagelschlag u. dergl., durch öffentliche Sammlungen, durch die Gründung von Armenhäusern, Waisenhäusern, Armenschulen, Armeninstituten, Werkhäusern, Arbeitshäusern für Müßiggänger u.s.w. Indessen wird dennoch Europa von der überhand nehmenden Anzahl der Armen bedroht, durch die Massenarmuth, den Pauperismus, und dabei zeigt sich die merkwürdige Erscheinung, daß in den Ländern der vorgeschrittensten Civilisation, d.h. wo die Bildung, das Gewerbswesen und die politischen freien Institutionen am meisten ausgebildet sind, [260] z.B. England, Frankreich, Holland, Schweiz, Würtemberg, Sachsen u.s.w. der Pauperismus ein weitaus größeres Gebiet erobert hat, als z.B. in der Türkei und Rußland, welche die wenigsten Armen, d.h. von Unterstützung Lebenden haben. Dies erklärt sich einmal aus der Zerstücklung der Güter und der dadurch veranlaßten raschen Vermehrung der Volkszahl, als Folge der staatswirthschaftlichen Theorie, welche die Blüthe eines Staates nach der Masse der Arbeitsproduktion und der Menschenzahl werthet; sodann aus der Gewerbefreiheit, welche dieselben Wirkungen gebracht hat; durch das Gewerbe im Großen, die Fabrikation, welche in einzelnen Gegenden Verdienst bringt, aber keinen zureichenden und stätigen, so daß jede Fabrikanlage zugleich die Gründung einer Armenkolonie ist; dann aber auch durch den langen Frieden, der die Volksmasse vermehrt und neben andern Einflüssen den Luxus und die Entsittlichung derselben begünstigt hat. Denn die Entsittlichung ist die Hauptquelle der massenhaften Armuth, die Quelle der Entsittlichung ist aber die Irreligiosität. Die Staaten können das Geschehene durch kein Gesetz mehr ungeschehen machen, aber sie können wenigstens die weitere Ausbreitung des Uebels hindern, wenn sie die Schleußen des Stromes von Armuth, von denen oben die Rede war, wieder zuschließen, die sie früher selbst geöffnet haben; doch hilft dies nichts, und alle die vielnamigen Armenanstalten helfen nichts, wenn die Entsittlichung und deren Mutter, die Irreligiosität, fortwährend weiter wuchern; dann sehen wir nur den Mythus von der lernäischen Schlange verwirklicht, der zwei Köpfe nachwuchsen, wenn einer abgeschlagen war. Die Irreligiosität hat den Pauperismus erzeugt, und dieser den Communismus oder wie man die Lehre nennen mag, welche die christliche Lehre von dem Verdienste der Entsagung, des Leidens, der Ergebung in das Schicksal Lüge nennt, die dem Himmel flucht, als einer falschen Anweisung für die Güter, die im irdischen Leben nicht ausgefolgt werden; welche die sinnliche Lust autorisirt, die heiligen Bande der Familie löst, den giftigen Neid ausbrütet und folgerichtig eine immerdauernde Revolution, einen Kampf zwischen dem Besitze und der Armuth, mit einem Worte, Barbarei und Vernichtung bringen muß, Gegen die Irreligiosität gibt es nur ein Mittel, und dieses heißt Religion; diese muß demnach ihre ganze Wirksamkeit entfalten und entfalten dürfen, wenn die Fäulniß wieder gehoben werden soll, welche einen großen Theil Europas zerstörend angegriffen hat. Der Staat muß wieder christlich werden, wenn er weiter existiren will; kann er aber in der That christlich genannt werden, wenn er die Kirche nicht wirken läßt, sie wie eine aufgezwungene Macht behandelt, während sie es doch ist, welche die alte Barbarei überwunden und jene Kultur herbeigeführt hat, durch welche das kleine Europa gewaltig über die ganze Erde geworden ist? Politische Revolutionen hat es von jeher gegeben, aber eine sociale Revolution, d.h. die Vernichtung alles Rechts, aller Einrichtungen, welche durch Familie, Gemeinde, Staat und Kirche begründet worden sind, ist noch nie dagewesen, selbst der Islam brachte sie nicht in ihrem ganzen Umfange. Daß die gepriesene Kultur nicht vor einem Rückfalle in die Barbarei sichert, hat sich 1792 und 1848 bewährt; daß die Philosopheme dem Menschengeschlecht keinen sittlichen Halt geben, hat Griechenland, Rom und die neue Zeit bewiesen; das eine wie das andere kann nur der christliche Glauben verhindern und geben. Wächst die Zahl der Armen in Europa in dergleichen Progression fort wie seit 1815, und sie wird es, wenn sich Europa nicht christlich regenerirt, so fällt Europa dem gleichen Geschicke anheim, das die Römerwelt getroffen hat, und nur nach gewaltigen Ereignissen, deren Beschaffenheit und Verlauf kein Sterblicher vorausweiß, wird sich wie nach der Völkerwanderung eine neue Zeit auf dem verwüsteten Boden entfalten.

Quelle:
Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1854, Band 1, S. 259-261.
Lizenz:
Faksimiles:
259 | 260 | 261
Kategorien:
Ähnliche Einträge in anderen Lexika

Buchempfehlung

Naubert, Benedikte

Die Amtmannin von Hohenweiler

Die Amtmannin von Hohenweiler

Diese Blätter, welche ich unter den geheimen Papieren meiner Frau, Jukunde Haller, gefunden habe, lege ich der Welt vor Augen; nichts davon als die Ueberschriften der Kapitel ist mein Werk, das übrige alles ist aus der Feder meiner Schwiegermutter, der Himmel tröste sie, geflossen. – Wozu doch den Weibern die Kunst zu schreiben nutzen mag? Ihre Thorheiten und die Fehler ihrer Männer zu verewigen? – Ich bedaure meinen seligen Schwiegervater, er mag in guten Händen gewesen seyn! – Mir möchte meine Jukunde mit solchen Dingen kommen. Ein jeder nehme sich das Beste aus diesem Geschreibsel, so wie auch ich gethan habe.

270 Seiten, 13.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon