Christlich-soziale Reformbestrebungen

[115] Christlich-soziale Reformbestrebungen, Bestrebungen, die soziale Schäden dadurch heilen wollen, daß sie die Gesellschaft durch das Christentum von dem Übel des einseitigen Individualismus erlösen. Sie erkennen Eigentum und private Unternehmungen als berechtigt an, doch sollen dieselben auf christlicher Grundlage ruhen. Solche Bestrebungen traten in England nach dem Untergang des Chartismus (s.d.) auf, und zwar besonders gefördert durch F. D. Maurice (s.d.), Kingsley (s.d.) und Ludlow. 1850 bildete sich eine christlich-soziale Gesellschaft zur Förderung von Arbeiterassoziationen. Die Fabian Society wirkt durch Abhaltung von Vorlesungen und Ausgabe von Flugschriften und Traktaten; die 1889 in Oxford gegründete Christian Social Union will der Autorität des christlichen Lebens im sozialen Leben und Wirken Geltung verschaffen. In Deutschland sind zu unterscheiden die katholische und die protestantische Richtung. Jene wurde vorzüglich angeregt durch Bischof v. Ketteler seit 1848 und gepflegt durch die 1876 gegründete Görres-Gesellschaft (s.d.). Diese gelangte, nachdem ihr Männer wie Wichern, V. A. Huber u. a. vorgearbeitet hatten, zu allgemeinerer Bedeutung in der christlich-sozialen Arbeiterpartei, die 1878 durch Hofprediger Stöcker (s.d.) in Berlin gegründet wurde, und die mit Hilfe der Kirche die Sozialdemokratie überwinden sollte. Ursprünglich in geistigem Zusammenhang mit dem orthodox-konservativen Verein für Sozialreform, der ebenfalls die Sozialdemokratie zu bekämpfen sich zum Ziel setzte, jedoch bald dahingesiecht ist, blieb diese Partei auch nach Erlaß des Sozialistengesetzes noch weiter bestehen, indem ihr nun der Kampf gegen die liberalen Anschauungen auf kirchlichem, politischem und wirtschaftlichem[115] Gebiet als Aufgabe gesetzt wurde. Das Programm derselben enthält neben Betonung des christlichen Glaubens die Forderung nach obligatorischen Innungen, Einführung des Normalarbeitstags, Wiederherstellung der Wuchergesetze, obligatorische Hilfskassen für Witwen, Waisen, Invaliden, progressive Einkommen- und Erbschaftssteuern etc. Als jedoch der erwartete Zuzug aus Arbeiterkreisen ausblieb, verwandelte sich die Vereinigung in eine christlich-soziale Partei, die rasch in konservativer und antisemitischer Richtung sich ausbildete, aber infolge der ablehnenden Haltung Bismarcks und der Mißbilligung der Stöckerschen Agitation durch Kaiser Wilhelm II. alle praktische Bedeutung verlor. Innerhalb der Partei selbst stellten sich Gegensätze ein zwischen der Stöckerschen Richtung und einer jüngern, zum Sozialismus hinneigenden Richtung, die von den Pfarrern Naumann, Göhre u. a. vertreten wurde und zur Gründung einer eignen national-sozialen Partei durch die letztern führte (s. Evangelisch-sozialer Kongreß und National-soziale Partei). Auch in Österreich wurde Ende der 1880er Jahre von katholisch-konservativer Seite der Versuch gemacht, eine Organisation der Arbeiter auf christlich-sozialer Grundlage zustande zu bringen und mit deren Hilfe insbes. die Gewerbegesetzgebung zu beeinflussen; diese Bestrebungen, fortgesetzt von Lueger (s.d.) und Prinz A. Liechtenstein, führten zur Gründung der Partei der Christlich-Sozialen, die im österreichischen Abgeordnetenhause, namentlich aber im niederösterreichischen Landtag und im Wiener Gemeinderat von Bedeutung ist. Ch. R. auf katholischer Grundlage finden sich auch in Belgien, wo eine jüngere radikal-demokratische Richtung der ältern konservativen unter dem Abbé Daens gegenübersteht. In Frankreich haben Graf A. de Mun und Gayraud, in der Schweiz Kardinal Mermillod und Nationalrat Decurtins in ähnlichem Sinne gewirkt. Vgl. Laveleye, Le socialisme contemporain (9. Aufl., Par. 1894; deutsch von Eheberg, Tübing. 1884; von Jasper, Halle 1895); Kaufmann, Christian socialism (Lond. 1888); Grünberg, Christlicher Sozialismus (im »Wörterbuch der Volkswirtschaft«, Bd. 1, Jena 1898); Todt, Der radikale deutsche Sozialismus und die christliche Gesellschaft (2. Aufl., Wittenb. 1878); Stöcker, Christlich-sozial (2. Aufl., Berl. 1890); v. Nathusius, Die Mitarbeit der Kirche an der Lasung der sozialen Frage (2. Aufl., Leipz. 1897); Göhre, Die evangelisch-soziale Bewegung (das. 1896).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1906, S. 115-116.
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